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Laufberichte

Nichts ist unmöglich

26.02.12

Nichts ist unmöglich: Entenschnabel und ein Name wie ein Affe

 

Wir rasen auf einer Trasse mit 300 Stundenkilometern in das 540 Kilometer entfernte Kyoto. Entenschnabel und ein Name wie ein Affe das ist der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen. Das Geschoß verblüffte bereits zu den Olympischen Spielen 1964 die Welt und ist seither ohne einen einzigen Unfall im Einsatz. Der Zug beschleunigt fast wie ein Flugzeug beim Start und drückt uns leicht in die bequemen Sitze.

Wir rasen an den Bürotürmen des Zentrums und den meist zweistöckigen Häusern der Vorstädte vorbei, jagen über Straßen und Flüsse. Der „fliegende“ Zug legt sich wie ein Motorrad in die Kurve. In meiner Fantasie von der hochtechnisierten Zukunft in die verklärte Vergangenheit. Vielleicht so wie ein Time-Tunnel mit einem Zeitsprung aus dem 21. Jahrhundert in das Kyoto von 794 welches über tausend Jahre die Hauptstadt von Japan und der Wohnort der Kaiser war. In meiner Vorstellung sehe ich Geishas, Tempel, Mönche. So muss das Japan sein, das wirklich wahrhaftige Japan.

Die Landschaft fliegt an uns vorbei. Links der Pazifische Ozean und rechts das Gebirge der Japanischen Alpen. Man bringt uns Kaffee. In dem Wagen Nr. 14 sind wir fast alleine. Ein Herr, natürlich im Nadelstreifenanzug, bearbeitet auf seinem Laptop Statistiken. Für ihn ist es eine Fahrt wie jeden Tag. Für uns eine Reise in eine vermeintlich andere Welt. Weiter hinten hüstelt einer in den Mundschutz. Wir haben uns bequem zurückgelegt, wollen ein wenig Schlaf nachholen, aber ich könnte ja was verpassen und so wäre es dann fast gekommen.

Plötzlich und völlig unerwartet zeigt sich uns, nur für einen kleinen Moment Japans Wahrzeichen, der malerische Berg Fuji, auf Japanisch Fuji-san (nicht Fujiyama!) in der Sonne. Noch bevor Kay den Schutzdeckel von der Kamera genommen hat, ist er schon wieder hinter der Wolkendecke verschwunden. Diesen Anblick werde ich wohl mein Leben lang nicht mehr vergessen. In einem Gedicht aus dem siebten Jahrhundert heißt es: „Der Schnee löscht seine brennenden Flammen, das Feuer frisst den fallenden Schnee". Noch ist der 3.776 Meter hohe und atemberaubend schöne Berg völlig mit Schnee bedeckt und erinnert mich an unseren letzten Skiurlaub in den Alpen.

Es hätte so schön sein können. Wären da nicht die Menschenmengen vor den 6er und 8er Schlepp- und Sesselliften, wo jeder als erster noch oben kommen möchte. Undiszipliniert wird gedrückt und geschoben, gerempelt und auf Skiern anderer getreten wird. Unvorstellbar in Japan. Tausende Skifahrer werden im Minutentakt nach oben befördert. Oben angekommen, rasen sie auf überfüllten Pisten wohlbehütet mit Helm und Rückenpanzer wie moderne Ritter unkontrolliert die Hänge hinunter. Jeder ist sich selbst der Nächste. „Hoppla, jetzt komm ich – Mentalität“. Unvorstellbar in Japan. Lautsprecherbatterien an den Schneebars dröhnen. Après-Ski-Tamtam und Schickimicki-Protz. Ein Handy klingelt, ungeniert wird laut debattiert, warum man gerade jetzt den Stromanbieter wechseln sollte. Unvorstellbar in Japan. Niemals würde ein Japaner mit seinem Handy lautstark telefonieren. Wenn ein Japaner telefoniert, dann ganz leise und oft mit vorgehaltener Hand.

