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Laufberichte

Singapur Marathon: Durch die Hitze der Nacht

01.12.19 Special Event
 

Städte gibt es viele auf der Welt. Und Citymarathons – zumindest gefühlt – mittlerweile fast ebenso viele. So wirklich Strahlkraft haben aber letztlich nur wenige Metropolen. Auf dem asiatischen Kontinent gehört für mich vor allem eine Stadt dazu, die wie kaum eine andere Modernität, Fortschritt, Finanzkraft und den Glamour einer Weltstadt verkörpert, eine Stadt, deren Ruf allerdings auch durch rigide Sanktionen und einen fast schon wahnhaften Sauberkeitsfimmel geprägt ist. Die aber auch wie kaum eine andere demonstriert, wie ein Zusammenleben von 5,6 Millionen Menschen verschiedenster Ethnien und Religionen funktionieren kann. Ich spreche von Singapur.

Dass Singapur zudem seit 2002 einen toporganisierten, sightseeingorientierten Großmarathon ausrichtet, der über alle Distanzen – neben dem Marathon auch über 21,1, 10 und 5 km – etwa 50.000 Teilnehmer aus 133 Nationen motiviert, macht die Stadt auch als Laufdestination höchst reizvoll. Der Knackpunkt aus Sicht eines Laufeuropäers: Die Stadt liegt nicht gerade „um die Ecke“. Und ganzjährig ist man mit tropischen Verhältnissen konfrontiert, was für die Physis eine Grenzerfahrung verheißt. Andererseits: Bei einem Zeitlimit von 7:30 Stunden kann man diesen Marathon zur Not auch im Schongang bewältigen. Zudem habe ich ein halbes Kilo Salztabletten im Gepäck. So jedenfalls meine Überlegung, um mir die Schrecken der Saunadauersitzung zu nehmen.

Die größte Neuerung im Jahr 2019 ist die Startzeit. Vom early bird-Start um halb fünf Uhr morgens ist man abgerückt, um einem großen Teil der Läufer zu ersparen, in die Tageshitze hinein zu laufen. Stattdessen wird nun erst ab 18 Uhr gestartet, sodass man die Chance hat, von der kühleren Nacht zu profitieren. Allzu viel Hoffnung auf echte Abkühlung darf man sich aber nicht machen: Unter 25 Grad Celsius sinken die Temperaturen auch in der Nacht nicht, und das bei einer Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent. Das wahre Highlight der Neuerung ist letztlich aber ein anderes: Singapur im Lichtergewand bei Nacht erleben zu dürfen.

 

 

 

Expo an der Marina Bay

 

17 Stunden bin ich von München via London unterwegs, ehe ich am Changi Airport am Freitag Nachmittag erstmals die tropische Hitzewand auskosten darf. Auch an sieben Stunden Zeitunterschied muss man sich erst einmal gewöhnen. Aber ich wollte es ja so. Um – wenn schon, denn schon - den Puls der Stadt so richtig auskosten zu können, habe ich mein Quartier mitten in Chinatown gewählt, in der herausgeputzten Keong Saik Road. Über 100 Euro kostet das winzige, wenn auch gut ausgestattete Zimmer, und immerhin hat es ein kleines Fenster, was in der beengten City keine Selbstverständlichkeit ist. Willkommen in Singapur!

 

 

Viel Zeit zum Ausruhen habe ich nicht. Es gilt noch die Startunterlagen zu holen. Wie fast alles ist auch das Sands Expo & Convention Centre an der Marina Bay gut mit dem MRT, der Metro erreichbar. An die wuseligen, verzweigten und nicht immer übersichtlichen Stationen muss man sich ein wenig gewöhnen, aber günstiger und schneller kommt man in der Stadt wohl nicht herum.  Von der Station Bayfront führt mich der Weg erst vorbei an einem Shopping Centre mit Indoor-Kanal samt Godel-Betrieb, bis ich die großzügig dimensionierten Expo-Hallen erreiche. „Think big“, dieses Motto ist auch hier zu spüren.

