Nicht weit entfernt von der Mündung des großen Flusses Po in die Adria liegt die 150 000 Einwohner zählende Stadt Ferrara, gegründet nicht von den Römern, sondern erst im 8. Jahrhundert nach Christus durch Bewohner des Po-Deltas. Hier entwickelte sich in der Folge ein wichtiges Zentrum der Landwirtschaft. Seit 1995 trägt die gut erhaltene Renaissance- Altstadt das Siegel des Unesco-Weltkulturerbes.
Ferrara ist gut per PKW und Zug zu erreichen. Auch mehrere internationale Flughäfen liegen weniger als 100 km entfernt. Judith und ich sind von München aus per Auto angereist. Eigentlich wollte ich eine Woche Strandurlaub mit zwei Marathonteilnahmen verbinden. Leider machte mir ein Sturz bei einem Trailrun einen Strich durch die Rechnung: Der zweite Ausrutscher während eines Laufs in 17 Jahren und dann gleich die Speiche gebrochen. Eine Woche nach der OP konnte ich schon wieder ein kleines Läufchen wagen. Nur das Autofahren ging noch nicht. Vier Wochen nach dem Sturz dann der erste Marathon in Karlsruhe, leider ohne Fotoapparat, und am Wochenende danach dann Italien. Letztendlich ist ein Armbruch für einen Läufer das geringere Übel und scheint auch nicht immer so dramatisch auszugehen, wie das Studium der furchtbaren Erfahrungsberichte im Netz erwarten lässt.
Der Ferrara-Marathon wird 2018 zum 38. Mal veranstaltet und hieß bis 1999 Vigarano-Marathon, nach einer Stadt, die damals durchlaufen wurde. Informationen des Veranstalters zufolge gab es sogar schon 1909 einen Marathon in Ferrara. Dieses Jahr findet der Lauf erstmals im Herbst statt und hätte daher auch wunderbar mit dem Alzheimer-Marathon in Cesenatico und dem Mugello- Marathon kombiniert werden können.
Kurzentschlossen ergattere ich noch ein bezahlbares Zimmer im B&B-Hotel südlich der Altstadt. Ins Zentrum wollen wir uns zu Fuß begeben. Der Hotelier meint, wir als Marathonis würden die 2,5 km locker in zehn Minuten zurücklegen. Nach einer halben Stunde stehen wir dann in den quirligen Straßen der Altstadt. Ferrara hat italienweit den Ruf einer Fahrrad-Hochburg. Anders als bei uns zu Hause wird hier aber gemütlich geradelt, gerne auch nebeneinander, sich unterhaltend und natürlich auch durch die schmalsten Einkaufsstraßen, mit wenigen Millimetern Abstand zur Bruchstelle an meinem Arm. Daran muss man sich auch erst einmal gewöhnen. Der südliche Teil der Altstadt ist nahezu komplett mittelalterlichen Ursprungs. Mir gefallen die Gässchen sehr gut. Die Renaissance-Viertel befinden sich im Norden und wirken mit ihren großen Palazzi eher etwas kühl.
Im Zentrum liegt das Castello Estense, das im 14. und 15. Jahrhundert den Herzögen der Familie Este als Stammsitz diente. Das Schloss ist von einem Wassergraben umgeben. Die Startunterlagen bekommen wir in den Kellergewölben. Das Gesundheitszeugnis konnte schon bei der Anmeldung hochgeladen werden. Läufer aus dem Ausland, die keine Starterlaubnis eines Leichtathletikverbandes vorlegen können, erhalten kostenlos die Runcard, die ein Jahr gilt. Noch ein Tipp: Es gibt ein neues Gesundheitsformular, welches die notwendigen Untersuchungen aufführt und eine Referenz auf das zugrundeliegende Gesetz. Das einfacher gehaltene Formular der großen italienischen Marathons wird nicht überall von den Verantwortlichen des Verbands FIDAL anerkannt.
Das Starterpaket ist so reich bestückt wie fast nirgendwo: ein Laufhemd, eine Packung Nudeln, Bio-Marmelade, Zwiebelpaste, eine Konservendose mit Bohnen und noch ein paar Pröbchen. Die Marathonmesse liegt neben der Kathedrale und ist gerade wegen der Kinderläufe, die hier vorbeiführen, schwer zu erreichen. Die Kathedrale, ein romanisch-gotischer Bau, ist das wichtigste mittelalterliche Baudenkmal in Ferrara, aber leider zurzeit eingerüstet.
