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Laufberichte

Nichts ist unmöglich

26.02.12

Da vorne sehe ich ein Lokal mit Ramen und Udon, den typischen japanischen Nudelsuppen; die preisgünstigste Möglichkeit, den Hunger zu stillen. Aber auch Chanko-nabe, ein herzhafter Gemüse-Eintopf und die Leibspeise der Sumo-Ringer werden angeboten. Wir können uns nicht entscheiden. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Eine Stunde später finden wir Platz in einem Lokal. Zum Bestellen des Essens deuten wir auf ein Bild. Eine große Schüssel wird mit Suppe und Nudeln, eine Art Makkaroni gefüllt, ein rohes Ei hineingeschlagen. Mit der Schüssel und den Stäbchen in der Hand setzen wir uns zu Einheimischen an einen runden Tisch. Sie beachten uns nicht und schlürfen lautstark ihre Suppe. Man bringt uns Wasser und duftenden, dampfenden grünen Tee, welche zu jedem Essen kostenfrei gereicht werden. Jetzt bloß nicht selbst nachschenken. Kay schenkt mir noch etwas nach und ich dann ihm. Denn das ist hier Sitte. Man schenkt sich nicht selbst nach.

Der Duft der Speisen im Lokal zieht in meine Nase und sie fängt an zu kribbeln und zu jucken. Kay hält mir ein Taschentuch hin. Hastig stecke ich die Essstäbchen in meine Schale Reis und eile auf die Toilette. Denn auch das Naseputzen bei Tisch gilt, wie bei uns auch, als sehr unhöflich. Dennoch habe ich uns unbewusst in eine sehr peinliche Situation gebracht. Die Stäbchen in den Reis zu stecken, wird nur bei der Andacht für die Toten gemacht!

Diese fremdartige Welt der für uns geheimnisvollen Schriftzeichen, ausgeprägter Höflichkeitsrituale, hochtechnisierten Alltags verbunden mit buddhistischer Gelassenheit im Zen-Garten. All das zieht uns sofort in seinen Bann. Zuhause noch die entsetzte Fragen unser Familien und Freunde:  „Wo wollt ihr hin? Nach Japan? Ist Tokyo sicher?“; „Ist das nicht zu gefährlich?“; „Die Erdbeben?“; „Die Strahlung?“; „Was ist mit dem Essen und dem Trinkwasser?“. Die Fragen sind berechtigt und beschäftigen auch uns, denn schließlich jährt sich die Katastrophe dieser Tage. Die „Japan Times“ veröffentlicht seither täglich eine Strahlungskarte.

Ein halbes Jahr nach dem Tsunami und der Reaktorkatastrophe wurde für die Präfektur Fukushima eine Strahlung von 2,56 Mikrosievert pro Stunde gemessen. In Tokyo allerdings nur noch eine Strahlung von 0,058 Mikrosievert. In Berlin, der Partnerstadt Tokyos, wurde zum gleichen Zeitpunkt eine Strahlung von 0,070–0,079 Mikrosievert gemessen. Ein Grund, nicht mehr nach Berlin zu reisen? Und: Nirgendwo auf der Welt werden die Menschen so alt wie in Japan. Das kann kein Zufall sein. Vielleicht können wir dem Geheimnis der Langlebigkeit in der Heimat der Hundertjährigen auf die Spur kommen?

 

Nichts ist unmöglich: 1. Friendship Run

 

Wer Erleuchtung will, muss früh aufstehen. Wir haben ernsthaft versucht zu schlafen, aber es klappte nicht, nach 35 Stunden wach sein, haben wir gerade einmal 6 Stunden Schlaf bekommen.

