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Laufberichte

Gut hääm kumme

 

"Du mußt nach Bockenheim fahren, da ist es klasse!" höre ich von wohlmeinenden Mitmenschen. Klar, kein Problem, Bockenheim im Westend ist nett und mir als ehemaligem Frankfurter wohlvertraut. Insbesondere die Bockenheimer Warte ist ein echter Hingucker, kaum weniger der spektakuläre U-Bahn-Eingang an der Senckenberganlage. Aber dort ein Marathon? Falsch verortet, werde ich berichtigt. „Bockrem“, also Bockenheim an der Deutschen Weinstraße, soll das Ziel sein. Da war ich allerdings noch nicht, und die Pfalz ist zudem echt toll. Also nix wie hin.

Auf der Hinfahrt über den Hunsbuckel in heftigem Schneetreiben frage ich mich allerdings ernsthaft, ob es wirklich in eine der wärmsten Ecken Deutschlands geht. Zwar bin ich auf lange Klamotten eingestellt, aber Schnee bei gerade mal wenig über null Grad entspricht so nicht gar nicht meiner Vorstellung. Auf dem empfohlenen P&R-Parkplatz an der Metro aussteigend schockt mich die lange Schlange der auf den Bus Wartenden. Jetzt fängt's auch noch zu regnen an, es ist ein Graus. In meinem Rucksack finde ich glücklicherweise einen Schirm. Mir ist wirklich nichts zu peinlich, den neidischen Blicken halte ich tapfer stand. Die Wartezeit hält sich dann doch in Grenzen, allerdings fährt der Bus dank bereits für den Verkehr gesperrter Straßen gefühlt von hinten durch die Brust ins Auge.

Am Epizentrum angelangt, erwartet mich ein riesiges Festzelt, in dem die Hauptaktivitäten des Wochenendes stattfinden bzw. bereits stattgefunden haben. Wäre ich bereits gestern angereist (nicht nötig bei einer Entfernung von lediglich 160 km), hätte man mich sogar mit einer im Startgeld inkludierten Pastaparty beglückt. Nebenan ist das Zelt für die Startnummernaus- und Klamottenabgabe, beides ist blitzartig geschehen.

 

 

Ab ins Freie, es pieselt gerade mal nicht. Der Blick nach oben verspricht allerdings nichts Gutes, dafür der nach vorne: Da markiert das riesige Gebäude des Hauses der Deutschen Weinstraße den Start und Zielbereich im 2.200-Einwohner-Dorf (Waldbreitbacher Kragenweite also). Es bildet seit 1995 das Ende der Deutschen Weinstraße. Sein Gegenstück am 85 km entfernten Beginn der Weinstraße ist bereits seit 1936 das Deutsche Weintor in Schweigen. So weit müssen wir heute allerdings nicht laufen, 42,195 km sind doch lang genug.

Unter dem Brückenrestaurant sind die ersten Meter zurückzulegen. Pieps, die Zeit läuft. Die mir heute noch mehr als sonst schnuppe ist, denn aus Mallorca habe ich mir trotz Dreifachimpfung die allgegenwärtige „Pest“ mitgebracht und bin nach zwei Wochen des Durchhängens gerade erst wieder genesen. Eine Herzmuskelentzündung ist das Letzte, das ich brauche, daher ist besondere Zurückhaltung angesagt. Seit dem Halbmarathon in Palma in für mich ordentlichen 1:51 Std. (zur Einordnung: Der ebenfalls dort gestartete Kollege Anton Lautner, ebenfalls in der M60, [„Wolfgang, i kack ab!“] war bereits nach 1:37 Std. fertig) konnte ich kaum etwas machen. Allerdings waren zwei vorsichtige Testläufe völlig unauffällig gewesen, daher traue ich mich zu starten.

 

 

Das Dorf ist langgestreckt, die Stimmung gut, das markante Kriegerdenkmal vor der Pfarrkirche macht mir die Katastrophe in der Ukraine noch bewusster. Wie gut geht es uns doch, die wir hier unbeschwert laufen können! „Kummen gut hääm!“ steht auf dem über die Straße gespannten Banner, und genau das ist es, was ich mir für heute erhoffe. Verdrießlich stimmt der wieder einsetzende Regen, der aber glücklicherweise bald wieder aufhört, kaum dass ich Bockenheim hinter mir gelassen habe.