Die Abläufe auf der Expo sind - singapurtypisch - perfekt organisiert. Im Stile eines Ikea-Kaufhauses werden wir im Einbahn-Zickzackkurs durch die gewaltige Messehalle gelotst. Ohne jedes Warten bekomme ich zunächst Startnummer, Starter-Singlet und einen durchaus nützlichen, wasserdichten Rucksack mit allerlei Gimmicks. Dann folgen die Bereiche verschiedener Ausrüster, das Merchandising nicht zu vergessen. Zum Schluss ist alles vereinigt, was unter „Sonstiges“ fällt. So komme ich staufrei an fast jedem Stand vorbei. Dass die ganze Messe dadurch mäßig einladend und etwas leblos wirkt, ist die Kehrseite der Medaille. Es gibt keinen Grund länger zu verweilen und nochmals zum „Start“ zurück zu kehren, wenn man den „Exit“ erreicht hat.

Sehr viel spannender ist allerdings das, was man vor den Toren der Expo erleben kann. Zwei der größten Attraktionen der Stadt, die wir auch während des Laufs ansteuern und die seit ein paar Jahren zu den neuen Wahrzeichen und Aushängeschildern Singapurs in der Welt avanciert sind, liegen an der Marina Bay, der Stadtlagune Singapurs, gleich nebeneinander: Das gewaltige, überaus extravagant konzipierte Marina Bay Sands Hotel und die tropische Parkanlage Gardens by the Sea mit ihren „Supertrees“. Dazu im Einzelnen später noch. Aber ein erster Abstecher nach der Messe macht gleich Laune auf mehr, vor allem wenn man die farbenfroh illuminierten Anlagen bei Nacht erlebt.

 

Start mit Formel 1-Feeling

 

Ein besonderes Highlight ist ohne Zweifel auch die Wahl des Startgeländes: Direkt auf dem Rennparcours vor dem F1 Pit Building, dem Boxenhaus des Formel 1-Tracks Singapurs ist es platziert. Seit 2008 startet hier alljährlich, gleichfalls nachts, der Grand Prix von Singapur. Auf einem lediglich fünf Kilometer langen Rundkurs geht es rund um die Marina Bay und großteils - wie in Monte Carlo - auf öffentlichen Straßen durch die Stadt. Heute stehen statt der Boliden jedoch geschätzt 30.000 Halb- und Marathonläufer in den Startlöchern. Eine nicht minder beeindruckende Kulisse.

 

 

Wie nicht anders zu erwarten, ist die Logistik auch am Start von vorn bis hinten durchdacht. Das fängt schon damit an, dass zahlreiche Lotsen von der MRT-Station Promenade den Fußweg zum Startbereich sichern. Nach einem Security Check der ohnehin durchsichtigen Kleiderbeutel haben wir viel Auslauf in einem abgesperrten, schattigen Parkgelände. Noch nie habe ich bei einem Lauf so viele mobile Klohäuschen aneinander gereiht gesehen. Von Vorteil ist auch, dass wir bereits hier mit Trinkwasser versorgt werden. Brütend heiß und sonnig war es bei meinem Aufbruch vom Hotel gewesen. Jetzt nun drohen dunkle Wolken mit einem kräftigen Guss von oben. Immerhin ist jetzt Regenzeit. Wir haben Glück: Heute bleibt es bei der Drohung, aber schwülwarm bleibt es allemal.

Im langgezogenen Boxengebäude gibt es für jeden der sieben Startblöcke A bis G eine eigene Gepäckabgabestelle und einen eigenen Zugang zum Startkanal auf der Rennstrecke. Der Zugang wird strikt kontrolliert. Ich selbst habe mich eingedenk meiner Hitzeempfindlichkeit für Block F, also weiter hinten für eine Zielzeit zwischen fünf und sechs Stunden gemeldet. Dass ein größerer Teil der Läufer sich nicht realistisch einschätzt, werde ich später auf der Strecke feststellen dürfen.