Draußen empfängt uns folgender Geräuschmix: „Hehai je juha ja eh he hai komesamai….“ - eine Rolltreppe spricht mit uns. Im Jahr 1641 befindet sich eine unsichtbare Mauer um Japan. Über 1.000 Jahre hindurch war das Land immer wieder um Frieden bemüht, jedoch durch die Außenwelt und den internen Konflikten ständigen Kriegen ausgesetzt. Das Land war entkräftet und die Kaiserstadt verödet. Nach Samurai Wiliams Tod wurde der Kontakt mit Überseevölkern auf das Nötigste reduziert. Die Ratschläge von Wiliams an den Shōgun bewogen diesen, den Europäern in einem solchen Ausmaß zu misstrauen, dass er und seine Nachfolger Japan in der Edo-Periode isolierten.

Es sollten mehr als 200 Jahre vergehen, bis Fremde einen ersten Schritt auf dieses Land setzten. "Gaijin", ein Mensch von draußen, und etwas höflicher als "Gaikokujin", Mensch aus einem anderen Land, werden Ausländer in Japan bezeichnet. Heute erregt selbst so ein hellblonder Pferdeschwanz wie meiner kein Aufsehen mehr, höchstens bei einer Schweizerin, die mich vor dem Start für den Friendship Run auf meine Frisur anspricht. Sie ist gemeinsam mit ihrem Mann angereist und die beiden starten auch auf der Marathondistanz.

An nur 7 Tagen im Durchschnitt soll es im Februar in Tokyo regnen. Heute ist wohl Tag 6. Es schüttet senkrecht und umso bemerkenswerter, dass etwa 1.000 „Überseeläufer“ im Startbereich des Meiji-Schreins ankern.

Viele freundliche Helfer nehme ich am Rande wahr. Wir frieren bis auf die Knochen, schlottern vor Kälte und Müdigkeit und entscheiden uns, die 2x1 Kilometer lange Strecke mit dem Regenschirm in der Hand zu durchlaufen. Gestartet wird in Blöcken, je nachdem, wie man sich gerade aufgestellt hat. Trotz des Wetters ist die Laune gut und die Läufer haben Spaß. Eine Weile noch grüßen zur Linken die hohen Baumwipfel aus einem Park herüber. Die Strecke führt am Olympiagelände von 1964 vorbei, weiter an einem der vielen Golfplätze Tokyos bevor die Wolkenkratzer von Shinjuku das Panorama bestimmten.

Manch teilnehmende Nation können wir anhand der Kleidung nicht übersehen. Da sind Franzosen, Holländer, Italiener und, und, und. Eine kleine Deutschlandflagge schmückt den Rand meiner Laufsocke. Ich kann kaum glauben, dass wir hier in einer Hafenstadt sind. Wo Autobahnen früher Wasserstraßen waren und wenn es so weiterregnet, auch heute wieder werden. Bevor wir uns versehen, sind wir auch schon im Zielkanal am Meiji-Schrein. Dieser wurde erst 1912 nach dem Tod des Kaisers Meiji errichtet und 1958 wieder aufgebaut, nachdem er im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstört worden war. Somit fehlt ihm das Flair der alten Schreine und Tempel, die in ganz Japan, aber auch in Tokyo zu finden sind. Hier erhalten wir auch das versprochene Breakfast.

Immer schön der Reihe nach. Zuerst bekommen wir eine Tüte in die Hand gedrückt. In diese können wir nun eine Flasche Wasser, eine Flasche ISO-Getränk, eine Banane, zwei Schokoladenbrötchen und einen Energieriegel packen. Jetzt noch einen Pappbecher in die andere Hand wahlweise mit Kaffee oder grünem Tee.

Am Regenschirm perlt der Regen ab wie von einem Lotusblatt und so bleibt uns nasse Kleidung erspart, jedoch nicht durchnässte Schuhe und kalte Füße. Dies ist auch der Grund, warum wir uns nicht länger am Shinto-Schrein, der dem Reformkaiser Meiji und seiner Gattin gewidmet ist aufhalten. Dabei pilgern an Neujahrstagen Millionen von Menschen zu diesem berühmten Bauwerk.

 
 

 
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