Auf dem Weg nach Grünstadt über die wie alle anderen komplett gesperrte Straße grüßen links und rechts ausgedehnte, vergleichsweise flache Weinfelder, noch völlig ohne Grün. Das ist so ein ganz anderer Anblick als ich ihn von den Steillagen der heimischen Flüsse Rhein, Mosel und Ahr gewohnt bin. Leicht wellig ist der Parcours, bis nach vier km erst Asselheim, dann Grünstadt erreicht wird. Rechterhand fällt die historische Turnhalle auf, die Turnvater Jahn noch persönlich hätte eingeweiht haben können. Trotz des wenig einladenden Wetters säumen nicht wenige gut aufgelegte Zuschauer die Straßen und feuern uns an. Lange haben sie (wie natürlich wir Läufer auch) darauf warten müssen. Sowieso findet der Lauf nur alle zwei Jahre statt, zudem ist er 2020 aus sattsam bekannten Gründen ausgefallen. Nach fünf km und etlichen Höhenmetern sind erst 31 Minuten vergangen. Langsam, Wolfgang, Zurückhaltung ist die erste Bürgerpflicht.

Frühlings- und österlich hübsch geschmückt ist die Fußgängerzone, auch bietet sie die erste von 11 (!) Verpflegungsstellen, zusätzlich gibt es noch einige Male Wasser. Verdursten oder verhungern braucht hier keiner, die Ersten greifen bereits beim Vino zu. Respekt! Am historischen Rathaus vorbei treffe ich den ersten von heute vielen freundlichen Polizisten. „Von Deiner Sorte habe ich drei zuhause“, teile ich ihm ungefragt mit. Seine Reaktion auf dem Foto bedarf keiner Kommentierung.

Die ultimative, bei mir selbstverständlich zutreffende Anfeuerung steht auf dem nächsten der zahlreichen Fanplakate: „Niemand läuft so schön wie Du!“ Das geht doch runter wie Öl. Etwas runter für alle geht es bei der Unterquerung der Autobahn am Ortsende von Grünstadt. Dahinter öffnet sich die Landschaft, großflächige, überwiegend Weinfelder grüßen rechts und links unserer Laufstrecke über einen befestigten Wirtschaftsweg.

 

 

Weit geht der Blick in die Landschaft nach allen Seiten. Nach gut achteinhalb km kommt für mich der Punkt, an dem ich mich im Falle akuten Unwohlseins auf die Halbmarathonstrecke hätte retten können, denn hier teilt sich das Feld. Doch ich spüre erfreulicherweise keinerlei Behinderung, daher biege ich tapfer nach rechts anstatt links ab. Die Trennung von den Halbmarathonern ist allerdings von nur kurzer Dauer, denn für einige weitere hundert Meter vereinigen sich beide Streckenführungen noch einmal.

Im kurz hinter der Marathonweiche liegenden Kleinkarlbach beglückt uns wie überall um unser leibliches Wohl freundlich bemühtes Unterstützungspersonal. Am Ortsausgang verlassen uns die Halblinge dann endgültig. Glücklicherweise wird es nicht sofort einsam, denn immerhin wird die Ergebnisliste 558 erfolgreiche Marathoner plus 149 Zweierstaffeln ausweisen, die von 1.325 Halbmarathonern ergänzt werden. Was sich schön liest, ist es im Vergleich dann leider doch nicht, denn jeder Dritte hat seine Startnummer gar nicht abgeholt. Die Gründe mögen vielschichtig sein, das unschöne Wetter lasse ich trotzdem nicht gelten. Auf jeden Fall ist das ein herber Rückschlag für die rührigen Veranstalter.

 

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Greppis Bildgalerie

 

 

 

Bobenheim am Berg lautet das nächste Ziel, das wir wieder auf einer Landstraße ansteuern, denn es geht, für den einen oder anderen durchaus knackig, stramm bergauf. Wie so häufig lohnt der Blick zurück, zahlreiche Leidensgenossen marschieren. Aufmerksamkeit erregen zwei offensichtlich Erregte, die sich abseits der Laufstrecke zur Freude der mitlaufenden Konkurrenz leidenschaftlich küssen. Vielleicht aber haben sie sich auch nur gegenseitig Mund-zu-Mund-Beatmung gegönnt, an dieser Steigung wäre es verständlich gewesen.