Den Nachmittag verbringen wir mit Sightseeing und besuchen den Palazzo dei Diamanti, also Diamantenpalast, der seinen Namen aufgrund der weißen Quader an den Außenwänden erhielt, die wie Diamanten zugeschnitten sind. Abends geht’s zur privaten Pastaparty, bestehend aus den Ferrareser Cappelletti, mit Kürbispaste gefüllten Cappellacci. Die ravioli-ähnlichen Teigwaren werden mit vielen unterschiedlichen Soßen serviert. Ich probiere die Sahne-Nuss-Brandy-Soße, während Judith es bei Bolognese belässt.
Am Sonntagmorgen geht es mit dem Auto zum Palazzo Diamante. In der benachbarten Sporthalle kann man nach dem Lauf duschen. Die Taschenabgabe liegt in einem Laubengang etwas entfernt vom Start, alles gut ausgeschildert. Vor der Abgabe stehen vier Biertische. Dahinter sind die Startnummernbereiche ausgewiesen.
In der Warteschlange am WC-Häuschen habe ich Zeit, über die Geschichte des Castello Estense nachzudenken, dessen Untergeschoss als Kerker diente: Giulio d`Este war dort unglaubliche 53 Jahre lang eingesperrt, immerhin mit etwas Tageslicht. Nach seiner Freilassung im Alter von 81 Jahren erregte er einiges Aufsehen, weil seine Kleidung noch der Mode aus seiner Jugendzeit entsprach und inzwischen sehr antiquiert wirkte. Das jugendliche Liebespaar Ugo und Parisina, unehelicher Sohn und zweite Ehefrau des Fürsten Niccolo, wurde auf zwei kleinere engere Verliese verteilt und später hingerichtet. Die übrige Herrscherfamilie feierte sich derweil mit großen Banketten, bis ihr Herzogtum mangels männlichem Nachfolger an den Kirchenstaat fiel und sie die Gegend verlassen musste. Die große Kunstsammlung wurde in alle Winde zerstreut. Und so sieht man bei der Besichtigung des Schlosses meist leere Räume. Nur einige Fresken sind noch vorhanden.
Los geht‘s durch die sehr breite Viale Cavour. Einige monumentale Gebäude sind zu sehen, so das hiesige Postamt. Zuschauer gibt es auch einige. Ein weißhaariger Autofahrer trägt gerade einen hitzigen Disput mit einem Polizisten aus. Eigentlich unnötig, denn bei km 0,5 ist die Strecke doch gleich wieder frei.
Der Verlauf hat sich seit unserer ersten Teilnahme im Jahr 2012 leicht verändert: Es geht nun in die entgegengesetzte Richtung. Das bedeutet, dass wir zunächst an der Stadtmauer entlang die südliche Seite ablaufen. Hier liegt auch der Canale di Burana. Ein alter Flussarm des Po, der immer noch schiffbar ist, wie einige Ausflugsdampfer anzeigen. Auch ein Ruderboot ist zu sehen. Im Westen der Altstadt gibt es wohl einen Verbindungskanal zum Po, der auch durch ein großes Industriegebiet führt. An der Porta Reno warten viele Radfahrer auf die Weiterfahrt ins Zentrum. Hier befinden sich auch die letzten großen Zuschauermassen.
Bei Kilometer fünf verlassen wir mit den Halbmarathonis und den 30-km-Läufern die Stadtbefestigung und freuen uns auf eine Schleife nach Osten. Genau hier werden wir in 35 Kilometern zum Zielsprint ansetzen.
Über komplett gesperrte Sträßchen geht es in die Dörfer Focomorto und dann Pontegradella. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir hier vor sechs Jahren unter blühenden Kirschbäumen unterwegs waren. Spannend, wie lange manche Bilder im Kopf bleiben, immerhin liegen mehr als 100 Marathonteilnahmen dazwischen.
Sarah läuft den Halbmarathon mit Lorbeerkranz, sie feiert damit den erfolgreichen Abschluss an der Uni. Ich bin mit bayerischer Fahne unterwegs, quasi eine Hommage an das derzeit stattfindende Oktoberfest. Die EU-Fahne habe ich mal daheim gelassen, man liest ja, dass die Italiener den Euro abschaffen wollen und dass der britische Außenminister die EU, die er selber mitgestaltet, mit der Sowjetunion vergleicht. Dann also doch lieber Oktoberfest: Dieses mittlere Festwochenende ist immer in italienischer Hand und wird deshalb bei uns Italiener-Wochenende genannt. Nur hier scheinen die meisten nichts davon zu wissen, dass sie eigentlich mit ihrem Camper in Monaco di Baviera sein müssten, wie viele ihrer Landsleute. Ein Mitläufer erklärt mir immerhin, dass die Studenten meist dieses Wochenende für den Wiesnbesuch wählen, weil es das letzte vor dem Semesterbeginn ist.
