Fr./Sa., 8./9. August 2008
Mit gerade Mal 65 Teilnehmern begann 1970 diese Veranstaltung, die sich vornehmlich an Marschierer wendet. Im Laufe der Jahre steigerte sich die Teilnehmerzahl kontinuierlich bis auf mehr als 9.000. Offensichtlich konnte man sich vor 38 Jahren aber nicht vorstellen, dass man 100 Kilometer am Stück marschieren kann, und so nannte man die Veranstaltung "Todesmarsch“ (Dodentocht).
Längst nehmen bei der „Dodentocht“ auch Läufer teil, wenn auch die ganz schnellen ausgebremst werden, denn die einzelnen Verpflegungsstellen öffnen erst nach einer eher an den Marschierern ausgerichteten Zeit. Wer die 100 Kilometer schneller als 10 Stunden laufen will, ist hier fehl am Platz.
Die Veranstaltung findet in Belgien in der Gemeinde Bornem (ca. 20 km südlich von Antwerpen) und Umgebung jährlich im August statt. Start ist jeweils Freitagabend um 21 Uhr, Zielschluss 24 Stunden später.
Angelika und ich reisten freitags an, von Stuttgart aus dauerte die Fahrt etwa sechs Stunden. „Die Dodentocht wird in Bornem und Umgebung wie ein Volksfest gefeiert.“ So liest man es auf Wikipedia und auch auf den Internetseiten des Veranstalters. In der Tat, als wir unser Auto auf einem Parkplatz in Bornem abgestellt hatten, mussten wir nur den Menschenmengen folgen und landeten bald im Zentrum auf einem großen Platz. Mittendrin war ein Zelt, in dem man die Startunterlagen abholen, oder sich, wie wir, nachmelden konnte. Viele Hunderte Menschen saßen in den Kneipen ringsum, standen vor Wurstbuden, oder vergnügten sich anderweitig.
Etwa eine halbe Stunde vor dem Start reihten auch wir uns in die Menschenschlange ein und landeten nach etwa fünf Minuten in einer wartenden Menschenmenge. Ganz langsam rückten wir vorwärts und etwa zehn Minuten später war klar, dass wir hier nicht auf den Start warteten, sondern auf den Einlass in den Startbereich. Jeder Teilnehmer hatte einen Chip am Schuh und musste über eine Matte, die registrierte, dass man jetzt im Startbereich war, einem Platz, auf dem jede Menge Leute warteten. Wie weit sich die Menschenmenge nach vorne zog, konnte ich nicht sehen, das Ende aber musste wohl ziemlich weit weg sein, denn 9.000 Menschen konnten das unmöglich sein.
Was mir während des Wartens auffiel waren die vielen Raucher. Ganz offensichtlich sind die Marschierer eine ganz eigene Spezies, die nicht unbedingt gesundheitsbewusst lebt. Nun ja, vermutlich braucht man als Marschierer nicht die Lunge eines Läufers. Viele Bundeswehrsoldaten sah man, ein Großteil davon mit großem Rucksack. Ältere Leute, ganz junge, dünne, sportliche, aber auch dicke, unsportlich aussehende Teilnehmer warteten hier auf den Start.
Vermutlich wurde auch, wie angekündigt, um 21 Uhr gestartet. Wir hier hinten bekamen davon aber überhaupt nichts mit. Irgendwann aber, wohl 15 Minuten nach 21 Uhr kam auch hier bei uns etwas Bewegung in die Menge. In breitem Strom schoben wir uns ganz langsam weiter vor, insgesamt wohl einen Kilometer durch die Straßen, bestaunt von Anwohnern, die vor ihren Häusern standen, oder auf Balkonen oder am Fenster.
Nach weiteren 10 Minuten kamen wir durch einen Startbogen, wurden durch Zeitmatten erfasst und jetzt war klar, dass hier, 26 Minuten nach dem Start, auch wir auf der Strecke waren.
