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Laufberichte

Traumhaft

03.03.12
Autor: Joe Kelbel

Immer wenn ich in Marburg bin,  schaue ich von der Lahntalebene hinauf aufs Schloß. Dort oben sehe ich  dann Konrad von Marburg, den fiesen Großinquisitor des Reiches, der vom Papst Gregor IX sämtliche Macht erhielt, „ketzerische“ Elemente zu entfernen und dies reichlich nutze.

Er steht dort oberhalb der Lahn und brüllt mit sagenhafter  Eloquenz die Massen zum Kreuzzug zusammen. Der Ehemann unserer Nationalheiligen, der Elisabeth von Thürigen wird von diesem Kriegszug nie zurückkehren. Seine Witwe prügelt und geisselt dieser Konrad  in den Tod. Mit 24 Jahren stirbt Elisabeth in Marburg. Das ist 800 Jahre her.

Und heute tagträume ich: Was wird sein, wenn man meine Laufberichte  in 800 Jahren irgendwo auf einer versteinerten Festplatte findet? Was werden die Historiker aus meinen Schriften interpretieren? Bin ich dann derjenige Laufprediger, der völlig bekloppte Menschen zu einem 50 km Kreuzzug rief? 

Wenn noch nicht mal Freunde, Bekannten und Verwandten  kapieren, warum ich hier und heute schon wieder  einen Ultra laufe, wie sollen es dann die beinschwachen Gelehrten in 850 Jahren verstehen? Ich finde das jetzt nicht zum Lachen!

Denkt doch mal nach! Was denken sich die stummelbeinigen Leser in 900 Jahren über eine Volksbewegung, die weder der Ernährung, noch der Fortpflanzug diente? Ist marathon4you das Portal, an das laufende
Reporter 95 Thesen nageln? Wird meine Medaillenwand einem exzentrischen Fruchtbarkeitsritus zugeordnet? Oder werde ich gar dafür verantwortlich gemacht, dass Läufer keinen Nachwuchs mehr zeugen, weil sie  permanent mit meinen Laufberichten konfrontiert werden?

Als jemand, der  weltweit die meisten Laufberichte schreibt, werde ich  in 950 Jahren sicherlich berühmt sein.  Die bein- und armlosen Schlauen werden dann in 1000 Jahren sagen, ich hätte mich ausschließlich an den Verpflegungsstationen der Läufe  ernährt, da ich ja keine Zeit hatte, Gemüse anzubauen. Ich hätte in Armut und Askese gelebt und mit Tieren gesprochen. Wenn die menschlichen Wasserköpfe in 1050 Jahren in ihren fliegenden Kopfstützen sitzend über meine Schriften beraten, dann wird wahrscheinlich die Lehre begündet, dass ich  ein Guru der Menschen gewesen sei, die die letzten tragfähigen Beinen hatten. Oder was? Dieser Bericht dient als Beweis, daß ich in die Zukunft sehen kann.

 

„Lahntallauf“ statt „Rund um die Steinmühle“

 

So richtig wach werde ich heute nicht. Da bin ich froh, daß ab der Ausfahrt „Marburg Süd“ die neue Anlaufstelle, das Georg-Gassmann-Stadion, idiotensicher ausgeschildert ist. „Dort werden Anmeldung, Umkleiden, Duschen, Toiletten, Bewirtung und Siegerehrung stattfinden.“  So steht es in der Ausschreibung, und ich finde es gut, dass Toiletten auch mal stattfinden, sogar vor der Siegerehrung.

Der erste Eindruck der neuen Infrastruktur: Super! Jede Menge Parkplätze. Für  Camper: EDEKA direkt am Parkplatz. Bin viel zu früh da, verstecke meine Karre zwischen den Campern und mache erstmal ein Nickerchen.

Eine Stunde später der zweite Eindruck: Erst recht super! Sanitäranlagen mit Warmwasser vom Feinsten. Der beste Kaffee, den ich je vor einem Lauf hatte. Anmeldung, Frühstück, Umkleiden, alles verträgt noch einige 1000 Läufer mehr. Alles perfekt, gefällt mir sehr gut.

Die Voranmeldungen waren dürftig, nach der Deutschen Meisterschaft letztes Jahr hat kaum noch jemand diesen Termin im Hinterkopf, aber kurz nach 9 Uhr wird es brechend voll. Nachmelder in Massen, das ist unglaublich. Jetzt verstehe ich auch, warum das Büro für die Nachmeldungen personell so stark besetzt ist.

