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Laufberichte

48Stunden-Lauf Brugg: Überraschung im Schachen

23.10.21 Special Event
 

Wenn ich das Wort Schachen höre, kommen immer gleich Bilder auf, die ich lieber nicht hätte sammeln müssen, obwohl sie nicht ohne unfreiwillige Komik sind. Es war um das Jahr 1984 herum und ich steckte wieder einmal mit gestutzten Flügeln in Feldgrau. Aufregung machte sich bei den höheren Chargen der Kompanie breit, weil die bereits in den oberen Etagen der Führungsstruktur grassierte. Eine Fahnenübergabe im Schachen in Aarau war angekündigt und natürlich wollte sich jeder Kommandant mit seinen Leuten untadelig präsentieren, um für weitere Beförderungen in Frage zu kommen. Die sonstige zur Schau getragene Souveränität dieser Herren wich einer nervösen Ängstlichkeit, bevor dieses Zeremoniell stattfand. Noch heute frage ich mich, wie stark der Schmerz ist, wenn man sich so verbiegen muss, denn keine Parodie könnte die Peinlichkeit dieses Schauspiels besser abbilden als es das Original tat.

Heute gehe ich wieder in den Schachen, aber in einen anderen. Flussabwärts, über den Daumen gepeilt 25 Kilometer weiter, liegt der Geissenschachen. Hier findet der traditionelle 24-Stundenlauf Brugg statt. Der navigationstechnischen Vollständigkeit muss erwähnt werden, dass diese Aareinsel bereits auf dem Gemeindegebiet von Windisch liegt und das elektronische Helferlein im Auto dies bei der Zieleingabe berücksichtig haben will. Ebenso wird als Ziel in den diesen Datenbasen im Gegensatz zur der offiziellen Landeskarte Giessenschachen genannt. Mit Schachen allein schafft man es aber auch mit den Wegweisern.

Seit Freitag sind die ganz Harten unterwegs, seit gestern ist der 24-Stundenlauf im Gange, um Mitternacht wurde der Wettbewerb über zwölf Stunden gestartet. Sonntagmorgen, 5.00 Uhr, das ist, was viele Leute als das wahre Morgengrauen bezeichnen und denen auch das echte Morgengrauen mehr als zwei Stunden später an einem solchen Tag zu früh zum Aufstehen ist. Ich hatte eine ruhige Anreise und hole nun meine Startnummer für den letzten Start an dieser Veranstaltung, für die finalen sechs Stunden. Die verbleibende Stunde vergeht schnell. Es gibt sonst selten die Möglichkeit, Zuschauer eines Laufes zu sein, bei welchem man später Teil davon ist. Und in den verschiedenen Starterfeldern gibt es genügend Leute, welche ich eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen habe.

Es ist eine vergleichsweise kleine Gruppe, welche auf das Startsignal wartet. Kurz zuvor ist die neue Modalität umgesetzt worden, dass alle sechs Stunden die Laufrichtung gewechselt wird. Für mich bedeutet das im Gegensatz zu meinem letzten Besuch hier, dass ich die «Stadionrunde» entgegen den Gewohnheiten im Uhrzeigersinn zu laufen habe. An dem soll mein Vorhaben nicht scheitern.

 

 

Dann ist es so weit. Wann habe ich mich das letzte Mal an einer Startlinie in Bewegung gesetzt mit dem Wissen, dass ich so lange laufen würde? Eindeutig länger als nur eine gefühlte Ewigkeit. Aber der Schwarzwald Marathon vor zwei Wochen hat mir die Sicherheit gegeben, dass es machbar ist. Die Bedenken und Abneigung gegenüber Rundenläufen, welche ich in Gesprächen immer wieder höre, kann ich nicht teilen. Klar, es geht nicht um Bombenstimmung, Attraktivität des Rahmenprogramms, Livebands an der Strecke und anderen durchaus reizvollen Zutaten zu einem Marathon. Im Mittelpunkt steht das Laufen. Ob es Laufen in verschärfter oder entschärfter Art ist, müssen alle für sich selbst entscheiden. Was ist frustrierender, was entspannender? Einen Marathon kurz vor dem Ziel aufgeben zu müssen und als DNF gewertet zu werden, oder bei einem Stundenlauf weitab der geplanten Kilometer in die Liste der Finisher aufgenommen zu werden?