An joggen aber war noch nicht zu denken, der Menschenstrom marschierte zügig durch den Ort, die Zuschauer standen dicht an dicht hinter den Absperrungen und schauten dem Spektakel zu. Weitere 30 Minuten vergingen, immer noch marschierten wir in der Menge mit und immer noch waren die Gehwege dicht besetzt mit Zuschauern. Das Interesse an diesem Laufspektakel war offensichtlich sehr groß.
Erstaunlich war für mich der Zuschauerzuspruch. Die ersten 15 km lief man in einer großen Schleife südlich von Bornem und kam dann wieder kurz vor Mitternacht zurück in die Stadt. Sowohl unterwegs in den zahllosen kleinen Ortschaften, als auch in Bornem standen jede Menge Zuschauer an der Strecke und schauten uns zu. Überall wurden Feste gefeiert und offensichtlich war die Bevölkerung des gesamten Landstrichs auf den Beinen. Unterwegs saßen vor nahezu allen Häusern die Bewohner und feierten. Da war eindeutig mehr los als in Biel.
Worüber ich mir allerdings ein wenig Sorgen machte, war die Verpflegung. Drei Stunden und 18 Kilometer waren wir jetzt marschierend unterwegs und gerade Mal drei Verpflegungsstationen hatten wir passiert. Das Einzige was es an den ersten beiden gab war Wasser, erst an der Dritten gab es auch noch ein Stück Reiskuchen. Wenn das weiter so spärlich weiter ging, würde ich Probleme bekommen. Ich kann aber sagen, dass es nicht so weiter ging. Noch insgesamt 12 Stationen gab es auf den restlichen 82 Kilometern und deren Angebot war überreichlich und abwechslungsreich.
Die Strecke selbst ist absolut flach, man läuft auf Asphalt, guten, aber auch schlechten und manches Mal auch auf miserablen Wirtschafts- und Feldwegen, ab und zu auf ganz holprigem Kopfsteinpflaster, hin und wieder auf schmalen Wiesenwegen. Die ganze Gegend ist stark landwirtschaftlich geprägt mit Viehwirtschaft, aber auch Anbau von Mais und Getreide. Man kommt durch viele kleinere Ortschaften und auch zu ganz fortgeschrittener Uhrzeit saßen dort die Menschen vor Ihren Häusern, selbst um 5 Uhr morgens waren noch viele an der Strecke. Gegen die Nachtkühle halfen sie sich mit kleinen Feuern in irgendwelchen Behältern und auch Decken, in die sie sich einwickelten.
Im Vergleich zu dem Bieler 100er ist auch auf der Strecke sehr viel mehr los. Viele Läufer nutzen die Gelegenheit, machen hier mit und laufen weit vorne. Allerdings darf man die Wanderszene nicht unterschätzen. Da sind sehr viele sehr schnell unterwegs und kommen deutlich unter 15 Stunden an. Das Feld war auch nach 30 Kilometern so dicht, dass wir immer noch nicht joggen konnten.
Danach wurde es aber etwas lichter. Zwei hervorragend ausgestattete Verpflegungsstellen (VP 4 und VP5) hatten dafür gesorgt, dass viele Marschierer ausgiebige Pausen machten. Viele lagen auf dem Boden und hatten die Füße irgendwo abgelegt, um sie zu entlasten. Andere saßen an den bereit gestellten Tischen und aßen in Ruhe. Angelika und ich machten jeweils nur ganz kurz Rast und konnten so viele hundert Mitstreiter hinter uns lassen, so dass wir bald danach durchgängig joggen konnten, anfänglich noch überholend, bald aber einigermaßen ungestört.
Allerdings ließen auch wir uns an VP 5 verführen und stellten uns in die Schlange vor dem Kaffeeausschank. Vielleicht fünf Minuten später hatten wir unseren Becher mit Kaffee. Ich war voll der Bewunderung. Da kommt ein unendlicher Strom von Menschen zu dieser Station, viele Hunderte, gar Tausende und die schaffen es, dass jeder einen Becher Kaffee in angemessener Zeit bekommt.
