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Laufberichte

Nichts ist unmöglich

26.02.12

Nichts ist unmöglich: Nichts, was es nicht zu kaufen gibt

 

Wieder getrocknet, steuern wir unser nächstes Ziel, die vier kopfstehenden Pyramiden des Tokyo Big Sight Messegeländes an. Hier befindet sich die Startnummernausgabe. Wenn man erst einmal das Schnittmuster des öffentlichen Nahverkehrsnetzes in Tokyo verstanden hat, ist es kein Problem, die Kongresshalle zu erreichen.

Abgesperrt und bewacht von Helferinnen und Helfer kommen nur diejenigen an den Bereich der Startnummernausgabe, die auch eine Teilnahmebestätigung vorlegen können. Es läuft alles geordnet und ohne hektische Aktivität. Eine Helferin überreicht mir mit beiden Händen meine Startberechtigung. Eine kleine Verbeugung beiderseits und ein freundliches Lächeln. Schön! Zur Startnummer erhalte ich einen Läuferchip sowie einen überdimensionalen Kleiderbeutel.

Die nächste Halle zeigt die kurze Geschichte des Tokyo Marathon mit den Medaillen der späteren Sieger. Der Tokyo Marathon mit seiner Mega-City, führt zu Verschiebungen im Ranking der größten Städtemarathons der Welt. Innerhalb von ein paar Jahren wird er bereits in einem Atemzug der „Big Five Läufe“ genannt. Was im noch fehlt, ist eine gewachsene Historie, wie sie beispielsweise der Boston Marathon vorweisen kann.

Es herrscht ein geschäftiges Hin und Her der Konsumentenläufermassen. Fotos, Klamotten, Essen und Trinken. Ich aber suche einen Karpfen. Den würde ich mir an mein Startnummernband binden, denn der Karpfen gilt in Japan als Glücksbringer und Symbol für Ausdauer und Kraft. An der großen Auswahl von Merchandise Artikeln komme ich nicht vorbei. Erst am Ende der Hallen erhält man nun sein „Event-T-Shirt“, sozusagen als Finisher der Marathonmesse.

Kay ragt mit seinen über 1,85 cm wie der Tokyo-Tower aus der Menge hervor. Japaner sind durchschnittlich 8 cm kleiner als Deutsche, dafür wiegt ein Japaner im Durchschnitt aber auch 19 Kilogramm weniger. Keine Frage, hier wird mir das Shirt in der Größe S sicherlich passen. Sofort reiße ich die Verpackungshülle auf und bin enttäuscht. Selbst die die Größe S ist mir noch zu groß.

 

Nichts ist unmöglich: Eine Stadt kriegt nicht genug

 

Es ist verrückt, 335.000 Sportler wollten durch die Schleusen der Stadt drängen, jedoch nur 11 Prozent haben die begehrte Startnummer erhalten. Wer? Darüber entschied das Losglück!  Auf der sicheren Seite ist man mit einer Buchung über einen Reiseveranstalter. 110 EURO bezahlt ein Ausländer für eine Starterlaubnis.

Von 1981 bis 2006 hieß der Tokyo Marathon noch Tokyo International Men´s Marathon und wurde ausschließlich als Eliterennen der Männer ausgetragen. Heute ist er ein Qualifikationswettkampf für eine Olympiateilnahme der Männer. Die Bayerischen Motorenwerke unterstützen den Tokyo Marathon als offizieller Automobilpartner.

Noch mehr Zahlen gefällig? 85.920 Menschen besuchen die Sportmesse in drei Tagen. Über 2 Millionen Zuschauer stehen auf 42,195 Kilometer verteilt und feuern die Läufer an. 40 LKWs bringen das Gepäck vom Start zum Ziel. 10.450 freundliche Helfer unterstützen die 36.000 Teilnehmer auf der gesamten Strecke, im Start- und Zielbereich. 30 Läufer sorgen für das richtige Tempo und für die Unterhaltung 6.000 Tänzer und Musiker. Über 5.000 Sicherheitskräfte passen auf, dass nichts passiert. 2.878 ausländische Läufer können noch zusätzlich an dem Friendship Run teilnehmen. 390 Personen mit medizinischem Hintergrund helfen fachgerecht. 987 Toiletten sind nötig und die 66 Defibrillatoren hoffentlich nicht.

