Ich darf wieder einmal eine neue Marathonstrecke unter die Füße nehmen. Früh im Jahr geht meine Reise nach Marburg, in die hessische Universitätsstadt, an der Lahn gelegen. Bereits zum 26. Mal findet dort der Lahntallauf statt, der immer Anfang März vom Ultra Sport Club Marburg organisiert wird. Es werden viele Strecken angeboten. Zehn Kilometer, Halbmarathon, 30 Kilometer, Marathon und 50 Kilometer. Wie das geht? Man nehme eine Runde über vermessene zehn Kilometer, nimmt zwei Zusatzschleifen hinzu für Halbmarathon und Marathon und schon kann man die ganze Laufgemeinde von 9 bis 90 Jahre beschäftigen. Die Strecken sind nach den IAAF-Regeln vermessen und bestenlistenfähig. Na, wenn das mal kein Ansporn ist.
Ich fahre mit der Bahn nach Marburg, das geht ohne großen Stress und bequem. Meine Unterkunft finde ich in der Jugendherberge Marburg, wo sich auch einige andere Läufer eingemietet haben. Spätestens zum Frühstück lernt man sich kennen.
Heuer wird es nicht leicht. Zwar soll es nicht mehr ganz so kalt werden, aber wenn sich die Temperatur von minus 10 Grad tagsüber (als Höchstwert) nach oben arbeiten muss, kann das andauern. Wenn vielleicht noch die eisige Ostströmung entgegenhält, ja, dann braucht es noch mehr Zeit. Freitagabend mache ich von der Jugendherberge einen Verdauungsspaziergang in die sehenswerte Altstadt und hoch zum Marburger Schloss, das rund 100 Meter über der Kernstadt liegt. Die Anlage wurde im 11. Jahrhundert als Burg angelegt. Meine Besichtigung fällt wegen der Kälte und wegen dem Wind nur kurz aus. Selbst der stramme Marsch lässt mich in wenigen Minuten da oben auskühlen und schnurstracks heimkehren (Fotos im Anschluss). .
Nach einer geruhsamen Nacht, die zwei Mitläufer im Zimmer der Herberge sind keine Schnarcher, sehen wir am nächsten Morgen, dass es draußen weiß ist und dass es weiter schneit. Zwar hat die grimmige Kälte nachgelassen, aber minus sechs Grad sind es immer noch. Es wird eine frische Angelegenheit werden. Ich bin ja schon gespannt auf die Strecke, die, so vermute ich, sich im Laufe des Wettkampfes in eine entsprechende Rutschbahn verwandeln wird, denn noch nicht einmal die Straßen sind bis jetzt geräumt und gestreut. Von der Jugendherberge aus kann man das Georg-Gassmann-Stadion (Start und Ziel) in rund 20, 25 Minuten fußläufig erreichen.
Dort ist bereits alles geregelt. Bei der Startnummernausgabe bekommst du ohne Wartezeiten die Startnummer, wo auf der Rückseite ein Einmalchip zur Zeitmessung aufgeklebt ist. Oben erhältst du in der Cafeteria das zweite Frühstück zu besten Preisen. Günstig ist auch das Startgeld, das von sieben EUR für den Zehn-Kilometer-Lauf bis hin zu 27 EUR bei den 50 Kilometern reicht. Nachmeldungen sind bis kurz vor dem Lauf gegen drei EUR zusätzlich möglich. Dafür erhalten alle Medaillen und Urkunden (im Internet), die Schnellsten werden mit Pokalen ausgezeichnet.
Der Start befindet sich rund 600 Meter entfernt an den Lahnwiesen (in der Nähe des Südbahnhofs Marburg). Der Weg dorthin ist ausgeschildert und nicht zu verfehlen. Zwar kann man die Kleidung in den Umkleiden im Stadion hinterlegen, diese werden aber nicht bewacht. Es steht aber im Start- und Zielbereich auch ein Zelt, wo die Sachen aufbewahrt werden können. Recht spät komme ich mit der Masse der Läufer aus dem Stadionbereich heraus. Als ich beim Start ankomme, informiert uns Artur Schmidt, der bekannte Moderator, dass in nur drei Minuten der Startschuss erfolgt. Ich suche mir die nächstbeste Stelle an dem Zelt und deponiere Rucksack und Winterjacke. Zumindest hat es zum Schneien nun aufgehört.
