Linz an der Donau (Oberösterreich), Freitag, 7. November 2008, Hauptbahnhof: um 22.46 Uhr steigen wir in den Nachtzug nach Venezia. Wir gönnen uns den Luxus des Liegewagens und kommen putzmunter in Mestre an. Rein in die nächste Bar und runter mit dem ersten caffe’: oh göttliches Getränk, Italia du hast uns wieder. Nach Firenze, Pisa, Livorno und Padova sollte es nun mein fünfter Marathon in der Stiefelrepublik werden. Ravenna, mittelgroße Provinzhauptstadt in der Emilia-Romagna, Weltkulturerbe der Mosaikkunst stand am kommenden Sonntag auf der Warteliste.
Schnell geht es über Bologna Centrale weiter nach Ravenna, wo wir pünktlich um 12.30 Uhr dem treno regionale entsteigen. Üppiger Sonnenschein begrüßt uns, auf der Anzeigetafel 17 Grad Celsius – perfetto. Nach einer kurzen Orientierung mit dem Stadtplan wird der Autobus Numero 1 schnell gefunden. 10 Busminuten später erreichen wir unser vorbestelltes B & B. Paola und Albano warten schon neugierig auf die beiden Austriaci. Großes Hallo, ich packe mein bestes Italienisch aus (glaube ich zumindest), Hündchen Jenny macht Radau ob der Ankömmlinge. Zimmerbezug und wir machen uns auf zur Startnummernausgabe. Ach ja, wir das sind: Johann, Jahrgang 1955, Ex-Spitzenfußballer und nun Langstreckenspezialist mit unbändigem Zug nach vorne, und ich, Manfred, Jahrgang 1962, der heuer sein 20-jähriges Laufjubiläum feierte.
Der Pala de Andre, eine moderne Veranstaltungshalle ist schnell gefunden, keine 15 Gehminuten von unserer Herberge entfernt. Ohne große Formalitäten (das laut Ausschreibung angeforderte „Medizinische Zeugnis“ interessiert hier niemanden) erhalten wir Startnummer und Chip. Das versprochene T-Shirt sollten wir nach Rückgabe des Chip erhalten, wurde uns mitgeteilt. Viel war nicht los unter der riesigen Kuppel, ein einziger Verkaufsstand präsentiert etwas einsam seine occasioni. Ein Rundgang erübrigt sich somit und wir wandern kräfteschonend zurück zum B & B.
In einem Supermercato decken wir uns noch mit einigen Dingen ein und statten der Pizzeria „Valentino“ (der Besitzer ein Namensbruder meines jüngsten Sohnes) unseren Antrittsbesuch ab – es sollte nicht der einzige bleiben. Schön langsam kommt das gewisse Kribbeln und wir stellen uns auf die Ereignisse ein, die da kommen mögen. Immer wieder dasselbe Theater: Hat man ausreichend regeneriert? War der letzte Tempolauf nicht zu hart? Bla, bla, bla,…
Tagwache um 6.15 Uhr, das Frühstück schmeckt prima. A piedi geht’s wieder zum Pala de Andre, wo partenza und arrivo beisammen liegen. Unseren einheimischen und sonnenverwöhnten Mitstreitern fröstelt bei geschätzten 8 bis 10 Grad Celsius. Ja Freunde, diesen Vorteil werden wir schamlos ausnützen (– aber es sollte ein bisschen anders kommen …).
Die Minuten vor dem Start sind bekanntlich die längsten, endlich „Peng“ (pünktlich um 9.15 Uhr) und die Meute geht ab. Geschätzte 1.000, vielleicht 1.100 Starter, viele laufen mit ihren roten Startnummern den Halbmarathon. Die Straßen sind breit, kaum gegenseitige Behinderungen. Wir rollen uns ein. Nach einer kleinen Schleife vor dem Pala de Andre laufen wir entlang des Canale Candiano Corsini, ein künstlicher Meeresarm, der Ravenna mit dem Mittelmeer verbindet. Einige Lastkähne grüßen. Johann und ich peilen unseren üblichen „Vierer-Schnitt“ an, aber schon nach wenigen Kilometern merke ich instinktiv, es wird wohl nicht mein Tag.