Langsam füllt sich der lange Startkanal mit den Menschenmassen. Beeindruckend ist das Feeling, zu Rock und Techno auf dem im doppelten Sinne „heißen“ Asphalt des Formel 1-Kurses dem Start entgegen zu fiebern. Vom Boxenhaus prangen uns die Konterfeis der hier siegreichen Formel 1-Heroen, darunter Sebastian Vettel, entgegen. Im Hintergrund erhebt sich das mächtige Rund des Singapore Flyers, des mit 165 Metern Höhe zweithöchsten Riesenrades der Welt. Den Titel „worlds largest“ hat, wen wundert's, seit 2014 Las Vegas inne. Den Background schmücken auch  die wellenartig geschwungenen Dächer des Flower Domes und des Cloud Forests am Rande der Gardens by the Bay. Eine überaus beeindruckende Kulisse.

 

 

Geduld ist allerdings angesagt, was umso schwerer fällt, als ich schon im Stehen vor mich hin schwitze. Denn, beginnend ab 18 Uhr, gestartet werden die Blöcke zeitversetzt. Das ist auch gut so: Denn an ein paar Stellen wird der Parcours später schmaler und damit voll. Schon kurz nach 18:30 Uhr ist es, als endlich mein Block F aufgerufen wird. Nur ein kurzes Hupsignal ertönt – schon geht es los über den Formel 1-Asphalt.

Ein Stück weit folgen wir noch dem kurvigen Rennfahrerkurs nach Norden, bis es entlang der verkehrsgesperrten Republic Avenue auf öffentlichem Straßenterrain weitergeht. Erstaunlich leicht und gut geht es für mich los und ich merke, dass allein der Laufwind dazu beiträgt, mein verschwitztes Shirt zu kühlen. Nach knapp zwei Kilometern dreht der Kurs scharf nach links und führt uns nun über den breiten Nicoll Highway geradewegs der Innenstadt entgegen. Nicht lange dauert es, bis ich auf den zuvor gestarteten Block E auflaufe, aus dem schon die Ersten ins Walking verfallen sind. Mehr und mehr Hochhaustürme säumen den Weg, etwa nach 3,5 km die der Suntec City und des South Beach Quarters.

 

Durch den Colonial District nach Downtown

 

Die sich im abendlichen Gegenlicht fahl abhebende 67 m hohe Stele des War Memorials, erinnernd an die zivilen Opfer der japanischen Besetzung im Zweiten Weltkrieg, inmitten eines gleichnamigen gepflegten Parks markiert nach 4 km den nächsten Abzweig.

Er führt uns ein kurzes Stück weit über den Raffles Boulevard, vorbei am legendären Raffles Hotel und am neuzeitlichen Shopping Center Raffles City. Thomas Stamford Raffles – das ist ein Name, der einem in Singapur so häufig wie kein anderer begegnet. Er gilt als derjenige, der 1818 das heutige Singapur als britischen Stützpunkt für den Handel in Fernost begründet hat. Seinen Namen trägt daher auch das wohl berühmteste Hotel der Stadt, ein Fünfsternehaus im Kolonialstil mit 120-jähriger Tradition, das wir aber nur en passant streifen. Berühmt ist das Hotel auch für seinen Singapore Sling, einen Cocktail, der hier 1925 erfunden worden sein soll. Ein wenig unter geht der stilvolle, palmengerahmte Bau heute in der Skyline der umliegenden Wolkenkratzer.

 

 

Westwärts geht es auf der St. Andrew´s Road weiter. Im Herzen des Central Districts treffen wir hier auf die St. Andrew´s Kathedrale, die 1861 im klassizistischen Stil errichtete anglikanische Kathedrale Singapurs, beschaulich in viel Grün eingebettet. Strahler leuchten die weiße Fassade aus. Wie eine graue Maus erscheint dagegen die sehr englisch wirkende, von Säulen gerahmte und mit einer Kuppel gekrönte National Gallery gleich nebenan. Auf dem weiten Wiesenoval auf der anderen Straßenseite, Padang genannt, wird auch heute noch dem von den Briten etablierten Kricketspiel gefrönt.

