Nur Marathon- und Italienverrückte verbringen im November eine Woche am Meer in Rimini, um nach dem Event in Ravenna auch noch in Verona einen Marathon zu laufen. Judith und ich genießen den Aufenthalt trotz Wassertemperaturen von 16 Grad und Lufttemperaturen unter 15 Grad im Nebel. Wobei wir von einem Bad im Meer dann doch Abstand nehmen.
Am Samstag erreichen wir bei schönstem Sonnenschein Verona, die sogenannte Stadt der Liebe. Wer die Geschichte von Romeo und Julia kennt, macht sich unverzüglich auf, Julias Wohnhaus samt schicksalsträchtigem Balkon zu besichtigen. Natürlich handelt es sich nicht um das Originalhaus der Familie Capulet und wer weiß, ob Shakespeares unsterbliche Tragödie sich wirklich vor Jahrhunderten so zugetragen hat. Egal, die Vorstellung ist romantisch und mehr denn je ein Publikumsmagnet, was uns eine praktische Anschauung von „overtourism“ beschert. Die Gassen der Stadt sind verstopft, vor dem Haus herrscht ein Massenauflauf. Man hört viel Deutsch, aber natürlich sind auch die Einheimischen zum Einkaufen, Sehen und gesehen werden und zum Besuch des schönen Weihnachtsmarkts unterwegs. Die „Black Friday“- Sonderangebote tun ein Übriges. Mir ist das alles entschieden zu viel Trubel.
Die Startunterlagen haben wir zuvor in der ASGM-Sporthalle neben dem Stadion des Fußballclubs Hellas Verona abgeholt. Die per Mail versandte Anmeldebestätigung sollte man ausdrucken, da hier noch ein Haftungsverzicht unterschrieben werden muss. Für Papiersparer wie uns – die unterwegs auch gar keine Möglichkeit zum Ausdrucken gehabt hätten - haben die Damen am Stand schon ein Formular vorbereitet. Dafür gibt es dann schnell die Startnummer. Das schöne rot-schwarze Veranstaltungsshirt ist auch gleich dabei. Der Stoff ist ideal zum Laufen an heißen Tagen. Wobei die Farbkombi der Halbmarathonis mit ihrem Signalgelb in der dunklen Jahreszeit noch auffälliger ist.
Auf der Marathonmesse präsentieren sich etliche Laufveranstalter, darunter an prominenter Stelle Hamburg. Ich wünsche dem Standbetreuer, dass sich italienische Marathonläufer möglichst zahlreich in die Hansestadt aufmachen. Ich zumindest empfehle Hamburg immer, wenn ich im Ausland nach lohnenden deutschen Marathons gefragt werde, neben München natürlich...
Start ist um 8:30 Uhr bei der Arena. Von unserem Hotel am Bahnhof brauchen wir 20 Minuten zu Fuß. Wohl dem, der sich die letzte Info durchgelesen hat, und so wissen wir, wo die vielen Toilettenhäuschen aufgebaut sind. Diesmal an der Piazza Citadella, beim Aldi. Taschen werden im Gebäude Palazzo della Gran Guardia direkt am Startbereich abgegeben. Es ist mit 5 Grad noch sehr frisch und der Anblick der knapp bekleideten SchnellläuferInnen lässt uns schaudern. Aber wahrscheinlich haben sie die richtige Wahl für die prognostizierte Höchsttemperatur von 12 Grad getroffen.
Laut Anmeldung gehören Judith und ich in den letzten Startblock Griglia D. Am Eingang hat sich eine Menschentraube gebildet. Anscheinend gibt es Diskussionen darüber, ob schnellere Läufer auch in den Block der Langsamen hinein dürfen. Verkehrte Welt, gilt es doch sonst eher, die als langsam Eingestuften am Start aus den vorderen Blöcken zu hindern. Als ich versuche, die Menschenansammlung unauffällig zu umgehen, werde ich am Laufhemd festgehalten. Erst nach Kontrolle meiner Nummer darf ich in den letzten Block. Ordnung muss sein. Ja, auch das ist Italien.
Viele Teilnehmende sind hier versammelt, in der deutlichen Mehrzahl Halbmarathonis, die heute nur eine Runde absolvieren werden. Die Strecke besteht diesmal aus einem Abschnitt durch die Vorstadt, einem langen Stück an der Etsch entlang und dann als Highlight einem Schlussspurt durch die Altstadt.
