Berlin ist eine Läuferstadt. Judith und ich waren zuletzt im Mai beim traditionsreichen 25-km-Lauf durch die Stadt mit Ziel im Olympiastadion. Dort fand auch die B2RUN-Firmenlaufserie 2016 am 22. September ihren bundesweiten Abschluss. Inzwischen existieren diese Firmenläufe in 17 Städten Deutschlands. München war der erste Veranstaltungsort und ich habe dort an allen Wettkämpfen teilgenommen. Die schnellsten drei Frauen und Männer jeder Stadt werden zum großen Finale in die Hauptstadt eingeladen.
Lars Gerling, Geschäftsführer von B2RUN, kommt aus Berlin und gab sich in einem Gespräch als großer Fan des Berliner Marathons zu erkennen. Auch Klaus meinte, dass der Marathon noch ein ganzes Stück beeindruckender sei.
Also entschließen wir uns doch einmal zu einem Start beim Berlin-Marathon, obwohl das Anmeldungs-Procedere seit 1996, als Judith hier erstmals teilnahm, deutlich komplizierter geworden ist. New York mit seinem Losverfahren lässt grüßen, der großen Nachfrage sei „Dank“. In diesem Jahr kann man sich immerhin auch als Zweier- oder Dreiergruppe für den Startplatz „bewerben“. Damit ist sichergestellt, dass nicht nur einer von uns teilnehmen kann und der andere das Nachsehen hat.
Dass viele Starter aus dem Ausland kommen und parallel auch noch die Eisenbahn-Messe Innotrans stattfindet, merken wir bei der Hotelsuche. Letztendlich finden wir preisbewusste Vielreisende ein nettes Doppelzimmer im Happy Go Lucky Hostel, wenige S-Bahnstationen vom Start im Tiergarten entfernt. Und man fühlt sich wieder viel jünger, Steigenberger und Co. bleiben den Überseetouristen vorbehalten. Die Bezeichnung Hostel verspricht auch einen perfekten Internetzugang, mit dem die vielen Fotos in wenigen Minuten hochgeladen sind. Davon kann sich manch alteingesessenes Hotel noch eine Scheibe abschneiden.
Am Samstagmittag kommen wir mit dem Zug am Hauptbahnhof an. Die Marathonmesse Vital findet dieses Jahr in alten Wagenhallen am Betriebshof Gleisdreieck statt, gut mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Natürlich bin ich unheimlich gespannt darauf, was uns an diesem Wochenende erwartet: Einige ganz große Marathons habe ich schon mitgemacht: Paris, Singapur, Hong Kong, Rom. Wie wird sich Berlin gegen diese „Konkurrenz“ behaupten?
Die Marathonmesse ist groß, muss aber gegenüber dem Salon de Running in Paris noch etwas aufholen. Perfekt ist in Berlin die Organisation der Startnummernabholung. Wir sind ruckzuck durch, wobei die freundliche Dame am Schalter sich erkundigt, ob wir, da aus München kommend, womöglich beim Sponsor BMW arbeiten. Aber nicht jeder Münchner arbeitet dort. Der Veranstalter Sport Club Charlottenburg achtet genau darauf, dass keine Startnummern weitergegeben werden können. Wir bekommen als ergänzende Zutrittsberechtigung für den Startbereich ein festgeschweißtes Stoffarmband, das ich bis zum München Marathon in zwei Wochen tragen werde.
Aber keine Angst, es geht alles recht freundlich zu, da kommt kein Bespitzelungsgefühl auf. Auf der Messe decken wir uns noch mit Infos zu neuen und alten Laufzielen ein. Medizinische Bedenken? Es gibt einen Bereich mit laufärztlicher Beratung. Am Stand des Merchandising gehe ich vorbei. Meine Laufhemden waren bisher fast immer im Startpreis erhalten. Dafür enthält die Startertüte unter anderem ein großes Duschgel von Adidas und einen Beutel mit Trockenfleisch.
Ganz übersehen wir den heutigen Inline-Marathon, an dem mehrere Tausend Inliner teilnehmen, mit Bestzeiten unter einer Stunde für die 42,195 km.
Unser Abendessen in einer Pizzeria im Zentrum zeigt sofort, dass sich diese Stadt im Lauffieber befindet. 80 % der Dinierenden tragen das Marathonarmband. Viele sind wie wir auch als Paar dabei. Am Nebentisch sitzt – was für ein Zufall - Vereinskollege Patrick aus München, der mit seinen Eltern angereist ist, aber leider aufgrund einer Verletzung nicht starten kann.
Aufstehen um 6:00 Uhr ist angesagt, denn in dem guten und ausführlichem Infoheft (D/ENG) wird ausdrücklich darauf hingewiesen, 2-3 Stunden für Anreise und Vorbereitung einzuplanen. Frühstück am Hauptbahnhof und dann ist man sehr schnell im Sperrgebiet. Bändchen und Startnummer werden kontrolliert, die durchsichtigen Kleiderbeutel kurz gecheckt.
Vor dem Reichstagsgebäude und im umgebenden Tiergarten sind die Taschenabgaben eingerichtet. Viele Schilder und noch mehr Helfer dirigieren die Läufermassen in die richtige Zone. Keinerlei Wartezeit an den Taschenabgaben, unendlich viele Helferinnen und Helfer. Zahlreiche Toilettenhäuschen mit ewig langen Schlangen davor. 40.000 Teilnehmer sind eben eine ganze Menge. Aber wann sagt man den deutschen Mobiltoilettenvermietern endlich mal, dass es Papier auch auf Riesenrollen gibt?