Viel zu sehen gibt es auf dem Padang nicht, doch erlaubt die große Freifläche einen ungehinderten und überaus beeindruckenden Panoramablick auf die sich nähernde Skyline des Business Districts mit seinen dicht gestaffelten Hochhaustürmen im letzten Abendlicht. Nur scheinbar klein wirkt aus der Entfernung ein stilistisch ganz anderer Bau zu Füßen dieser Häuserfestung. Es ist das prächtige Fullerton Hotel, einquartiert im kolonialen Bombastbau des alten Hauptpostamts. Erst im Näherkommen offenbart sich dessen Dimension.

Über die metallene Anderson Bridge queren wir direkt vor dem Hotel den Singapore River. Jenseits der Bay sticht das extravagant in Form und Fassade eine Durianfrucht nachahmende Kultur -und Konzertzentrum der Esplanade ins Auge. Die große Frucht hat wohl ebenso viele Liebhaber wie Hasser, wobei letzteres vor allem mit ihrem strengen Geruch zu tun hat, sodass sie in vielen Hotels Hausverbot hat.

Am Hotel vorbei passieren wir bei km 5 den Merlion Park. Der kleine, am Ausfluss des Singapore River in die Marina Bay gelegene Uferpark beherbergt mit dem wasserspeienden Merlion, einer halb einen Löwen, halb einen Fisch symbolisierenden Kunstfigur, so etwas wie das Wahrzeichen der Stadt. Zu sehen bekommen wir den Merlion im Vorbeilaufen allerdings nicht. Vielmehr zieht das illuminierte „Raumschiff“ des Marina Bay Sands Hotel am Horizont den Blick auf sich.

In südwestlicher Richtung öffnen sich für uns via Fullerton Road, Collyer Quay und weiter Cecil Street nun die Häuserschluchten der Downtown. Schlagartig wird es noch dunkler als es dämmerungsbedingt ohnehin schon ist. Im Lichtschein glitzern vereinzelt die nächtens finsteren Fassaden aus Glas und Beton. Es ist aber ein besonders erhebendes Gefühl, die ansonsten verkehrsgeflutete Straße ganz für uns zu haben.

 

Auf dem Highway in den Westen

 

Der Downtown-Run ist letztlich nur ein relativ kurzes Vergnügen, denn flotten Schrittes ist der zentrale Hochhausbezirk bald durchmessen. Ab der Ansom Road nach 6,5 km zeigen Absperrgitter in der Straßenmitte, dass wir ab hier – bis km 19 – mit läuferischem Gegenverkehr zu rechnen haben und der Kurs als Pendelstrecke weiter verläuft. Aber noch ist die Gegenspur gänzlich verwaist.

Ab dem Abweig auf die Keppel Road haben wir das zweifelhafte Vergnügen, unterhalb des hier auf Stelzen führenden Ayer Rajah Expressway weiterzulaufen. Bei Regen wären wir prächtig geschützt. Nur es regnet eben nicht und so staut sich nur die Wärme. Das ändert sich allerdings, als als wir nach 8 km den Westcoast Highway erreichen. Frei wölbt sich ab hier der Himmel über uns. Aber es ist nun final der Nachthimmel, der zwischenzeitlich dem letzten Rest Tageslicht den Garaus gemacht hat. Zur Linken sehen wir meerzugewandt die mächtigen Kräne der Containerterminals in den Himmel ragen.

 

 

Die folgenden Kilometer lassen sich fast unbeschwert schnurgerade laufen. Eine etwas fiese längere Steigung gleich zu Beginn bringt uns auf ein etwas gehobeneres Laufniveau, was den Vorteil hat, auch den leisesten, zur Kühlung beitragenden Lufthauch zu spüren.