Nach ca. sechs Kilometern biegen wir in den Parco di Teoderico ein, auf Asphaltstraßen folgen nun Kieswege. Vorbei geht’s am Mausoleum des Theoderich und wir laufen weiter auf der Via Roma Richtung Centro Storico. Noch lacht die Sonne vom Himmel und verwöhnt uns mit angenehmen Lauftemperaturen. Im Zickzackkurs wird das historische Zentrum Ravenna’s erobert. Monumentale Bauten wie der Palazzo di Teoderico, das Battistero degli Ariani oder die Basilica di San Vitale weisen uns den Weg. Die Piazza del Populo wird überquert. Die Unebenheiten des Pflasters verlangen jedoch den konzentrierten Blick in Laufrichtung, Sightseeing ist nur bedingt möglich.
Alles ist wunderbar markiert und mit Absperrungen versehen. Keine unachtsamen Fußgänger stören unseren Bewegungsdrang. Geklatsch wird allerdings selten, in Italien regiert eben der Calcio. Nach anstrengendem Kopfsteinpflaster verlassen wir nach circa 15 Kilometern die City. Noch stimmt unsere Marschtabelle und wir halten unseren Kilometerschnitt, aber meine Bedenken werden größer. Es geht durch Wohnbezirke und in der Ferne kann man bereits die Kuppel des Pala de Andre erkennen. Bei jedem Verpflegungsstand trinken wir brav unser acqua. Überraschenderweise nicht im üblichen Halblitergebinde, sondern im kleinen Plastikbecher – wohl eine erste, zarte Reaktion auf das hohe Müllaufkommen in Italien, dem höchsten in der ganzen EU.
Wolken ziehen auf und die Kraft der Sonne lässt spürbar nach. Das Feld lichtet sich zusehends, als uns nun die Halbmarathonläufer Richtung arrivo verlassen. See you later, aligator! Die Marke bei Kilometer 21,1 wird von uns noch mit 1 23 durchlaufen. Passt noch. Jetzt geht es Richtung Mare Adriatico über Punta Marina nach Marina di Ravenna, sozusagen zu den Hausstränden der Stadt. Laut Streckenplan warten jetzt kilometerlange, schnurgerade Abschnitte auf uns. Das kann zäh werden, hier ist auch Kopfarbeit gefragt.
Wir sind eine kleine, aber feine Gruppe, bestehend aus 2 Italienern und 2 Österreichern. Mein italienischer Nebenmann hat eine 2:39er Zeit stehen, wie er mir verrät – ups! Die Sonne ist nun endgültig weg und schön langsam tauchen wir in den Nebel ein, der beständig vom Meer herauf kriecht. Mir wird kalt. Kilometer 26 und Punta Marina ist erreicht. Links und rechts Pinienwälder. Ferienhäuser. Kein Meerblick. Zuschauer sind Mangelware. Eine alte Vespa knattert neben uns. Ich ordne meine Gedanken und möchte zumindest bis Kilometer 30 in der Gruppe mithalten - hoffentlich.
Auf der Gegengeraden taucht die dunkelhäutige Spitzengruppe auf und zischt an uns vorbei. Schwarzafrika lässt grüßen. Ich muss bereits mit meinen Kräften sparen und kann das Tempo meiner Mitstreiter nur mühsam halten. Irgendwie sind die Kerle auch schneller geworden. Johann macht noch einen lockeren Eindruck, der freut sich immer auf das letzte Drittel. Kilometer 30 wird noch knapp unter 2 Stunden gemeistert. Kurz vor dem Wendepunkt bei Kilometer 31 in Marina di Ravenna muss ich dann abreißen lassen. Ich wünsche der geschrumpften Gruppe noch alles Gute, in bocca al lupo, bevor sie mich im Nebel zurücklassen und ich als Einzelkämpfer weitermache. Jeder stirbt für sich allein.
In Marina di Ravenna wird ein Gebäude durchlaufen, ein Leuchtturm oder so. Ein kurzer Blick auf den Bootshafen. Nebelig - trüb. Jetzt zurück in die Stadt, knappe 10 Kilometer. An den Verpflegungsständen wird Tee angeboten, leider schon etwas erkaltet. Alles ist wunderbar abgesperrt, keine störenden Autos oder unbedarfte Fußgänger. Man nimmt Rücksicht auf die Läuferschar. Um mich abzulenken, gehe ich das weitere Programm durch: Besichtigungen in Ravenna, Ausflug nach Rimini und San Marino, Rückfahrt über Venezia, Kleinigkeiten für die Kids kaufen (und die liebe Ehefrau).