Der Startbogen steht kurz vor den Portoni della Bra, einem Torbogen der römischen Mauer von 49 v. Chr. Und nach sehr zähen ersten Metern geht es auf der breiten Allee flott voran. Vor uns die Porta Nuova, vor der wir nach rechts abbiegen. Wir bleiben also innerhalb der Festungsmauern. Die großen Wehranlagen sind als Park immer noch erhalten. Am nächsten Tor, der Porta Palio, auf ein nettes Plätzchen, Stradone Porta Palio genannt. Die Endung -one steht im Italienischen immer für eine Vergrößerung. Bei Straßen kannte ich das gar nicht. Meist sagt man Corso. Die Vergrößerungsform -one kann auch etwas negativ sein. Ein „ragazzone“ beispielsweise ist ein Jugendlicher von eher schlichtem Gemüt.
Links abbiegen am Castelvecchio aus dem 14. Jahrhundert, einer Burg der Herrscherfamilie della Scala, auch Scaliger genannt. Ein Schmuckstück, über das allein viele Städte froh wären. Aber Verona hat ja noch so viel mehr zu bieten. Wir laufen hier an der Etsch, sehen sie aber wegen des hohen Damms vorerst nicht.
Das Viertel San Zeno wartet auf uns. Im Schatten vor der Rückseite der Kirche macht eine Band Stimmung. Die Basilika San Zeno ist ein romanischer Bau aus dem 11. und 12. Jahrhundert, attraktiv umrahmt von zwei Türmen und mit einer Fassade, die durch eindrucksvolle Farbgebung, einen harmonischen Baustil und schlichte Verzierungen besticht.
Kurz vor Kilometer vier stoßen wir wieder auf den Parco delle Mura, den Park bei den moderneren Festungsanlagen, errichtet 1833 bis 1866. An der Porta Palio die erste Verpflegungsstelle und dann hinaus aus der Innenstadt. Der Borgo Milano ist ein typisches citynahes Wohn- und Gewerbegebiet. Einige Zuschauer befinden sich hier. Wir queren den Corso Milano, eine wichtige Ausfallachse Richtung Norden, und kommen wieder zum Canale industriale Camuzioni. Der Kanal wird nun für fast vier Kilometer unser Begleiter sein.
Auf einem Rad-/Fußweg geht es voran. Beim Einbiegen auf den Weg ragt aus dem Boden noch ein Plastikteil, das den Radweg abtrennt. Pech für den, der ihn im Gedränge übersieht. Am nächsten Brückchen ruft ein Italiener: „Attenzione culetto“. Ich wiederhole den Ausruf und ernte großes Gelächter. „Culetto“ bedeutet nämlich Hinterteil. Man bedeutet mir, dass ich mich verhört habe und in Wirklichkeit vor einem „Paletto“, also einem Poller, gewarnt wurde.
Der Kanal wurde Ende des 18. Jahrhunderts angelegt und kürzt einige Schleifen der Etsch ab. Mit ihm sollte Strom erzeugt werden. Es folgen Einfamilienhäuschen am Radweg. In der Bar am Sportplatz bereitet man sich auf ein Fußballpiel vor. Bevor man das Wehr Diga di Clevo sieht, werden wir noch frenetisch von einem Zuschauer angefeuert. Das Wehr reguliert den Wasserstand für die Stromerzeugung im Kanal und wurde 1923 fertiggestellt.
Wir queren das fotogene Bauwerk und gelangen auf die andere Etschseite. Nach links flussaufwärts. Uns kommen viele Laufende entgegen. Ich sehe die 3:45-h-Pacer. Der Verpflegungspunkt bei Kilometer 10 wird auch von der Gegenseite benutzt, was nicht ganz den Regeln des italienischen Leichtathletikverbands FIDAL entsprechen kann, die VPs in 5-km-Abständen vorschreiben. Dafür ist die Musik für alle Richtungen da.
Die VPs sind bestückt mit Wasserflaschen, Tee, Bananen, Äpfeln, auf der zweiten Runde dann auch mit schmackhaften Iso-Getränken in 0,5-l Flaschen. Auch ein einzelnes Toilettenhäuschen steht immer dort.
Der Blick in der leichten Linkskurve ist recht malerisch. Da hinten beginnt das Valpolicella mit den bekannten Weinanbaugebieten. Der Fluss mit den Schwänen davor ist nett anzusehen. Wir kommen bis Parona und wenden bei 11,5 km, samt Zeitnahme. Die gibt es oft an Stellen, wo Abkürzen möglich wäre.