Unter optischen Aspekten richtig spannend ist diese Passage nicht gerade. Denn die üppige Illuminierung ist auf das Stadtzentrum beschränkt, sodass das, was es hier draußen zu sehen gäbe, vom Dunkel der Nacht verschluckt wird. Ein paar Dinge sind es aber dann doch, die die Aufmerksamkeit erregen, etwa nach 9,5 km die von hellen Strahlern erleuchtende, emmentalerartig löchrige Kunstfassade VivoCity Mall, des mit satten 139.000 Quadratmetern größten Shoppingcenters der Stadt. Oder jenes Band heller Lichtpunkte, das sich über mir über den Himmel erstreckt und in einem kitschigen Farbgekleckse am Horizont endet: Es ist die Seilbahn, die von der Insel Sentosa hinauf zur Bergstation auf den Mount Faber führt, wobei die Bezeichnung „Mount“ für einen Hügel von 94 Metern Höhe ein echter Euphemismus ist.

Läuferisch bin ich zu meinem Erstaunen richtig gut drauf. In meinem Leben habe ich noch nie so viele Läufer überholt, die sich mittlerweile aus allen Startblöcken von B bis E mischen, und noch nie habe ich bei einem Lauf so viele Läufer schon in der Frühphase walken gesehen. Wie lange dieses Hochgefühl noch vorhält? Alle höchstens zwei Kilometer kann ich jedenfalls Flüssiges, Wasser oder Isotonisches, nachtanken und davon mache ich reichlich Gebrauch. Die Organisation ist auch in diesem Punkt vorbildlich. Mit Salztabletten und Magesiumsticks warte ich nicht lange, angesichts des permanenten Schweißverlustes sicher eine gute Entscheidung.

Der läuferische Gegenverkehr ist mittlerweile auch in Bewegung gekommen und so verheißt der Blick über die Trenngitter zusätzliche Ablenkung. Kurz hinter der Mapletree Business City bei km 12 ist ganz unspektakulär der Wendepunkt erreicht und ich reihe mich ein in die Gruppe derer, die beobachten kann, was hinter ihnen - im doppelten Sinne - läuft. Nach 15,5 km ist erneut die Lichtoase der VivoCity Mall erreicht und langsam, aber sichern nähere ich mich wieder dem Stadtzentrum. Ein weiteres Mal tauchen wir ein in die Häuserschluchten. Kurz hinter km 19, nun entlang der Robinson Road, passieren wir Lau Pa Sat, eines der ältesten und auch besten und schönsten Hawker Center der Stadt, auch etwas singapurtypisches, in dem sich eine Garküche an die andere reiht, und hier in besonderem kolonialem Ambiente.

19,5 km liegen hinter mir, als im Herzen der Downtown große Hinweistafeln verkünden, dass sich nun die Kursverläufe des Halb- und des Vollmarathons trennen. Für erstere geht es weiter geradeaus, vorbei am Merlion bis zur Esplanade. Die Marathonläufer zweigen dagegen rechts ab auf den Marina Boulevard. Ein echtes „Aha“-Erlebnis ist für mich, als ich feststelle, dass es hier tatsächlich mehr Läufer gibt, die auf der Marathonspur bleiben als solche, die sich mit der Halbdistanz begnügen. Das habe ich noch nie bei einem gemeinsam gestarteten Lauf erlebt.

 

Ausflug entlang der East Coast

 

Großartig ist im Rückblick einmal mehr der Blick auf die nächtliche Skyline, die wir nun wieder hinter uns lassen. Weniger großartig ist allerdings der Blick auf meine Laufuhr. Denn die hat schweiß- und luftfeuchtigkeitsbedingt den Dienst quittiert. Und zwar dauerhaft. Nun ja: Es geht auch ohne. Alle Kilometer sind unübersehbar angeschrieben und alle fünf Kilometer geben Uhren die Gun Time, also die Bruttozeit an.