Es sind erst etwa 2/3 einer Runde zurückgelegt und schon komme ich das erste Mal am Verpflegungsposten vorbei. Wo gibt es da bitte bei einem Marathon, dass du im Abstand von knapp einem Kilometer das volle kulinarische Verwöhnprogramm geboten bekommst, auf Eigenverpflegung zurückgreifen kannst und den Drop Bag mit Ersatz- oder Ergänzungskleidern zur Hand hast?

Ich habe gefrühstückt und spüre trotzdem im Angesicht des Verpflegungspostens ein Grummeln und Ziehen im Bauch. «Nein, bitte nicht», denke ich, doch der Körper will nicht auf die Einflüsterungen hören. Schon auf der zweiten Runde muss ich die Laufstrecke verlassen und ins Schützenhaus abbiegen. Am Gewehrputztisch vorbeikommend, denke ich, dass ich sogar freiwillig ein Schiesseisen putzen würde, wenn mir diese Darmbeschwerden dafür erspart blieben. Weniger gepflegt ausgedrückt: « So ‘ne Kacke.»

In der Hoffnung, dass ich erhört werde – Schützen mit verrussten Gewehren sind ja keine zu sehen – fädle ich wieder auf die Strecke ein. Vloggy kann ich einige Zeit später beruhigen, dass ich ihn nicht bereits überrunde, sondern endlich wieder eingeholt habe. Jetzt gilt es, den Rhythmus zu finden. Welchen, das ist die Frage. Seit der Wiederaufnahme des Trainings habe ich nie eine Pace von 9,4km/h überschritten. Mein Ziel ist es, mit diesem Durchschnitt bis zur Marathonmarke durchzulaufen. Uhr habe ich keine dabei, die könnte ich in der vom Nebel durchzogenen Dunkelheit gar nicht ablesen. Doch die vermessene Rundenlänge von 938 Metern ermöglicht sogar mir ein leichtes Rechnen. Zehn Runden die Stunde und gut ist.

Es ist kurzweilig, zwischen all den anderen unbeirrt ihre Runden drehenden Läuferinnen und Läufern auf mein Ziel hinzuarbeiten. Mit Tom Eller ist seit Freitagmittag ein Moderator der angenehmen Sorte am Mikrophon. Präsent, aber unaufgeregt begleitete er uns mit sonorer, warmer Stimme über die Zeitmessmatte. In der Gegenrichtung könnte man kurz danach in grosser Projektion die aktuellen Daten ersehen, in der aktuellen Laufrichtung ist es nur ein Monitor, der nicht so gut abzulesen ist. Egal, die grosse Uhr zeigt die bis zum Mittag verbleibende Laufzeit an. Ein kurzer Abgleich meiner Rundenzählung und dieser Uhr ergeben, dass ich schneller als vorgesehen unterwegs bin. Fotografieren im Dunkeln ist nicht möglich, also kann ich meine gesamte Konzentration und Energie darauf verwenden, eine für das weitere Training Vertrauen schaffende Zeit über die Marathondistanz zu erzielen. Alles andere ist Zugabe.

 

 

Beim ersten Halt am Verpflegungsposten mache ich den Fehler, dass ich mir ohne weiter zu Überlegen eine Becher Cola greife und beim Trinken realisiere, dass die Temperatur an diesem Morgen nur knapp über dem Gefrierpunkt liegt. Auch mein Magen protestiert umgehend, ist aber gnädig genug, diese Demo nicht in Krawalle ausarten zu lassen. Für die verbleibenden Stunden ist die Strategie gesetzt: Den Becher mit der Cola mit heissem Wasser auffüllen.

Ich laufe und es läuft. Meine Gedanken sind einzig hier im Schachen. Erst im Nachhinein werde ich realisieren, welche Wohltat es ist, mich für ein paar Stunden völlig losgelöst von allen Sorgen und Grübeleien in dieser Blase bewegen zu dürfen.

Der Ehrgeiz ist mittlerweile geweckt, denn es wird eine Marathonzeit geben, wie schon seit Jahren nicht mehr. In ungläubigem Erstaunen nehme ich zur Kenntnis, dass meine Zeit für 45 Runden, also 42,210km bei 4:06:36 liegt. Dass sich das Gewicht der Oberschenkel umgekehrt proportional zur Zeit anfühlt, verwundert mich nicht. Mein heutiges Ziel habe ich mehr als erreicht und bin mittlerweile sogar auf den neunten Gesamtrang vorgerückt. Alles Weitere ist Zugabe. Entsprechend verlängern sich nun die Rundenzeiten.