Zwei km weiter betreten wir Weisenheimer Gebiet, Weisenheim am Berg, versteht sich! Wenn es nicht so frisch wäre, könnte man sich über das Nebeneinander von Schneeresten und der explodierenden Vegetation nur freuen. Aber der Anblick der Kirschblüten und weiterer zahlreicher Frühjahrsblüher erwärmt zumindest die Seele. Am VP lockt schon wieder der Pfälzer Wein, den man gerne verkosten darf. Ja, geht denn das, alkoholisiert zu laufen? Vieleicht verbrennt man den Alkohol beim Laufen sofort wieder, ich phantasiere nicht. Jedenfalls halte ich mich zurück und mehr an den warmen, süßen Tee. Auch verpasse ich nichts, denn das Versäumte kann ich dank der im Startbeutel erhaltenen Flasche Rieslings in Ruhe daheim mit der Gattin nachholen.

Nach 14 km haben wir den für heute höchsten Punkt erreicht, was nicht bedeutet, daß es von nun an nur noch bergab ginge. Das muntere Auf und Ab wird sich bis ins Ziel fortsetzen und ich am Ende 462 Höhenmeter gemessen haben. Das bereits zur Kreisstadt Bad Dürkheim gehörende Leistadt wird durchmessen, ein Zuschauer-Hotspot, an dessen Ende der Kreisverkehr mit einer hübschen steinernen Sonne verziert ist. Der Blick ins Tal zur Linken ist atemberaubend. Wirklich schade, dass das Wetter nicht schön ist.

 

 

Nach gut 17 km ist dann mit Bad Dürkheim der südliche Punkt unserer heutigen Aufgabe erreicht. Vielen fallen bei Nennung des Namens sofort der Wurstmarkt und das Riesenfass ein. Für Letzteres waren im Nordschwarzwald 200 je 40 m hohe Tannen gefällt worden, die 1934 im traditionellen Verfahren zu eben diesem Fassverarbeitet wurden. Mit seiner Größe wurde das bis dato größte derartige Gefäß am Heidelberger Schloss um ein Vielfaches übertroffen.

Schöne, historische Gebäude säumen unseren Weg durch die Fußgängerzone, die auch den Wechselpunkt der Staffeln beinhaltet. Einen Höhepunkt für mich stellt das Gradierwerk dar. Diente es früher, wie viele seiner Artgenossen, der Salzgewinnung, wird es heute zu Kurzwecken betrieben: Die einzuatmenden Soletröpfchen sind günstig für z.B. Asthmatiker und Pollenallergiker. Hübsch ist dieses Teil, wir laufen es weitgehend ab und können es daher ganz aus der Nähe inspizieren.

Nach einer Schleife hinter dem Ortsausgang schlagen wir endgültig den Rückweg in nördliche Richtung ein. Allerdings laufen wir auf parallel verlaufenden Straßen, sodass der visuelle Eindruck eines schmalen, umgekehrten Luftballons entsteht. Die „Schnur“ sind die ersten bzw. letzten 8,7 km.

Nicht zum ersten Mal fällt mir übrigens der Raps auf, der als scheinbares Unkraut in zahlreichen Weinfeldern als offensichtlicher Wildwuchs vertreten ist. Zumindest farblich ist er ein Hingucker, wird die Winzer aber sicher nicht beglücken. Weiter geht die Reise durch Ungestein. Kurz bricht die Sonne durch und vermittelt einen flüchtigen Eindruck, wie schön es bei warmem Wetter sein könnte. Längst habe ich 25 km hinter mich gebracht und spüre erfreulicherweise keinerlei körperliche Einschränkung aufgrund der gerade überwundenen Seuche.

Kallstadt heißt der nächste Ort. War da nicht was? Ich hätte es aus Schadenfreude eigentlich gerne erlebt, wie der Ort bei einem Staatsbesuch Herrn „Tramps“ auf seine Visite dankend verzichtet hätte, denn dessen Großeltern Trump waren einst von hier aus wie viele andere Verarmte in die neue Welt aufgebrochen. Während des Durchlaufens schaue ich links und rechts, aber nirgendwo kann ich den Namen entdecken, geschweige denn einen Kallstädter „Tramp-Tauer“. Zumindest spuckt das Telefonbuch einige Familien dieses Namens entlang unserer Laufstrecke aus.