Via Marina Boulevard und Marina Gardens Drive umrunden wir auf den folgenden drei Kilometern  zur Hälfte das Gelände der Gardens by the Bay. Viel in Augenschein nehmen kann ich dabei noch nicht; Dichtes Pflanzwerk verhindert nähere Einblicke. Wir müssen uns noch gedulden bzw. erst weitere Laufarbeit leisten, bis es so weit ist. Zumindest einmal kann ich sozusagen als Appetizer durch ein Zugangstor einen kurzen Blick auf zwei der blau schimmernden Super Trees werfen, für die der Park so berühmt ist.

 

 

Mit der Marina Barrage erreichen wir nach 22,5 km einen kleinen Staudamm, der die Marina Bay vom eigentlichen Meer trennt und schützt. Von der Staudammkante aus sehen wir am Horizont hell und verlockend die markanten Landmarken der City wie das Riesenrad, das Sands Hotel und die Hallen der Conservatories im Garden by the Bay leuchten. Wenig erleuchtend ist dagegen der dunkle Weg, dem wir nun folgen und der lediglich durch ein paar Bodenstrahler erhellt wird. Das hat aber durchaus seinen eigenen Charme.

Etwa zwischen km 24 und 31 ist – nunmehr wieder auf breiteren Straßen und Wegen – die nächste Pendelpassage angelegt. Sie führt in Küstennähe durch den Grünstreifen des East Coast Parks und parallel zum Marina East Drive. Stimmung machen die Pacer-Gruppen, die mit Musik und reichlich Luftballons im Gepäck konstant im Zielzeittakt traben. Ansonsten ist auch hier Abwechslung rar und viel Zeit zum Studium der jeweils in Gegenrichtung laufenden Mitbewerber. Nach wie vor halte ich in etwa meinen Takt, auch wenn die Beine - wen wundert's - langsam schwerer werden. Mehr Zeit lasse ich mir an den so wichtigen und zahlreichen Verpflegungsstellen und gehe bei den Wasserbechern zum Motto „eins ins Kröpfchen, eins übers Köpfchen“ über. Das erfrischt jedes Mal aufs neue. Bananen, Salzbrezeln und Energygels runden das Versorgungsprogramm ab.

 

 

Ab Kilometer 32 erreiche ich das offene Parkgelände der Gardens by the Bay East. Direkt am Wasser führt der Weg hier nun entlang und wunderbar ist die permanente Aussicht über die Fluten hinweg zum Lichtermeer der City auf der drüberen Seite der Bay. Unser East Coast-Ausflug endet nach gut 34 km mit der erneuten Querung der 350 Meter breiten Marina Barrage.

 

Fantasie ohne Grenzen: Die Gardens by the Sea

 

Bis km 37 steht der Hauptteil der berühmten Gardens by the Bay nun auf dem Laufprogramm. Die auf künstlich aufgeschüttetem Land angelegte 101 Hektar große tropische Parkanlage verdankt ihre Entstehung der Regierungsstrategie, Singapur zur Gartenstadt fortzuentwickeln.

Palmen und andere tropische Gewächse, sorgsam arrangiert und ausgeleuchtet, säumen unseren Laufkurs entlang des Ufers der Marina Bay. Wie zwei Riesenwellen tauchen die sich steil aufwölbenden, verglasten Hallen des Cloud Forests und des Flower Dome aus dem Dunkel. Im Cloud Forest ist komprimiert die Planzenwelt ausgestellt, wie sie in Höhen von 1000 bis 2000 Metern anzutreffen ist, inklusive 35 Meter hohem künstlichen Berg und dem welthöchsten Indoor-Wasserfall, alles durch ein verzweigtes Wegenetz erschlossen. Der Flower Dome gleich daneben bietet dem Besucher dagegen mediterranes Klima und entsprechende Vegetation im gleichen Stil. Vom Innenleben der Hallen bekomme ich nachts allerdings nichts mit, umso eindrucksvoller ist im Scheinwerferlicht das Licht-Schatten-Spiel der die Glashaut haltenden Rundbögen der ausgefallenen Dachkonstruktion.