Heute ist mir die Zeit egal, einfach laufen und schauen. Vieles werde ich wohl nicht zu sehen bekommen, denn der Kurs verläuft in den Lahnwiesen, Orte werden kaum berührt. Nur ganz kurz habe ich nach dem Ablegen der Kleidung Zeit, aber es reicht, um vor dem Startbogen ein paar Bilder zu machen. Artur zählt die letzten Sekunden herunter und dann läuft die Spitze auch schon davon. Der Untergrund ist zumindest hier gut zu belaufen, der Bauhof hat ordentlich abgestreut, der Asphalt ist griffig, da bin ich jetzt positiv überrascht.
Nach ein paar Sekunden mache ich mich auch auf dem Weg und ordne mich hinter dem Startbogen ein. Langsam bewegt sich nun das Feld vorwärts. Es geht fast einen ganzen Kilometer auf den Lahnauen in Richtung Süden. Zuerst sehen wir rechterhand noch die Lahn, dann schwenkt der Asphaltweg vom Gewässer weg. Was er denn so auf die Strecke schleppe, will ich von Joe wissen, als ich auf ihn auflaufe. „Nicht dass du denkst, da ist Bier drin. Ich trinke keins mehr!“ Mir fällt der Kinnladen runter. Müssen wir uns Sorgen um Joe machen? Oder will er abspecken? Um die Spannung bei euch hochzuhalten, die Lösung wird er höchstpersönlich erzählen.
Kurz vor Kilometer eins, gleich nach der Unterquerung der Südspange Marburgs, steht die erste der drei Versorgungsstellen, die jetzt natürlich noch niemand anläuft. Die Helfer klatschen. Später werden die alle Hände voll zu tun bekommen, denn deutlich über 700 Teilnehmer sind jetzt unterwegs. Ich habe Stimmen gehört, dass viele nicht angetreten sind. Die Kälte, die Straßenbedingungen, es sind viele schlicht daheim geblieben. Wen wundert es.
Der nächste Kilometer verläuft ebenfalls bis auf eine links-rechts-links-Kombination auf den Lahnwiesen. Wenn ich jetzt Zeit hätte, würde ich die Schautafeln des Planetenlehrpfades lesen. Lernen kann man dabei immer etwas, denn das Sonnensystem ist im Maßstab 1:1 Milliarde auf einer Strecke von sechs Kilometer abgebildet. Und jetzt meine Frage. Wie ist denn die Reihenfolge der Planeten, von der Sonne aus gesehen? Wer weiß es? Es gibt eine Eselsbrücke, die da lautet: „Mein Vater Erklärt Mir Jeden Sonntag Unsere Neun Planeten.“ Wie ist die Lösung?
Wir laufen unter der Main-Weser-Bahn hindurch und dann ist ein fünf Meter langer Gegenverkehrsbereich unter der Bundesstraße 3. Nach der Unterführung biegen wir links ab. Die Strecke führt durch das Industriegebiet Marburg-Cappel, Leute stehen hier nicht zum Zuschauen. Kurz nach Kilometer drei können wir verpflegen. Wasser, warmer Tee, Iso, Bananen und Gel sehe ich. Und auch Salzgebäck. Nicht nur mein Favorit ist warmer, gesüßter Tee, eine Wohltat. In dem Bereich ist der Untergrund kurzfristig schneebedeckt, aber trotzdem gut belaufbar.
Rechterhand sehe ich später die Umgehungsstraße (die heißt wirklich so), auf der die vor mir liegenden Sportler zurücklaufen. Es dauert nur wenige Minuten, dann hat sich meine Laufrichtung auch um 180 Grad gedreht. Kilometer vier folgt. Übrigens ist jeder Kilometer ausgeschildert. Wir verlassen die Hauptstraße und laufen dann an der Feuerwehrschule Marburg vorbei. Betrieb scheint dort nicht zu sein, lediglich ein paar Feuerwehrautos sind abgestellt.
Kilometer fünf kommt, die Straße nennt sich Steinmühlenweg. Vor einigen Jahren war beim Landschulheim Steinmühle Start und Ziel dieser so beliebten Laufveranstaltung. Wir biegen vorher ab und rennen wieder an die Lahn heran, wo an der rechten Seite das Bootshaus Steinmühle liegt. Ein paar Meter weiter laufen wir durch die Unterführung der Bundesstraße 3. Wir bleiben auf dem asphaltierten Radweg, wo Kilometer sechs angezeigt wird. Der Kurs steigt leicht an, denn wir laufen nun wieder über die Lahn und nach der Bahnunterquerung in den Ortsteil Gisselberg, der knapp 1000 Einwohner zählt. Im Jahr 1300 wurde der Ort erstmals als „Goselberg“ erwähnt. Im Ort können wir wieder verpflegen.