Hier sind alle diszipliniert und entspannt, und die Zurückhaltung der Menschen ist ein Segen. Warum also nicht das nächste Mal nach Nagano, wo 1998 die Winterolympiade stattfand, zum Skilauf?

Viel zu schnell ist die Fahrt vorbei und unser Zielbahnhof in der alten Kaiserstadt Kyoto ist erreicht. Die Sonne scheint, es weht ein eisiger Wind. Auf die Erwartung der geballten Menge Kultur, Geschichte und Natur folgt triste Realität. Ein moderner Bahnhof, ein Fernsehturm, Nachkriegsbauten aus den 70ern, eine überfüllte Touristenzentrale, Buslinien und keine Ahnung, mit welchem wir fahren müssen. Kein Tempel in Sicht, keine Natur.

Wo sind die Götter? Endlich im Bus. So schwer war es dann doch nicht. Die Busse 100, 101 und 102 fahren alle Sehenswürdigkeiten Kyotos an. So bekommen wir einen ersten Eindruck von der Stadt. Der Bus fährt die Hauptstraße der siebtgrößten Stadt Japans entlang. Wie an einer Perlenschnur reihen sich die Tempel aneinander, kein Wunder, denn in Kyoto gibt es 1.600 buddhistische Tempel und 270 shintoistische Schreine. Alleine 17 davon sind UNESCO-Weltkulturerbe. Hundert mag er noch nicht sein, oder vielleicht doch? Ich sehe diesen Mann, er ist in Gedanken versunken. Hier also leben sie, die älteren Japaner, die Hundertjährigen!

An der Bushaltestelle zum Kiyomizu-dera Tempel steigen wir aus. Im Reiseführer steht: er sei einer der meist geschätzten Tempel Japans. Der um 1633 erbaute Andachtsort gehört zum Weltkulturerbe und ist eigentlich ein Platz der Stille und Magie. Der Laubbläser eines Gärtners brüllt über die Anlage. Es wimmelt von Schulklassen. Die Schüler tragen Uniform. Jede Schule hat ihre eigene. Einheitslook mit Emblem. Nur die verschiedenen umgehängten Markenschultaschen und die Markenschuhe lassen die/den einen von der/den anderen abheben. Die Jungs in schwarzen Anzügen mit goldenen Knöpfen. Die Mädchen mit einem Rock. Der Rock ist kurz, sehr kurz und wahrscheinlich wurde bei der Rockkürze noch eigenhändig nachgeholfen.

Ein paar Schritte weiter von der Tempelanlage  beobachte ich einen Mann beim Tai Chi. Plötzlich hektische Unruhe. Ich zähle acht Männer in dunkelblauen Anzügen. Jeder fuchtelt wichtig herum. Jeder will helfen. Ein Mann weist dem Krankenwagen den Weg zum Verletzten, sieben stehen dabei und schauen, ob er dies richtig macht. „Die Terrasse des Kiyomizu hinunter springen“ ist eine typische Redewendung in Japan. Wer weiß, vielleicht hat sich gerade jemand von der Terrasse in das über 13 Meter tiefer liegende Terrain stürzen wollen. Gewissermaßen handelt es dabei vielmehr um eine Legende: Derjenige, der sich hier in den Abgrund stürzte und überlebte, sollte ewiges Glück erhalten und konnte die Erfüllung all seiner Wünsche erwarten. 234 Sprünge sind dokumentiert von denen lediglich 15 % erfolglos blieben. Daher bedeutet diese Redewendung „sich zu einem Entschluss durchringen“. Wahrscheinlich handelt es sich hier und heute um eine Art Rettungsübung. Wir wollen weiter, zur ehemaligen Residenz des mächtigen Shoguns.

Die Burg Nijo-jo  - 1603 zum Zeichen seiner Macht vom ersten Tokugawa-Shogun aus Zedernholz erbaut. Am Eingang zum Wohnbereich wechseln wir unsere Schuhe gegen Schlappen und tauchen ein in die Geschichte.