 

 

Näher ins Blickfeld rücken auch andere Highlights der City, etwa der in Blautönen leuchtende und blinkende Singapore Flyer. Wie ein Raumschiff auf einer fernen Galaxie mutet das sich über alles erhebende Sands Hotel an.

Ein Abzweig nach links bringt uns weiter in den Park hinein und näher heran an deren größte Attraktion: Die 25 bis 50 Meter hohen „SuperTrees“, pflanzenbewachsene, sich nach oben in einem Kelch weitende Stahlgerüste, die nachts zudem farbenprächtig illuminiert werden. Erschlossen wird die Welt der Super Trees durch einen sich erhöht zwischen ihnen hindurch schlängelnden Skyway. Eine „Wanderung“ entlang dieses Weges gehört ohne Zweifel zu den eindrücklichsten Erlebnissen, die man aus dieser Stadt mitnehmen kann. Eindrücklich ist allerdings auch unser Lauf durch diese Fantasiewelt aus Natur, Kunst und Technik. So mancher wird wohl auch das Attribut Kitsch ergänzen wollen.

 

 

Wie riesige Blütenkelche leuchten die Kronen der „Bäume“ in Blau- und Lila-Tönen aus dem Tropendickicht hervor – ein fantastischer Anblick. Irreal wie beeindruckend ist auch die Installation zahlloser eiförmiger, die Farbe wechselnder Riesenlampen, die in einem langgezogenen See angelegt sind. Und richtig surreal macht das Ganze dann, als eine Blechbläserkapelle getragen Weihnachtslieder zum Besten gibt. Gerne wäre ich noch weiter durch diesen sehr speziellen Park gelaufen, aber im Laufschritt muss ich diese so fantasievolle Welt schon kurz darauf am Parkausgang hinter mir lassen.

 

Koloss aus einer anderen Welt:
Das Marina Bay Sands Hotel

 

So ganz draußen sind wir aber nicht, führt doch die Sheares Avenue nun an der Nordseite des Parks entlang. Im Blickfeld steht auf diesem Weg allerdings etwas anderes: Das Marina Bay Sands Hotel.  Mit großen Augen sehe ich das Ungetüm des sanft ausgeleuchteten und so wie entrückt erscheinenden Hotelbaus direkt vor mir in den Nachthimmel ragen. Der Hotelkomplex besteht aus drei 55-stöckigen Türmen mit 2.561 Zimmern und etwa 50 Restaurants, die in 191 m Höhe von einer schiffartig anmutenden, 340 m langen Plattform überwölbt werden. In luftiger Höhe findet man hier einen üppig tropischen Park, in den ein fast 150 m langer Infinitypool integriert ist. Gekostet hat dieses wie aus einer anderen Welt entsprungene, 2010 eröffnete Konstrukt stolze 4,6 Mrd. Euro. Pool und Garten sind für die gut zahlenden Hotelgäste reserviert. Für stolze 26 Singapur-Dollar darf aber auch das gemeine Volk von einer Aussichtsplattform den grandiosen Rundum-Ausblick auf die Stadt genießen, vor allem in der Dämmerung ein unvergessliches Erlebnis und ein absolutes Muss.

 

 

Langsam ziehen wir, uns winzig wie Ameisen fühlend, an dem gewaltigen Koloss vorbei. 38 km liegen hinter mir, als ein Brückenanstieg nochmals eine zusätzliche Portion Anstrengung und Schweiß fordert. Im Laufschritt tut sich das nun fast niemand mehr an. Belohnt werden wir, hoch über der Marina Bay stehend, einmal mehr mit einem wunderbaren Ausblick, vor allem auf das extravagant im Stil einer sich öffnenden Blütenknospe gestaltete ArtScience Museum unweit des Marina Bay Sands Hotel. Aber auch das Riesenrad auf der anderen Seite der Brücke, dessen leuchtender Rahmen den Nachthimmel füllt, macht einen deutlich eindrucksvolleren Eindruck als bei Tageslicht. Unterhalb des Flyers können wir bereits die weiße Zeltstadt entlang des Zieleinlaufs am Bayufer sehen und die Stimme des Zielmoderators vernehmen. Aber es hilft nichts: Die 42,2 km müssen noch vollgemacht werden.