Judith rast dahin, schafft es zu einer 13 km/h Anzeige bei der Geschwindigkeitsmessung. Einige Zuschauer in Pontegradella, großes Abküssen vor mir, ich gehe leer aus.
So bei km 15 steht eine Anlage mit dem Namen Cattle Wash, riesiggroß. Kühe sehe ich keine. Denn anders als der Name vermuten lässt, sollen hier Autos gereinigt werden. Dann eine ebenso riesige Tankstelle, hier werden wir nachher unsere Benzinvorräte auffüllen. 5 Cent günstiger als anderswo. Und dann ein Einkaufszentrum im Stil einer Stadtmauer. Die Geschäftsinhaber fiebern sicher schon dem Ende der Laufveranstaltung entgegen. Sonntags ist natürlich geöffnet, obwohl aktuell politische Bestrebungen im Gange sind, dieser Freizügigkeit ein Ende zu bereiten.
Trennung von den Halbmarathonis bei km 17,5. Jetzt geht es 10 km über die Felder, im Moment erst mal auf schattiger Allee. Links eine lange Schlange wartender Autos, aber relativ wenig Gehupe. Wenn doch, gratulieren die Mitläufer spaßeshalber zur Hochzeit. Erst nach zwei Kilometern das erste deutsche Auto: Der Camper aus Mannheim wird hier noch eine Weile herumstehen müssen. Die 30er biegen ab, es wird ruhiger. Aus der Gauditruppe, die uns eine Weile begleitet hat, nimmt nur einer den ganzen Marathon in Angriff. Jetzt ist also wieder meine Stunde der spaßigen Bemerkungen gekommen. Aber erst mal etwas trinken. Alle fünf Kilometer gibt es Verpflegungsstellen mit Iso, Wasser, auch in Fläschchen, Bananen, Orangen, Keksen, Zucker. Dazwischen Wasser für die Schwämme, die in der Startertüte waren.
Die Umgebung ist abwechslungsreich, viele Villen und dazwischen Bauernhöfe. Vor einem steht eine Bäuerin, womöglich dieselbe wie vor sechs Jahren. An dem Sträßchen Alleebäume, meist Platanen mit ihrem unverwechselbaren Geruch. Die abgefallenen Blätter knirschen wie hartes Papier. Ich versuche die Ideallinie zu laufen. Die Felder sind riesig und frisch gepflügt. Sieht aus wie ein großer Sandkasten – unendlich weit. Und es ist wirklich flach in der Po-Ebene. Man glaubt fast, die Läufer bis ins Ziel sehen zu können. Ganz in der Ferne kann man den großen Damm erkennen. Bei Kilometer 26 sind wir in Francolino. Zuschauer, Musikgruppe, Goaßlschnalzer – Fehlanzeige. Wahrscheinlich stehen alle im Stau auf dem Weg zum Einkaufszentrum. Sferzino könnte Goaßlschnalzen auf Italienisch heißen, wenigstens meint das Davide, ein italienischstämmiger Südtiroler Läufer.
Am Rande des Dorfes kann man ihn nun erkennen, den großen Damm am Po. Hier erwartet uns die einzige Steigung, nach meiner Schätzung von 1 m auf knapp 8 m Höhe.
Auf dem Damm laufen wir flussaufwärts. Ich bin glücklich: Seit den Don-Camillo-Filmen meiner Kindheitstage freue ich mich immer wieder auf diesen Fluss. Auch wenn der Drehort 100 km weiter Po-aufwärts liegt, sind die Wetterverhältnisse hier nicht anders: im Winter neblig und kalt und im Sommer eben sehr heiß. Und wie man aus den Büchern von Giovannino Guareschi weiß, können solche Bedingungen bei den Bewohnern schon mal zu einem gewissen Starrsinn führen und zu überraschenden Wahlergebnissen. Am Po werden Pappeln angepflanzt, und zwar im rechtwinkligen Muster. Diese Bäume wachsen sehr schnell und gerade und werden daher in Oberitalien gerne angebaut. Groß sehen die Bäume aus. Muss ich mal mit den Fotos von vor sechs Jahren vergleichen. An der nächsten Wegbiegung kommt uns sicher Don Camillo auf seinem Fahrrad entgegen, linker Hand liegt ein Kirchlein, das ideal dazu passen würde.