 

Nichts ist unmöglich: „The Day We Unite“

 

So lautet das Thema des Marathons. In der Nacht hat der Regen aufgehört. Die Morgendämmerung gleitet über die Häuserberge wie ein Tuch, das von einer Skulptur gezogen wird. Ein trister Himmel liegt über der Stadt. Kaum ein Sonnenstrahl dringt durch die Wolken. Tokyo bietet alles - nur keinen Platz. Gebäude, Autos und Menschen drängen sich auf engstem Raum. Beinahe hat man das Gefühl, die Menge der Läufer und Helfer dehne sich ins Unendliche.

 

Nichts ist unmöglich: Madame Butterfly trägt eine Startnummer und Jesus lebt 

 

Wir erleben Japan als kultiviert auf höchstem Niveau: Der Schaffner, der den Waggon verlässt, sowie der Straßenbauarbeiter, der ein Auto oder Fußgänger an der Baustelle vorbeiwinkt, verbeugen sich als Zeichen des gegenseitigen Respekts. Und auch der Kranke trägt einen Mundschutz nicht um sich, sondern um Andere vor Ansteckung zu schützen. Ein Helfer nimmt mir meinen  XXL-Kleiderbeutel ab und verstaut ihn in einem der LKW’s, die in der Nähe der Startaufstellung bereit stehen. Auf meinem Weg zum Startblock treffe ich auf eine außergewöhnliche Erscheinung der japanischen Tradition. Mit ihrem weiß geschminkten Gesicht und ihrem farbenprächtigen Gewand, wirkt die Frau wie aus einer anderen Welt und beflügelt meine Fantasie.

Seit Mitte des 18. Jahrhunderts arbeiteten Geishas in den Teehäusern und ihre Aufgabe war es, männlichen Gäste mit kurzweiligen Gesprächen, Liedern oder kleinen Kunststücken zu unterhalten und heute? Heute laufen sie Marathon! In dem mir zugewiesenen Startblock stehen bereits tausende von Läufern zwischen verglasten Wohn- und Bürokomplexen, die wie Stifte in den Himmel ragen. Über der Szene liegt eine Stille. Ich staune über das Mysterium der Lautlosigkeit. Wie nur können so viele Menschen so wenig Krach machen?

Vier Hubschrauber am Himmel, es läuft leise klassische Musik. Unglaublich, aber ich höre einen Vogel zwitschern. In dieser fast schon andächtigen Stille steht alles zusammen, bis leise der Startschuss und Konfettiregen fällt. Die Prozession trippelnder Läufer jeden Alters setzt sich in Bewegung. Nur im Schneckentempo geht es auf den ersten Metern voran und die strömenden Menschenmassen summen wie ein Bienenstock durch das Viertel mit den größten Wolkenkratzer des Landes. Ich bin nervös. Wie fühlt es sich an, in einem Strom Laufbegeisterter durch die Straße geschoben zu werden?

Die Hochhäuser stehen Spalier, teils so eng aneinandergedrängt, dass es so aussieht, als habe ein Origami-Künstler das Gebäude in die schmale Lücke hineingefaltet. Klar, dass die GPS-Uhr keine Satelliten lokalisieren kann. Die eben noch ruhigen Läufer werden von jubelnden japanischen Familien am Straßenrand angefeuert. Nicht nur zur Kirschblüte befindet sich Tokyo im Rausch. Berührungsängste kommen keine auf, denn jeder Läufer wahrt die Distanz zum Mitläufer. Keiner rammt oder zwängt sich noch an mir vorbei und keiner tritt mir auf die Fersen. Unwillkürlich kommt mir der Vergleich eines Fastnachtsumzugs in den Sinn, bei dem nur die Motivwagen fehlen. Plüsch- und Kitschalarm und schrille Läuferoutfits: von brillant bis bizarr, manche mutig und andere anmutig, alltäglich bis himmlisch. Micky mit Minnie Mouse, Super- und Batman, Braut und Bräutigam. Dazwischen läuft Jesus!

 
 

 
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