Und das bedeutet: Wir zweigen zielabgewandt nach links auf den Raffles Boulevard ab. Lust und Laune schwinden bei mir dramatisch und nicht ein Krampf, sondern eine Blase am Fuß zwingt mich in einen wenig dynamischen Gang. Eine scharfe 180 Grad-Biegung bei km 40 bringt uns auf die Raffles Avenue und damit endlich auch gefühlsmäßig auf Zielkurs.

Irgendwie schaffe ich es wieder, in den Laufmodus zu finden. Auch wenn es schwer fällt, so ist es doch ein bestätigendes Gefühl, die letzten beiden Kilometer, wenn auch langsam, im Laufschritt absolviert zu haben. Wie eine gigantische Zielmarke erhebt sich der der Flyer am Horizont. Ich weiß: wenn ich dort ankomme, habe ich es geschafft.

 

Zieleinlauf mit Postkartenpanorama

 

Eine letzte Biegung bringt uns auf die am Ufer der Bay entlang führende Straße. Nun geht es, vor der sich nochmals in voller Breite präsentierenden Panoramakulisse aller Highlights der Bay Area, nur noch geradeaus, dem vielen Weiß, dem hellen Licht und dem größer werdenden Zielbogen entgegen, der vor der weltgrößten Wasserbühne „The Float@Marina Bay“ aufgebaut ist.

 

 

Schon lange habe ich mich nicht mehr so glücklich, erleichtert, zufrieden gefühlt wie bei diesem Zieleinlauf. Und auch stolz: Mit etwas über fünf Stunden lande ich noch im ersten Drittel des Feldes. Die 42 km bei diesen klimatischen Bedingungen in dieser Zeit zu schaffen, hatte ich mir nicht zugetraut. Irgendwie schafft es der Zielmoderator auch meinen Namen heraus zu bringen, ehe ich die größte Finishermedaille, die nun meine Sammlung bereichern wird, um den Hals gehängt und zudem mein Finishershirt überreicht bekomme. Noch besser wird es bei der Läuferversorgung im langen Auslauf hinter dem Ziel: ein kaltes Bier gibt es hier - und ein eiskaltes Handtuch, das nicht nur im mir gleich über den überhitzten Kopf stülpe.

Ich habe es nicht bereut. Singapur ist nicht nur sightseeingmäßig eine Reise wert. Tropenmarathons werden nun sicher nicht meine Leidenschaft werden. Aber den Singapur Marathon zähle ich definitiv zu den Läufen, die man als passionierter Marathoni gelaufen sein und erlebt haben sollte. Eine perfekte Veranstaltung in einer perfekten Stadt.

 

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Nicht ganz so perfekt läuft für mich der Heimweg ab. Da die Metro gegen Mitternacht den Dienst einstellt und ich den letzten Zug knapp verpasse, denke ich mir blauäugig: Dann nehme ich eben ein Taxi. Nur: Drei Stunden lang schaffe ich es nicht, eines zu bekommen. Nicht dass es keine Taxen gäbe, ganz im Gegenteil, aber alle sind „busy“ oder „on Call“. Und da ich, anders als viele tausend schlaue Finisher, kein Smartphone dabei habe, kann ich mir auch keines online bestellen. Meine Konsequenz: Ich gehe zu Fuß. Glück im Unglück: Das macht Spaß. Singapur nachts um drei zu erleben, hat seinen ganz eigenen Reiz, zumal die Stadt belebter ist als erwartet. Als ich sehe, dass in der Chinatown sogar noch Lokale geöffnet haben, zögere ich nicht lange und gönne mir um 4 Uhr morgens ein leckeres After Marathon-Mahl. Das hat was. So wird mir auch dies als weitere Anekdote meines Abenteuers „Singapur Marathon“ in Erinnerung bleiben.

 


 
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