Wahrscheinlich ist mir doch schon zu heiß? Hier oben auf dem Damm zermürbt die Sonne einem das Hirn. Einfach die Ausblicke auf den Strom genießen. Positionskämpfe, eine schon lange abgehängt geglaubte Läuferin aus Hongkong zieht an Judith vorbei. Und es passiert, was ich befürchtet habe: Judith hängt sich dran. Ich beobachte die große Eisenbahnbrücke. Oft fahren Hochgeschwindigkeitszüge vom Typ Freccia Rossa darüber, vorzugsweise dann, wenn ein Baum den Blick verstellt. Die nahe Straßenbrücke ist gesperrt, wahrscheinlich marode. Gibt es ja am Rhein auch, nur dass man hier für die Nutzung der Autobahnbrücke 60 Cent bezahlt.
Im Fluss verläuft die Grenze zwischen der Emilia-Romagna (da sind wir) und Venetien. Ein Stück weiter gibt es sogar ein Dreiländereck. Da beginnt ein Zipfelchen der Lombardei. Alle drei sind sehr reiche Regionen Italiens. Wir erreichen Pontelagoscuro (Brücke über den dunklen See). Helfer weisen der inzwischen recht losen Perlenkette aus einzelnen Sportlern den Weg. Eine lange Straße gesäumt von Häusern, kein Lebenszeichen. Vielleicht halten die Bewohner gerade einen Mittagsschlaf. Einige Ordner sorgen für Stimmung, feiern jeden Läufer. Unter der Bahn durch, km 35. Wir sind wieder in Ferrara. Judith und ich haben die asiatische Läuferin wieder eingeholt.
Judith zieht vorbei und ich verschlafe an der Verpflegungsstelle den Anschluss. Es geht in den Stadtpark Giorgio Bassani, benannt nach dem Autor des auch in Deutschland bekannten Ferrara-Romans „Die Gärten der Finzi-Contini“. Der einzige Kilometer auf Schotterwegen und mit einigen Kurven, gut von Flatterbändern markiert. Später werde ich behaupten, dass man, wäre man am Rande des Parks gelaufen, sich einige hundert Meter hätte sparen können. Aber Vorsicht: Es gibt mehrere Zeitmessungen - schön in der Ergebnisliste aufgeführt auch die jeweilige Rangfolge an der Zeitmessung - und zusätzlich einige Kontrollstellen, an denen die Nummern erfasst werden.
Dann sind wir schon wieder auf einer breiten Straße, Polizisten lotsen uns durch einen Kreisverkehr. Schnurgerade geht es auf der Via Caldirolo dahin. Ich bin so was von fertig. Nicht stehen bleiben, einfach weiter. In der Sonne liegt die gut erhaltene Stadtmauer aus dem 17. Jahrhundert, neun Kilometer ist sie lang. Endlich die Porta Mare, aber es geht daran vorbei. Die Stadt besitzt zwei Tore Richtung Osten. Letzter VP, Cola. Spannende Zweikämpfe kann man hier erleben. Ich überhole mehre Läufer, werde aber auch von unheimlich schnellen Damen deklassiert. Wer weiß, wo Judith jetzt ist?
Dann kommt der Piazzale Medaglie d’Oro, Goldmedallienplatz. Das ist doch mal ein Name. Durch ein kunstvolles Tor geht es ins Zentrum. Noch 1,5 km. Der Corso della Giovecca ist gesäumt von Universitätsgebäuden. Einige medaillendekorierte Läufer feuern mich an. Vor uns ein Banner über der Straße, das Castello sieht man noch nicht. Hinter mir höre ich Schritte, gebe noch mal Gas und schwenke nach links auf die letzten 100 Meter. Viel Stimmung beim Zieleinlauf auf dem roten Teppich. 4:25:00. Vor sechs Jahren war ich noch 26 Minuten schneller. Judith hat mir auf den letzten Kilometern 3,5 Minuten abgenommen. Selbst habe ich seit der Zeitmessung bei km 30 mehr als 20 Positionen gut gemacht. Die beiden Läufer vor mir und mein Verfolger sind netto mehr als eine Minute hinter mir. Also alles perfekt. Bis auf den Kasten Bier an der Zielverpflegung, der, so wird mir erklärt, nur für die Standbetreuung bereitsteht, die hier seit Stunden wertvolle Dienste leistet.
Tasche abholen und dann zur Turnhalle. Die doccia calda (warme Dusche) ist bestenfalls lauwarm, was mich in der Annahme bestärkt, dass das italienische caldo doch was mit cold oder kalt zu tun hat. Danach noch zur Pastaparty gegenüber, der Gutschein war in der Startertüte.
Insgesamt ein wunderschöner Sommertag. Was will man mehr.
Finisher Marathon: 445
Finisher 30 k: 482
Finischer Halbmarathon: 1021
Schöne Strecke, fast keine Steigungen, gute Verpflegung, Preis-/Leistung sehr gut, wenige Zuschauer, keine Musikkapellen, Busverbindung zum Flughafen Bologna, Rimini, Venedig, gute Bahnanbindung