Die Startnummern wurden anscheinend nach Familiennamen vergeben. Judith und ich liegen diametral auseinander. Zwischen uns bewegt sich die aufgeregte Masse nach allen Seiten. Zu den Startblöcken muss man dann eventuell wieder in die entgegengesetzte Richtung. Wir treffen uns wie abgesprochen am Eingang zum Startbereich G (3:45 bis 4:15). Hinter uns kommt dann H, wo auch die Marathonnovizen untergebracht sind. Etwas frustrierend, aber die Blöcke A-F scheinen nicht ganz so groß zu sein. Gestartet wird in drei Wellen: A-F, G und H. Auf der Straße des 17. Juni scharren also rund 40.000 Marathonis mit den Hufen. Apropos: Hier gibt es auch noch viele Toilettenhäuschen.
Fantastisch: Alle hundert Meter überträgt eine Videoleinwand das Geschehen vom Startbereich. So sehen wir, wie nach dem Startschuss durch den Regierenden Bürgermeister Michael Müller und Marathon-Legende Uta Pippig erst die Handbiker auf die Strecke gehen und dann die afrikanische Elite mit Kenenisa Bekele und Wilson Kipsang das Projekt Weltrekord in Angriff nimmt. Als nächstes sind die vielen glücklichen Hobbyläufer an der Reihe. So vergeht unsere Wartezeit wie im Fluge. Wirklich super gemacht.
Über die breite Straße des 17.Juni geht es Richtung Westen. Vor uns die Siegessäule, errichtet von 1864 bis 1873 als Nationaldenkmal der Einigungskriege nach einem Entwurf des - mit Judith nicht verwandten – Baumeisters Heinrich Strack. Eingeweiht wurde die Säule mit der charakteristischen, vergoldeten Bronzeskulptur der Göttin Viktoria zum dritten Jahrestag der siegreichen Schlacht bei Sedan. Was werden die französischen Läufer davon halten? Nach dem Zweiten Weltkrieg verlangte Frankreich die Sprengung der Säule, doch die anderen Alliierten stimmten diesem Plan nicht zu.
Definitiv ist der erste Kilometer der einzige in einem Park. Ganz anders als in Paris, wo man es mit gefühlten 21 Parkkilometern zu tun hat. Danach die Technische Universität. Der Ernst-Reuter-Platz ist nach dem gewählten Oberbürgermeister aus der Zeit der Spaltung Berlins Ende der 1940er Jahre benannt. Wir laufen auf vierspuriger Straße. Klappt wunderbar. Die Geschwindigkeit stimmt, man kann sich schön langsam vorarbeiten. Gerade sage ich zu Judith, dass hier wenig Musik an der Strecke ist, schon taucht eine Band auf. Und es wird nicht die letzte sein. Gefühlte hunderte Musikgruppen werden wir hören. Teilweise alle 200 Meter. Und die haben sämtliche Stilrichtungen auf Lager: Schlager aus Berlin, Jazz, Marschmusik, Rock, Country& Western. Big-Bands stehen ebenso am Wegesrand wie Trommelgruppen. Sogar Alphornbläser sind darunter. Und dazwischen einige Diskjockeys und private Lautsprecher mit der bewähren Gute-Laune-Laufmusik.
Ich beobachte die Mitglieder des Berlin-Marathon-Jubilee-Clubs. Ab zehn Teilnahmen gehört man dazu, bekommt eine feste Nummer, ein Info-Schild für den Rücken und Zugang zu einem exklusiven Cateringbereich auf der Marathonmesse. Und das Wichtigste: Man hat seinen Startplatz sicher, wenn man denn die 108 Euro für 42 km springen lassen will. Mit großem Interesse habe ich die Liste der Clubmitglieder auf der Berliner Marathonseite gelesen. Mehr als 40 haben schon über 30 Mal teilgenommen. Heute werden weitere 190 Mitglieder hinzukommen.
Was haben die alles erlebt? Jahrelang einen Marathon im eingeschlossenen Westberlin, anfangs nur im Grunewald. 1990 ging es das erste Mal in den ehemaligen Ostteil. Die Teilnehmerzahlen steigerten sich nach und nach auf um die 40.000. Teilweise waren drei Minuten nach Anmeldebeginn alle Startnummern bereits vergeben. Gut, dass der SCC für die besonders treuen Teilnehmer/innen hier nachgebessert hat. Nur wer noch nicht zehnmal dabei war, muss bei der Verlosung bangen.
Ich beobachte also die überholten Läufer: Einer hat schon 35 Berlin-Marathons in den Beinen. Ich wünsche viel Erfolg und Gesundheit für die jetzige und die nächsten 14 Teilnahmen. Er ist Berliner und nimmt es mir nicht übel. Ich liebe die Berliner: Ist der Münchner einfach nur grantig, fällt dem Berliner immer eine schlagfertige Antwort ein: „Fährt der Bus bald ab?“- „Ich denke schon, denn als Busfahrer verdiene ich mein Geld damit“. Oder „Ich nehme vielleicht ein Cola“ - „ Was heißt vielleicht? Soll ich noch mal wiederkommen, dann haben Sie Zeit, es sich zu überlegen“.