Vom Bahnhof (Süd) ist es zu Fuß nicht weit bis zum Georg-Gassmann-Stadion. Für O-Bus-Schein-Inhaber ist es  interessant, denn hier an der Radestraße treffen  sich die Buslinien 1 und 2. Ich bin Inhaber des Großen O-Bus-Scheines. Das wurde man in der Zeit, als es nur zwei Buslinien in Marburg gab. Den Kleinen O-Bus-Schein erhielt man an der kleinen Buslinie, da es an dieser Linie nur 20 Kneipen gab, an der großen Linie gab es mehr als 30 Kneipen.

Die 500 autofreien Meter zum Südbahnhof bis zum Start an der Lahn gehen wir gemeinsam. Kurzer Kontrollblick zur Kirchturmspitze der Lutherischen Pfarrkirche unterhalb des Schlosses. Glücklicherweise alles wie immer, die Spitze ist und bleibt schief, sie wird erst gerade sein, wenn die erste Marburger Studentin ihren Abschluß als Jungfrau ablegt.

Unten an der Lahn, wo sonst die Verpflegungsstation war, ist jetzt der Start/Zielbereich. Hier kann man seine Kleidung regensicher deponieren. Hinter der Startlinie ist eine Verpflegungsstation mit Bereich für die Eigenverpflegung. Generatoren liefern Saft für  Musik, Antje macht die Moderation.

Immer mehr Läufer treffen ein, erst jetzt registriere ich, was noch neu ist: 10 Km-Läufer und Halbmarathonläufer gesellen sich zu den Marathon- und 50km-Ultraläufern. Also zügig nach hinten in die ruhigeren Startbereiche. Bin noch stark verpennt, ist auch erst 10 Uhr. Dann geht´s auch schon los, lahnabwärts.

Die Strecke ist größtenteils gleich geblieben, man läuft nun im Uhrzeigersinn und sieht die Landschaft  ganz neu. Kein Problem zwischen den schnellen Kurzstrecklern, aber ich kann mich heute nicht entscheiden ob ich fit bin, oder nicht.

Fünf Runden sind für die 50 km zu laufen, für den Marathon bzw Halbmarathon gibt es nach der letzten Runde noch einige Zusatzmeter, Einweiser helfen dabei. Bei Kilometer 2,5, 5, 7 und 10 gibt es Verpflegung: warmer Tee/Wasser, kalte Cola, Bananen, Kekse, Powergel.

Nach der ersten Runde, als wir von der Fußgängerbrückenkonstruktion „Am Krekel“ zum Start/Zielbereich laufen, kommt die Erinnerung an  letztes Jahr hoch: Hier an der Brücke fetzte Peter Seifert an mir vorbei, sodaß mir vor Bewunderung die Cola überschwappte. Mit 2:52:26 wurde er  Deutscher Meister. Wenige Tage später fuhr  ihn ein Auto beim Training an. Er befindet sich immer noch in der Rehabilationsklinik. Gute Besserung Peter!

Die 10 km Läufer gehen zum Frühschoppen und ich in meine zweite Runde. Eine Entscheidung, ob ich heute fit bin, vertage ich, Hauptsache mal ein unaufgeregter Lauf.

So waren dann auch meine restlichen Runden, sehr erholsam. Einmal werde ich wach, weil ich über einen Kanaldeckel stolpere. Einmal, weil ein Traktor mit stinkender Ladung den ortsüblichen Duft auffrischen will. Und einmal weil ein Transeuropaläufer, der letzte Woche einen Trainingslauf im Süden absolvierte, mich versägen will. Na! Dem habe ich´s aber gegeben! Nach etwa 4 Metern gibt er resigniert auf und zieht an mir vorbei.

Gisselberg mal von der anderen Laufrichtung. Sieht ganz gut aus.
„Nimm ein Stück Banane, wir möchten nicht unseren guten Ruf verlieren!“ Wie immer ist der Verpflegungsposten in Gisselberg der Stimmungshit und die Auffassungsgabe der Jungs und Mädels blitzschnell. „Da kommt der Joe! Das ist der Joe!“  „Bier und Frikadellen für den Joe!“

Das reisst mich aus meinem Dämmerungszustand. Wenig später bin ich im Ziel. Dort registriere ich dann auch, dass ich schlafwandlerisch und schnell gelaufen bin.

Werden die körperlosen Gelehrten in 2000 Jahren glauben, daß man 50 km sicher und schnell im Schlaf absolvieren kann? In Marburg geht das.

 

 

 

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