Gisselberg verlassen wir gleich wieder und dann laufen wir ein langes Stück an der Gießener Straße, auf der jetzt nur wenig Verkehr zu sehen ist. Es ist das einzige Stück, auf dem ein wenig Monotonie aufkommt, denn du siehst einen guten Kilometer weit. Erst bei Kilometer acht wird es wieder lebendiger. Die Strecke steigt nur leicht an und man kann schon die Moderation vom Zielbereich herüber hören, obwohl wir noch zwei Kilometer unter die Füße nehmen müssen. Ich laufe auf Dörte Kaiser auf, die mit einem modischen Laufrock bekleidet ist. Ich muss lachen, denn auf dem Rock ist eine Raupe zu sehen. Dabei ist die Dörte so langsam auch nicht unterwegs.
Kilometer neun, wir sind nun im Stadtbereich von Marburg angekommen, ein Fotograf ist fleißig bei der Arbeit. Der hat zwar einen ruhigen Job, aber er wird sich noch den A... abfrieren. Ein paar Meter weiter überqueren wir abermals die Lahn auf einer Brücke. Dann sehen wir das Zielgelände auf der rechten Seite, das wir nach einer Haarnadelkurve an der östlichen Brückenrampe erreichen. Zieldurchlauf für die Zehn-Kilometer-Läufer ist links, wir werden rechts eingewiesen. Meine Zeit für eine Runde mit zehn Kilometer? Ich rechne eine runden Stunde. Für vier Stunden als Endzeit wird es wohl nicht reichen, denn wesentlich wärmer ist es noch nicht geworden. Außer ich geb ordentlich Gas.
Das Feld hat sich nun schon merklich ausgedünnt. Vielleicht klappt es doch mit den vier Stunden, ich lege einen Zahn zu, darf aber nicht überziehen. Bei der Kälte merkt man es nicht gleich, wenn man zu schnell unterwegs ist. Bei der ersten Verpflegungsstelle nehme ich mir trotzdem Zeit, ausgiebig zu trinken und die Helfer für ihren Dienst zu danken. Dann fallen mir zwei Mädels auf, auf die ich auflaufen kann. Vom SC Oberlahn sind dies Melanie Horn und Iris Henche, sie laufen absolut gleichmäßig und haben noch Luft zum Quasseln. Ich weniger, melde aber bei den beiden schon Bedarf an für ein Zielbild. Später kann ich noch auf Manfred Kranz aus München auflaufen, der geht heute die fünf Runden. Er nimmt den Lahntallauf als Test für den 100er in Rheine.
Ich habe meine zweite Runde noch nicht zu Ende, da werde ich vom führenden Marathoni Marian Bunte überholt. Er wird diesen Bewerb in 2.33.27 Stunden gewinnen und dabei einen Vorsprung von 45 Minuten (!) vor dem Gesamtzweiten herauslaufen. Wahnsinn. Die zweite Runde beende ich nach 1.56 Stunden. Für mein Ziel bin ich leicht optimistisch gestimmt.
Meistens geht es ja während des Rennens nicht so, wie man denkt. In der dritten zieht mir jemand den Stecker. Es geht schon an, als ich die Krähen sehe, die über uns kreisen. Wahrscheinlich warten die, dass ein Läufer schlapp macht. Es wird zäh. Ein flüssiger Laufstil schaut anders aus. Bettina Keilen hole ich ein. Sie hatte die Befürchtung, das Limit von sechs Stunden nicht zu schaffen. Der Veranstalter hat sie auf Anfrage früher auf die Strecke gelassen. Was sie mit ihren Krücken leistet, ist sagenhaft.
Für die dritte Runde benötige ich eine knappe Stunde. Letzte Runde, die Kilometer ziehen sich. Anderen geht es noch schlechter, manche müssen auch marschieren. Ich kann das vermeiden und bleibe zumindest im Jogging-Tempo. Lachen muss ich, als das THW an einer Unterführung Grillwürste zubereitet. Rund zehn dicke Knacker liegen auf dem Grillrost, und sie sind nur zu dritt. Und wo bleibe ich? Das Team an der Tankstelle bei Kilometer drei hat ein Pils der Brauerei Bosch im Angebot. Das sage ich nicht nein. Beim Gegenverkehrsbereich sehe ich dann Tanya Ostapenko und Notger Seitz auf der anderen Seite, die haben heute das volle Programm über fünf Runden gebucht.
Bei meinem zweiten ausgiebigen Schluck aus der Bierpulle bei der nächsten V-Stelle werde ich von den beiden Frauen aus Oberlahn gnadenlos versägt. Die haben sich ihre Kraft gut eingeteilt und ich kann nur hinterherschauen. Noch auf der Brücke vor dem Zieleinlauf sieht mich Artur Schmidt schon frühzeitig und kündigt mich an. Der muss Augen wie ein Luchs haben.