Mit unseren Schlappen laufen wir über die singenden Nachtigallen. Ein Vorläufer der Alarmanlagen. Da ist ein Dielenboden, der beim Betreten der Wohnräume des Shoguns knarrt und quietscht und damit jeden Eindringling verrät. Keine Zeit für eine Pause. Unsere Mägen knurren fürchterlich. Ich fühle mich wie ein Mönch beim kargen Mahl. Mönche unterdrücken ihre Hungergefühle mithilfe eines erwärmten, unter die Kleidung geschobenen Steines.

Wir steuern den weltbekannten Zen-Garten Ryoan-ji an. Dieser Steingarten wurde um 1473 erbaut.

Hier könnte man sich stundenlang in den Anblick der Anlage versenken. Gartenkunst ist für die Shogune des alten Japan immer auch ein Mittel der Politik gewesen: so zwangen sie ihre Provinzfürsten aufwendige Gärten anzulegen, so dass sie sich einen Krieg nicht mehr leisten konnten.

Da steht er, der Kinkaku-ji Tempel, wenn auch nur als originalgetreue Rekonstruktion. Klick, klick, klick. Minolta, Nikon, Panasonic, Canon, IXUS und natürlich das iphone. Es gibt kein besseres und bekannteres Fotomotiv.

Die Götter sind uns ebenfalls gnädig und lassen kurz die Sonnenstrahlen auf den goldenen Tempel fallen, welcher sich anmutig im See spiegelt. Viel mehr als Asche blieb nicht übrig, als 1950 das Original von einem Brandstifter zerstört wurde. Für Kyoto mit seinen Tempeln und Gärten braucht man Zeit. Für uns geht die Fahrt zurück nach Tokyo.

Aufregende Tage mit einem aufregenden Marathon liegen hinter uns. Nach einem letzten Frühstück im Hotel mit Haile Gebrselassie am Nachbartisch, verlassen wir das Hotel. Wieder ist der Bauch der A380 gut gefüllt. Ich schau aus dem Fenster, es fällt Schnee. Der Shogun verbot Wiliams,  Japan jemals wieder zu verlassen. Er wurde in den Samurai-Stand erhoben. Samurai Wiliams wollte jedoch nicht an einem Ort festsitzen und organisierte eine neue Expedition zur Entdeckung der Nordost-Passage, diesmal von Japan aus. Unsere Maschine steigt hoch über die Wolken in die Sonne. Unter uns die sibirische Wüste und der Polarkreis. Nicht mehr lange, und wir sind zurück in Frankfurt am Main. 

Resümee:

Bereits 1870 stellten sich europäische Reisefotografen der Aufgabe, den Osten Asiens in ihren Bildern und Texten einzufangen und die exotische Andersartigkeit und seinen Menschen zu dokumentieren. Über 2.500 Mal haben wir auf den Auslöser unserer Kameras gedrückt. 600 Bilder haben wir zu diesem Bericht ausgesucht.

Was wir nicht vorhergesehen hatten ist eingetreten: Tokyo ist noch aufregender als erwartet und für Leute geeignet, die neben dem Marathonlaufen mehr erleben wollen. Denn darum fährt man doch in die Ferne. Für Momente, an denen einem alles bizarr vertraut, aber doch andersartig ist, die gleiche Musik wie zu Hause läuft, aber anders gesprochen wird, die Kulturfabriken aussehen wie zu Hause, ihre Kunst aber über andere Zeichen wirkt. Solche Gelegenheiten sind unbezahlbar!

Aufgeschnappt:

Wer jetzt noch nicht genug hat, der kann seinen Japan Aufenthalt noch um den Otsu-Marathon am Biwa-See verlängern. Dieses Rennen wird seit 1946 veranstaltet und ist das traditionsreichste Japans mit einem starken Läuferfeld und für ausländische Läufer kostenfrei. Wie gerne wären wir auch dabei gewesen, jedoch muss jeder Teilnehmer eine Qualifikationszeit von unter 2 Stunden 30 Minuten vorweisen, gelaufen nach dem 1. März 2008! Wohlgemerkt, 2:30 für den Marathon, nicht für den Halben.

 
 


 
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