Meine Schritte sind schon irgendwie kraftloser, ein ständiger Blick auf die Uhr, schlechtes Zeichen. Aber positiv denken. Die ersten Hochrechnungen beginnen, was wäre, wenn … Ich danke dem Veranstalter, dass er die gelaufenen Kilometer mit großen, gelben Tafeln markiert hat. Sie leuchten schon in der Ferne. Noch immer schnurgerade. Die Gegend, soweit erkennbar, eher langweilig, viel Landwirtschaft, Feldbau, kaum Häuser, geschweige denn Zuschauer. Aber solche Dinge interessieren jetzt nur mehr am Rande, ich horche in mich hinein. Geht noch was?
Eine kleine Schrecksekunde zwischen Kilometer 37 und 38: ich laufe einsam auf einem Radweg, unter einer Brücke hindurch, bin ich hier noch richtig oder habe ich eine Abzweigung verpasst? Ich erkenne ein rotes Trikot einige hundert Meter vor mir und atme wieder durch. Ich muss meine Arme kreisen, kalter Wind, aus dem Nebel nieselt es leicht. Von wegen Vorteil gegenüber den Einheimischen! Schwerer Taktikfehler. Der letzte Kilometer ging noch mit knapp 4:25. Wenn ich jetzt locker ins Ziel jogge, habe ich noch immer eine Zwei vorne stehen. Ich bin einigermaßen beruhigt. Den Mann mit dem berühmten Hammer interessiert mich überhaupt nicht. Kilometer 40 wird erreicht.
Hinter mir höre ich ein Motorrad brummen und einige Brava, Brava - Rufe. Die erste Dame – schluck. Sie zieht mit ihren beiden männlichen Pacemakern achtlos an mir vorbei, lässt mich links liegen. Ich möchte ihr ungestümes Tempo halten - niente. Nach gut hundert Metern ist Schluss und die hübsche, zierliche Person entschwindet – jammerschade, wär’ noch ein toller Windschatten gewesen! Doch da - aus dem nebeligen Nichts wächst die Kuppel des Sportpalastes Pala de Andre empor, die Stones spielen auf – zumindest aus dem Lautsprecher. Irgendjemand brüllt den Namen meines Vereins, der auf dem Laufdress steht. Ich winke. Eine kleine Fangemeinde aus dem Burgenland hat sich eingefunden, wie sich später herausstellte.
L’ultimo chilometro wird angezeigt. Dankeschön, grazie mille. Noch 400, 500 Meter und ich biege auf die Zielgerade ein, suche meine letzten Kraftreserven. Zwei jugendliche Tempobolzer sprinten ohne Anstand an mir vorbei – ich lass’ sie ziehen, habe keinen Ehrgeiz mehr. Blauer Teppich, die verfrorenen Arme kurz hoch (fürs Zielfoto) und über die letzte Matte: 2:54:14, Medaille um den Hals – es ist wieder mal vollbracht.
Laufkollege Johann wartet schon einige Minuten geduldig. Er konnte – wie immer – seinen „Vierer-Schnitt“ konstant bis ins Ziel halten. Der Kerl ist nicht zu biegen. Mir geht’s gar nicht gut, muss sofort die Toilette strapazieren, meine (fast schon) traditionellen Magenkrämpfe. Erholung in der Sporthalle, allerlei Trink- und Essbares wird angeboten. Wir liefern unsere Chips ab und bekommen zu unserem großen Erstaunen einen prall gefüllten Sack mit T-Shirt und Produkten der Region (Fruchtsäfte, Konserven, Brot etc.). Da wir in unseren Altersklassen vorne platziert sind, bekommen wir einen weiteren Sack als Prämie. Johann gewinnt überdies seine Altersklasse, ein Keramikpräsent soll er per posta erhalten. Die Duschen sind angenehm warm, schön langsam geht’s mir besser und ich bin schon wieder zum Scherzen aufgelegt. Dankbare Zufriedenheit macht sich breit.
Die inoffizielle Ergebnisliste hängt bereits aus, die Siegerzeit um die 2:22 – war wohl auch nicht ganz der Tag der Kenianer …
Resümee: ein perfekt organisierter Marathon/Halbmarathon, Kopfsteinpflaster in der Altstadt, lange, etwas eintönige Streckenabschnitte Richtung Meer, leider kalter Nebel, traditionell wenige Zuschauer, prall gefüllte Verpflegungssäcke nach der Chipabgabe, T-Shirt, Medaille.