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Laufberichte

Laufen mit Weitsicht

09.09.06

Marathon in Vollendung


Marathon ist eine der faszinierendsten Sportarten. Das wissen wir alle. Durch eine gute Organisation, eine schöne Strecke und ein tolles Publikum kann ein Marathon zu einem herausragenden Erlebnis werden. Auch das ist bekannt. Und ganz entscheidend für den persönlich gefühlten Erlebniswert ist gutes Wetter. Ein von niemandem zu beeinflussendes Geschenk von oben. Und wie könnte ein Lauf aussehen, bei dem alles in höchster Perfektion zusammentrifft? Da träumt vielleicht jede/r einen anderen Traum, für mich ist dieser Traum jetzt wahr: Gibt es einen Marathon mit einem noch intensiverem Naturerlebnis? Gibt es einen Lauf mit einer noch besseren Organisation? Gibt es ein noch schöneres Wetter als bei dem diesjährigen Jungfrau-Marathon? Fest steht, die Schweizer haben es verstanden, den Lauf für mich zu dem Highlight des Jahres 2006 werden zu lassen.

 

Der Wille, die Läufer bestmöglich zufrieden zu stellen, zeigt sich schon im Vorfeld des Laufes: So war es kein Problem, im Charlton-Hotel kurzfristig umzudisponieren, obwohl es ausgebucht war. Und auch für den, der sich erst zwei Wochen vorher zur Teilnahme an dem Lauf entscheiden konnte, war eine Startnummer frei. Also gemeinsame Anreise am Freitagabend mit Edzard Müller aus Nordhessen, der sich doch noch Zeit für den Lauf nehmen konnte. Am Samstagmorgen beginnt alles ganz normal: Frühstück im Hotel mit anderen Läufer/innen kurz nach 6.00 Uhr, Abholung der Startnummer im ca. 300 Meter entfernten Casino-Kursaal und Abgabe der Kleiderbeutel, die zur Kleinen Scheidegg transportiert werden müssen. Danach bleibt noch Zeit für einen kurzen Plausch mit bekannten Gesichtern. Und es wird immer deutlicher: Dieser Tag wird uns ein Traumwetter bescheren.

 

Nach dem Startschuss um  9.00 Uhr werden die Läufer erst einmal einige Kilometer durch Interlaken geführt, vorbei an Musikkapellen oder „Kuhglockenbands“. Als der Startbereich ein zweites Mal passiert wird, ermuntert der Moderator die Zuschauer, die Läufer/innen auf ihrem nicht ganz einfachen Weg mit dem nötigen Applaus zu begleiten („Die Hände sind heute zum Klatschen da“), der dann auch prompt folgt, aber doch noch ein wenig wie mit angezogener Handbremse, was man später nicht mehr behaupten kann. Immer wieder werden wir unterwegs von meist kleinen Gruppen angefeuert.

 

Noch ist die Strecke eben, in Böningen haben wir einen kurzen Blick auf den noch ruhigen Brienzer See. Bis Wilderswil sehen die Augen hohe Wälder, aber noch keine Drei- oder Viertausender. Dies ändert sich erst ab etwa km 11 bei Gsteigwiler, wo sich dem Läufer erstmals ein spektakuläres Bergpanorama zeigt. Hier geht das Herz so richtig auf.

 

Wir laufen jetzt eine ganze Zeitlang rechts oder links an dem Flüsschen Lütschine vorbei, aus den blaugelben Zügen entlang der Strecke winken und rufen die Fahrgäste den Läufern zu. Auf dem Weg nach Lauterbrunnen erleben wir wieder Abwechslung: Zu den Schönheiten des Berner Oberlandes gehören auch schroffe Felswände mit tosenden Wasserfällen. Jeweils nach ca. 100 Metern präsentiert sich ein neues Motiv. Zwischendurch sind auch gelegentlich die Unterwetterschäden aus dem letzten Jahr noch sichtbar.

 

In Lauterbrunnen liegt die Halbmarathonmatte. Kaum zu glauben, mir ist, als wäre ich gerade losgelaufen. Volksfeststimmung mit zahllosen Fahnen, mit Musikgruppen und Verpflegungsständen prägen hier das Bild. Wie viele Verpflegungsstände es bis hierher schon gegeben hat? Eigentlich brauchte man bis jetzt nur Wasser, aber es wird fast immer das volle Programm geboten.