Kurz nach der Haarnadelkurve werden wir rechts auf das Pendelstück eingewiesen. Es fehlen ja noch gut zwei Kilometer. Der Helfer meint: „Ihr müsst bis zum Bad und dann zurück“. Das fehlende Wegstück ist gut gewählt. Ich kann nochmals die vor mir Platzierten sehen. Ganz toll finde ich die Gesten aller, die sich hier begegnen. Man begrüßt sich und klatscht sich ab. „Bis gleich im Ziel,“ das höre ich mehrmals. Und dann darf ich am entsprechenden Punkt wenden, wo mich ein Helfer der Johanniter aufschreibt. Es geht zurück. Und das Ziel erreiche ich nach wenigen Minuten. Das war heute ein Kampf, vor allem in den letzten Stunden.
Leider reicht es nicht mehr für eine Zeit von unter vier Stunden. Die Marke verfehle ich deutlich, das ist mir aber egal, denn es war kalt und die Bedingungen hart. Der Wind hat in den letzten beiden Runden zugenommen. Frostig ist es geblieben und die Sonne hat sich auch nicht gezeigt. Es dauert nur Augenblicke, dann fange ich zu frösteln an. Also Mantel anziehen und nochmals zum Zielgelände, wo mir Artur eine Episode erzählt. Er hat heute jemand getroffen, der bei einem Marathon vor 17 Jahren geheiratet hat. Er und seine Freundin gingen quasi als Single an den Start und liefen als Eheleute ins Ziel. Und darüber will Artur eine Geschichte schreiben.
Lange halte ich es nicht aus, ich mache noch ein paar Bilder und marschiere dann in die Sporthalle, wo ich eine geraume Zeit unter der heißen Dusche verbringe. Nie war die so wertvoll wie heute. Beim Studieren der Ergebnisse bin ich glücklich. Ich bin Zweiter der Klasse M55 in 4.12 Stunden, aber der Erste ist eine halbe Stunde vorne dran. Später sehe ich bei der Analyse der Ergebnisliste, dass viele Langstreckler ihre Pläne zurückgenommen haben und eine Runde weniger als geplant gelaufen sind. Dafür ein dickes Lob an die Organisatoren und auch für das ganze Drumherum. Toll die vielen Helfer an der Strecke, für sie war der heutige kalte Tag ein Härtetest. Und für mich auch.
Da empfehle ich mehr als einen Verdauungsspaziergang in der Altstadt. Lohnenswert für eine Besichtigung sind
- die Elisabethkirche (gotischer Baustil, im 13. Jahrhundert erbaut)
- das Landgrafenschloss (auf dem Schlossberg) und Schlosspark
- Pfarrkirche St. Marien (erstmals 1222 urkundlich erwähnt)
- das historische Rathaus (mit astronomischer Uhr und einem Bild der Hl. Elisabeth)
- das Deutsche Haus (Deutschordenshaus)
- Spiegelslustturm und
- Botanischer Garten.
Lust für einen sportlichen Besuch im Sommer in Marburg? Dann auf zum Nachtmarathon am 29.06.2018. Infos unter
www.ultra-marburg.de/nachtmarathon.
Marathon Männer
1. Marian Bunte, Bunert – Der Kölner Laufladen, 2.33.27
2. Heiko Notheisen, Lußhardtläufer Hambrücken, 3.18.46
3. Oliver Kovalovsky, RC OPI, 3.19.23
Marathon Frauen
1. Eva Skalsky, LuT Aschaffenburg, 3.28.23
2. Sylke Kuhn, 100 Marathon Club, 3.35.40
3. Maryam Mayer, TSV Wolfratshausen, 3.39.49
62 Finisher
50 km Männer
1. Dirk Thomas, Eisenach, 3.50.24
2. Jochen Philipp, DZ BANK Runners, 3.53.09
3. Manuel Tschenscher, ASC Marathon Friedberg, 3.55.57
50 km, Frauen
1. Ulrike Greif, TSV Wolfratshausen, 4.28.31
2. Ewa Szczeblewski, PSV Grün-Weiß Kassel, 4.29.29
3. Gundi Weckenmann, PV Triathlon Witten, 4.34.16
56 Finisher
Meldungen | |||
09.03.11 | Peter Seifert in Rekordzeit Deutscher Meister | ||
09.04.06 | Marburg macht's möglich | ||
10.04.05 | Michael Sommer Deutscher Meister über 50 Kilometer |