Zurück Richtung Zentrum, am großen Krankenhaus Ospedale Civile Maggiore vorbei. Die Erreichbarkeit für Krankenwagen wird durch eine abgesperrte Fahrspur sichergestellt. Verkehrstechnisch ist die Marathonstrecke perfekt abgesperrt. Kein Auto und auch kein Hupen ist auf den 42 km zu vernehmen.
Nach Kilometer 18 wird es dann wieder richtig schön: Eine mittelalterliche Brücke verbindet diese Uferseite mit dem Castelvecchio. Die Fußgängerbrücke ist oft mit Musikanten und kleinen Verkaufsständen belegt. Wir bleiben weiter auf unserer Flussseite und kommen an der 1928 errichteten Ponte della Vittoria mit ihren vier großen Brückenmonumenten vorbei. Vor uns der Blick auf Santo Stefano mit den Hügeln an der Etschschleife. Dort hinten liegt die Ponte Pietra. Die römische Brücke aus dem Jahre 100 v. Chr hielt bis zum 15.4.1945, als sie von der Wehrmacht beim Rückzug gesprengt wurde, wie auch alle anderen Brücken in Verona. Bis 1959 wurde die Brücke wieder aufgebaut. Sie enthält Elemente aus der Römerzeit, der Scaliger-Epoche und der venezianischen Zeit. Heute queren wir leider nicht dort, sondern schon eine Brücke vorher über die Ponte Giuseppe Garibaldi. Es folgen die Gassen der Altstadt, die seit 2000 Unesco-Welterbe-Status besitzt.
Einige der vielen Flanierenden schenken uns ein wenig Aufmunterung. An der nächsten Rechtskurve beginnen die Absperrgitter. Wir kommen ins Herz der Stadt und schwenken auf die bekannte Piazza delle Erbe. Hier erfahren wir viel Zuspruch. In römischer Zeit befand sich hier das Forum. Heute lädt der 84 m hohe Turm Torre dei Lamberti, dessen erste Konstruktion auf das Jahr 1172 zurückgeht, zu einer Besteigung ein. Vor uns in der Gasse das Haus der Julia, aber wir laufen links an zwei mittelalterlichen Palästen vorbei und kommen nach Passieren des Garibaldi-Denkmals schnell wieder an die Etsch, der wir nun für einen Kilometer folgen. Bei der Kirche San Fermo Maggiore biegen wir wieder in die Stadt und erreichen nach ein paar hundert Metern die mittelalterliche Mauer an der Piazza Brà. An der Arena vorbei kommt die Trennung von den Halbmarathonis, die hier fertig sind. Für uns beginnt die zweite Runde.
Schon bald lasse ich Judith hinter mir. Die Musikgruppe bei San Zeno steht immer noch im Schatten, und da ist es noch sehr frisch. Für mich beginnen nun einige interessante Zweikämpfe. Die Dame mit ihrer recht kurzen Laufhose macht mir ein Überholen schwer.
Lange Zeit halten wir das gleiche Tempo. Ein Läufer wird von uns überholt und ist damit gar nicht zufrieden. Als ich ein Foto mache, hält er sich beleidigt die Hand vors Gesicht. Zu unserem Grüppchen gesellt sich noch eine Läuferin mit deutscher Fahne auf der Startnummer. Überholen können wir einen Mann in einen „Metro Kasachstan“-Hemd, der, wie die Nachfrage ergibt, tatsächlich aus Kasachstan stammt.
Schnell sind wir am Wehr und kommen auf die Straße an der Etsch. Hier spiele ich meine strategische Überlegenheit aus und laufe eine perfekte Ideallinie auf der Innenseite der Kurve, während sich andere Teilnehmer stoisch an der meist ungünstigen Außenkurve abmühen. Anscheinend habe ich heute einen perfekten Tag erwischt und kann bei Kilometer 32 schon über ein gutes Ergebnis sinnieren.