Und wieder geht es nach oben und zwingt einige in den Gehschritt. Kein Wunder, der nächste Ort, nämlich Herxheim, führt im Beinamen „am Berg“ und liegt auf der Höhe Boben- und Weisenheims am Berg, die auf dem Hinweg ob der Höhenmeter für nicht wenige atemberaubend waren.

Ah, hier steht sie, die sagenumwobene Rieslingdusche, bei deren Durchlaufen man sich am ganzen Körper mit dem geschätzten Rebensaft stimulieren kann. „Wenn schon, denn schon!“, ruft ein laufender Reporter und erntet dankbare Anerkennung des Publikums.

 

 

30 km liegen hinter mir, über Dackenheim ist doch tatsächlich weitgehend blauer Himmel zu bewundern. Der selbsternannte (?) Streckenkontrolleur am Ortsausgang auf offenkundig selbstgebautem Hochrad vor Rebenhintergrund ist mein Foto des Tages, ein sehr starkes Motiv. Kurz darauf linkerhand ein Judenfriedhof. Auch die hiesigen seinerzeitigen Mitbürger durften ihre letzte Ruhe also nur außerhalb des Ortsgebiets finden. Bei mir zuhause findet sich das gleiche Bild, jedes Jahr beim WUT kommen wir an unserem vorbei.

Eine Ständerstraße unterquerend kehren wir zurück auf die Pendelstrecke von 8,7 km, grundsätzlich Neues gibt es daher nicht berichten. Auch nicht hinsichtlich meines Zustands, was mir sehr angenehm ist. 35 km sind gepackt. Erneut unter der A 6 hindurch kommen wir durch Asselheim und bewundern zum zweiten Mal nicht nur die historische Turnhalle.

Der Himmel hat sich schon längst wieder zugezogen, es beginnt tatsächlich erneut zu tröpfeln, gleich ist es aufs Neue fies kalt. Aber das kann mich beim Anblick des 40 km-Schildes wirklich nicht mehr aus der Ruhe bringen. Zudem zeigt der nasse Untergrund, dass zumindest ich dem Hauptschauer wohl glücklich entronnen bin. Konsequenterweise herrscht nach 41 km eitel Sonnenschein, der die letzten 1,2 km versüßt.

So überquere ich nach wenig mehr als viereinhalb Stunden, mit der Sonne um die Wette strahlend, aber dennoch unter bedrohlich schwarzem Himmel, die Ziellinie am Weintor in Bockenheim und hätte durchaus noch Bock auf mehr, aber es ist nun mal Schluss für heute. Ich bin also, wie schon das Banner für mich anfangs erhoffte, „gut hääm kumme“.

Angesichts des drohenden Wolkenbruchs (der allerdings nicht kam) verkrümele ich mich schnell ins Zelt und bin froh und dankbar, in guter Verfassung durchgehalten zu haben. Es wird einem hier aber auch wirklich leicht gemacht. Ich bin froh, endlich auch an der Weinstraße meine Visitenkarte abgegeben und mir die exklusive Medaille in Traubenform erarbeitet zu haben.

Denkt daran: Der Lauf findet erst 2024, also in zwei Jahren wieder statt. Es gibt viele Gründe, dieser schönen Gegend und dem tollen Lauf eine Besuch abzustatten.

 

Strecke:

Einrundenkurs in Form eines umgekehrten, flachen Luftballons mit 8,7 km gleicher Strecke am Anfang und Ende mit 462 Höhenmetern. Zahlreiche nette Orte werden durchlaufen, attraktive Ausblicke.

 

Startgebühr:

59 €

 

Auszeichnung/Leistungen:

Im Startgeld inbegriffen ist die Pastaparty am Vortag sowie ein Starterbeutel mit einer Flaschen Riesling. Attraktive Medaille in Traubenform.

 

Zuschauer:

Zahlreiche, macht Spaß.

 

Informationen: Marathon Deutsche Weinstraße
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