Nach einer Schleife wird die Lütschine wieder überquert, und weg ist das Bergpanorama. Wir laufen wieder zurück nach Lauterbrunnen. Ich frage mich, wann endlich die ersten richtigen Anstiege kommen. Fast 26 km sind absolviert, aber jetzt, als wir Lauterbrunnen zum zweiten Mal und frisch gestärkt verlassen, wird es ernst. Es folgen Serpentinen ohne Ende, meist durch Wälder, die zwischendurch noch einen Blick in das jetzt schon tief gelegene Lauterbrunnen gestatten. Noch gehen wir in flottem Schritt. Aber es dauert, bis der nächste Kilometer absolviert ist. Aber auch hierfür haben die Schweizer eine sympathische Lösung gefunden: Die zurückgelegte Strecke wird jetzt schon nach jeweils 500 oder sogar 250 Metern angezeigt.

In Wengen nach Kilometer 30 ist die Hölle los. Auch wenn die Beine kurz zuvor noch weich wie Pudding waren, jetzt geht es mit Anstand weiter durch die Menge. Der Enthusiasmus der Zuschauer ist fast vergleichbar mit der beim Kölner Marathon auf der Domplatte. Diese unglaubliche Vielseitigkeit der Eindrücke!

 

Nach Wengen sind die Läufer wieder unter sich, und es wird ein neues Kapitel mit der Überschrift „Ich und die Anstiege“ oder „Die Anstiege und ich“ geschrieben. Alles ist aber halb so schlimm, da die Wälder lichter werden und man die Blicke jetzt nicht auf Schottersteine, sondern in die zunehmend fesselnde grandiose alpine Bergwelt richtet. Eiger, Mönch und Jungfrau sind jetzt ständige Begleiter, bei diesem Wetter bietet sich ein unbeschreibliches Panorama-Bild. Und etwa bei km 38 geht es für kurze Zeit leicht bergab, so dass noch einmal ein paar ganz entspannte Augenblicke für die atemberaubende Aussicht zur Verfügung stehen. Außerdem kann sich, wer möchte, unterwegs massieren lassen, auch ein nicht alltägliches Angebot.

 

Dann zeigt sich die Eigergletscher-Moräne und wir wissen, der Anstieg ist noch einmal besonders giftig, aber es ist auch der letzte. Wunderbare Ausblicke auf Berge und Täler entschädigen auch hier für alle Strapazen, aber man muss doch besonders auf den unebenen, steinigen Boden achten (und auch auf den Vordermann, denn hier geht kaum noch eine/r richtig gerade aus). Aber Stürze gibt es nicht. Überholen ist so gut wie nicht möglich und macht auch keinen Sinn. Hat man ein paar Meter Vorsprung herausgeholt, schreit die Lunge nach einer Pause. Sowohl der Blick nach oben als auch der nach unten ist auf eine scheinbar endlose Läuferkarawane gerichtet. Und so urwüchsig giftig dieser Anstieg auch ist, er hat seinen ganz besonderen Reiz. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes der Höhepunkt dieses Marathons.

 

Zwischendurch sind Alphornbläser zu sehen und zu hören, eine Abwechslung, für die ich mich zugegebenermaßen hier aber nicht so recht öffnen kann. Und dann hört man ihn endlich, lang ersehnt, Roman Kaeslin, das Urgestein des Jungfrau-Marathons, der auf seiner Dudelsackpfeife in 2.300 Metern Höhe „Freude schöner Götterfunken“ spielt. Das ist nicht nur eine Melodie, die ins Herz geht, sondern es ist klar, der höchste Punkt dieses Marathons ist jetzt erreicht. Und schon scheint es, als sei die gerade noch völlig abhanden gekommene Energie wieder zurückgekehrt. Jetzt geht es bergab, und nach einem einzigen weiteren Anstieg ist die Kleine Scheidegg, das Ziel, zu sehen.

 

Zum Schluss kann man „es auch hier noch richtig laufen lassen“. Im Ziel kann man sich bei Getränken und Linzer Törtchen hervorragend entspannen und die prachtvollen Ausblicke genießen.

 

Danach geht alles schnell: Kleiderbeutel abholen, schön geordnet, Leih-Chip abgeben, Finisher-T-Shirt in Empfang nehmen und duschen. Die Duschen sind hervorragend.

 

Und jetzt noch ein Wort zur logistischen Meisterleistung der Schweizer: Es werden ja nicht nur tausende von Kleiderbeuteln zur Kleinen Scheidegg transportiert, die schnell wieder ihren Besitzer finden. Oder massenhaft Getränke aller Art, die nach dem Lauf kostenlos verteilt werden. Die Schweizer sind dabei auch noch detailverliebt: Es wird nicht nur eine ausgesprochen schöne Medaille überreicht. Der gewöhnliche Flachlandtiroler staunt auch nicht schlecht, wenn er neben den Duschen noch 10 Haartrockner erblickt.

 

Fazit: Jungfrau-Marathon 2006 – Marathon in höchster Vollendung.

 

Informationen: Jungfrau-Marathon
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