Ich halte mein Tempo und gerate auf der Ideallinie manchmal fast in Tuchfühlung mit den zahlreicher gewordenen Spaziergängern. Links sehe ich einige schöne neue Villen. Sicher ein angenehmer Platz zum Leben. In der Etsch ein abgetrennter Bereich mit einer Kanustrecke. Ab Kilometer 38 dann wieder viel mehr Zuschauer, das macht schon Spaß. I can „Feel the energy“, wie es auf dem offiziellen Laufhemd heißt. Ich rechne nun mit einer Zeit von unter 4:30, was für mich Jahresbestzeit wäre. Dementsprechend tauche ich in einen gedanklichen Tunnel ein, nur auf eine konstante Geschwindigkeit fixiert, und erreiche so die Altstadt mit ihrem nicht besonders angenehmen Kopfsteinpflaster und Plattenbelag. Vor dem Beginn der Absperrgitter ist es für die vereinzelt Laufenden schon schwierig, im Pulk der Spaziergänger nicht unterzugehen. Besonders die Hunde, die meist in wärmenden Mäntelchen Gassi geführt werden, könnten gefährlich werden, aber das Stück ist zum Glück nur wenige hundert Meter lang.
Die Querung der Piazza delle Erbe genieße ich in vollen Zügen. So viel Raum auf dem inzwischen vollbesetzten Platz nur für mich. Die Helfer an der Fußgängerquerung sind super und stoppen eine große Masse an Passanten genau optimal für mein Durchkommen.
Ein Sprint auf den letzten 1,5 km ist noch drin. Irgendwie haben wir Glück, dass wir den 10-km-Läufern, die einen Teil der Strecke mitbenutzt haben, entkommen sind. Diese waren um 11 Uhr gestartet. Und so schwenke ich in der Linkskurve auf die Zielgerade ein. Ein wunderbarer Lauf geht zu Ende. Eine Woche nach dem kräftemäßigen Einbruch in Ravenna so ein super Ergebnis. Ein Marathon ist wirklich unberechenbar.
Kurz nach mir kommt auch Judith ins Ziel, ebenfalls in persönlicher Jahresbestzeit, gekrönt mit einem dritten AK-Platz samt Prämie in Form von Wein aus Veroneser Kellereien, Nudeln und Kaffee. Was will man mehr? Wir unterhalten uns noch mit Mariny von den Philippinen, mit der wir letztes Jahr beim Bologna-Marathon unterwegs waren. Der Manila Marathon wäre ja auch noch ein Ziel für uns.
Wir bleiben noch eine Nacht in Verona und können nach einer Dusche im Hotel den Gratiseintritt in die Arena nutzen. Vielleicht hätten wir das Besteigen der fast 2000 Jahre alten Sitzreihen aber besser lassen sollen, der Weg hinunter ist schon sehr anstrengend. Unser Sightseeing endet im Museum moderner Kunst, zu dem man über den rappelvollen Weihnachtsmarkt gelangt.
Fazit:
Der Verona Marathon hat sich im Laufkalender etabliert und zieht neben italienischen Sportlern auch Lauftouristen aus vielen anderen Ländern an. Der Startpreis ist sehr günstig und das Veranstaltungsshirt darin enthalten. Ebenso der Eintritt in viele Museen am Veranstaltungstag.
Alternativ werden der Halbmarathon und der 10-km-Lauf angeboten.
Die Organisation ist gut, für reibungslose Abläufe ist gesorgt. Es gibt keine gedruckten Informationen, aber recht viele Mails, die ständig aktualisiert werden.
Die Strecke variiert jedes Jahr ein wenig. Dieses Jahr bestand sie aus zwei Runden, mit tollem Innenstadtabschnitt, aber auch einer langen Strecke an der Etsch entlang. Leider wurde das Durchlaufen der Arena vor einigen Jahren abgeschafft. Aber Start und Ziel auf der Piazza Brà vor der Arena machen dieses Manko (fast) wieder wett.
Wer nicht mit dem Eurocity oder dem Flugzeug anreist, kann sich bei einem Umweg über eine fast autoleere „Traumstraße“ Gardesana Occidentale freuen.
Sieger Marthon
1 NJERI SIMON KAMAU KENIA 2:18:46
2 EPINEY LUCIEN SUI 2:27:53
3 KELLY DAN GBR 2:29:49
Siegerinnen Marathon
1 SILVERA SILVA ELIANA VALERIA URU 2:53:41
2 ZILIO ANNA ITA 2:56:10
3 VIORA ELISA ITA 3:04:42 (Realtime 3:04:08)
1.262 Finisher
Halbmarathon 2.265 Finisher
10 km 1.940 Finisher