Vier Kilometer später überkommen mich wieder andere als muskuläre Probleme. Ein länger dauernder Besuch im Schützenhaus ist vonnöten. Zurück auf der Strecke bin ich mir sicher, dass ich damit meinen Platz in den Top Ten verkackt habe. Um mir einen Überblick zu verschaffen, hole ich im Auto, welches gleich neben der Strecke geparkt ist, mein Handy und verschaffe mir ein detailliertes Online-Update auf die Gesamtsituation. Wie gedacht, bin ich auf den 11. Platz durchgereicht worden, doch in der Altersklasse bin ich auf dem ersten Zwischenrang. Diesen zu behalten, ist – nebst dem zuvor schon erklärten Ziel, mindestens 50 Kilometer zu laufen - meine neue Motivation, die arg ziehenden Oberschenkel weiter in einem leichten Laufschritt zu bewegen und nicht ins Gehen zu fallen.

Kurz nach dem Knacken der Fünfzigermarke begleitet mich Julian. Als 24-Stundenläufer hat er das Podium im Visier. Erst kürzlich hat er für die Unterstützung einer Herzensangelegenheit während acht Tagen bei einem Spendenlauf eine namhafte Summe für den Angelman Verein erlaufen und nebenbei noch 352 Trainingskilometer auf die Habenseite gelegt. Quer durch die halbe Schweiz hat er bei Familien Halt gemacht, welche ein von diesem seltenen Gendefekt betroffenes Kind haben.

Julian gibt mir ausser läuferischer Unterstützung auch noch gleich eine weitere motivierende Information. Aufgrund dieser stelle ich fest, dass ich kurz davor bin, den Schweizer Rekord in der Altersklasse zu brechen. Nicht ganz rund, aber es läuft…

Keine halbe Stunde vor Schluss gibt es noch einen überraschenden Wechsel in der Führung beim 48-Stundenlauf. Ivan Bretan, hat zu sehr mit der tiefen Temperatur zu kämpfen – für einen Schweden eher ungewöhnlich – und entscheidet sich aufzuhören. In seiner Altersklasse ist ihm aber die Goldene sicher. Flankiert wird er dort von einem weiteren Schweden auf dem dritten Platz. Frederik kam nach Brugg, weil er noch einen Qualifikationslauf für den nächsten Spartathlon braucht.

 

 

Unterwegs auf der letzten Runde höre ich beim Verpflegungsposten, dass noch zwei Minuten bis zum Rennende verbleiben. Der Ehrgeiz für einen Schlussspurt und eine ganze weiter Runde packt mich und bringt mich 12 Sekunden vor Ende über die Zeitmessmatte. Dort bleibe ich stehen und gratuliere dem Drittplatzierten insgesamt und Schweizer Meister im 48-Stundenlauf, Michel Misteli.

Auf dem Weg zur heissen Dusche durchbricht die Sonne den Nebel. Etwas früher wäre auch schön gewesen, doch die Siegerehrung in der strahlenden Herbstsonne lässt den trüben Morgen vergessen.

 

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Vor der Siegerehrung kommt Jan auf mich zu und will sich bei mir entschuldigen. «Wofür?» frage ich. «Ich bin hinter dir über die Zeitmessmatte, habe aber erst 30 Meter nach dir angehalten, als das Rennen ganz zu Ende war, und dir damit unwissentlich den achten Gesamtrang gestohlen.» Diese Geste freut mich und ich kann Jan versichern, dass dieser Platzwechsel in letzter Sekunde meine Freude über das Erreichte in keiner Weise trübt und ich an diesem Tag mit mehreren Erfolgserlebnissen gesegnet bin.

 

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Update: Julian hat mich im Nachhinein kontaktiert, um mir mitzuteilen, dass er sich vertan habe und die genannte Kilometerzahl für den Schweizerrekord nicht für die AK60, sondern für die AK65 zutreffe. Ich lag dazwischen und habe nun für den nächsten 6-Stundenlauf eine weitere Motivation."

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