Ach, noch eine Episode während unserer Wanderphase in den ersten 33 Kilometern. Vielleicht bei Kilometer 22 kam von hinten eine Menge englischer Soldaten und auch Soldatinnen. Sie marschierten in Zweierreihen beinahe im Stechschritt. Die vorderen beiden Soldaten hatten wohl den Auftrag, die Bahn frei zu machen, denn sie kümmerten sich überhaupt nicht um die Wanderer vor ihnen, hielten stets dasselbe hohe Tempo und drängten alle störenden Marschierer beiseite. Selbst an ganz engen Passagen kannten sie keine Skrupel und behielten ihr Tempo bei. Hinten machten zwei Soldaten die Nachhut und schauten wohl, dass alle mitkamen. Einige Wanderer hängten sich dran und auch Angelika und ich nutzten die Gelegenheit, das Tempo zu erhöhen, mussten uns aber sputen, damit wir mitkamen. Irgendwann jedoch war kollektive Pause angesagt und wir waren wieder im wilden Durcheinander der Wanderer auf uns alleine gestellt.
Waren wir bisher in einem Tempo von etwa 10-11 Minuten pro Kilometer voran gekommen, hatten wir jetzt einen Schnitt von 7:30 bis 8 min/km. Die 50-km-Marke hatten wir nach ziemlich genau acht Stunden (5.23 Uhr) passiert, die zweiten 50 Kilometer schafften wir in weniger als sieben. Lediglich an den Verpflegungsstationen ließen wir uns etwas mehr Zeit, als bei einer reinen Laufveranstaltung.
Gegen sechs Uhr war es hell geworden, die Strecke recht leer, so dass wir prima voran kamen. Die Zuschauer waren jetzt nahezu alle verschwunden, lediglich einige wenige standen oder saßen noch ab und zu an der Strecke. Die Temperatur war immer noch angenehm, wie auch die ganze Nacht hindurch. Ich fühlte mich gut; ganz offensichtlich ist es besser, am Anfang eines solch langen Laufes langsam zu tun und erst später schneller zu werden.
Die Verpflegungsstellen kamen jetzt dichter nacheinander. Da trug man den Marschierern Rechnung, von denen die meisten auf der zweiten Hälfte langsamer werden und auch besser versorgt werden wollen. Obwohl wir bereits mehr als vier Stunden joggten, waren noch jede Menge Wanderer vor uns. Die waren wohl deutlich vor uns gestartet und hatten bis jetzt ihren Vorsprung halten können.
Die Telefonierer nahmen zu, die Raucher ab. Offensichtlich sind die schnellen Wanderer genauso gesundheitsbewusst, wie wir Läufer. Lediglich der Läufer vom 100 Marathon Club, der uns irgendwann bei Kilometer 70 eingeholt und überholt hatte, frönte diesem Laster. Als wir bei VP 11 ankamen, saß er gemütlich auf einem Stuhl und qualmte, was ihn aber nicht hinderte, uns einige Kilometer später wieder einzuholen und auf Nimmerwiedersehen nach vorne zu verschwinden.
An dieser Station hatten wir auch Bernhard eingeholt. Der startete offensichtlich etwas vor uns, war daher sechs Minuten früher über die Startlinie gekommen und konnte bereits nach etwa 20 Kilometern joggen. Hier aber hatte er eine kleine Krise, so dass wir ihn überholen und bis ins Ziel einen Vorsprung von mehr als einer Stunde herauslaufen konnten. Auch das ein Zeichen, dass die uns aufgezwungene Taktik so schlecht nicht war.
Dank unserer flotten 60 Kilometer kamen wir noch knapp unter 15 Stunden ins Ziel, bekamen im Tausch gegen den Chip eine Ananas, die Medaille und die Urkunde mit allen Zwischenzeiten.
Die wahren Helden aber kamen erst Stunden später. Da schwoll der Strom der Ankommenden deutlich an und beinahe so dicht wie zu Beginn kamen sie die Straße entlang Richtung Ziel. Die haben ihre Füße viele Stunden länger gequält und verdienten zu Recht den Beifall der jetzt wieder zahlreicheren Zuschauer.
Biel hat einen mächtigen Konkurrenten.