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Laufberichte

Im Land der Viertausender

 

Das breite Tal wird von bis zu 600 m hohen, nahezu senkrechten Felswänden gesäumt, was Lauterbrunnen zu einem Eldorado der Basejumper macht. Rechts neben uns landen außerdem immer wieder Tandem-Fallschirmspringer. Eine etwas weniger gefährliche Art, dem Touristen einen Kick zu ermöglichen. Wir befinden uns nun kurz vor den Trümmelbachfällen, die in einer engen Klamm 20.000 Liter Wasser pro Sekunde aus dem ewigen Eis der Jungfrauregion herunterbefördern. 1980 war ich mit meinen Eltern hier. Meine Mutter wollte uns damals zeigen, wo sie viele Jahre zuvor einmal ihren Urlaub verbracht hatte.

Übrigens: Das Schweizerdeutsch hat es mir angetan. Irgendwie denke ich immer, als Bayer müsste man alle Spielarten der deutschen Sprache verstehen – von wegen. Das ging höchstens noch gestern, als uns ein ehrenamtlicher Helfer in perfektem Sächsisch begrüßte. Dementsprechend rufe ich den Applaudierenden oft ein Dankeschön entgegen, wohl wissend, dass es hier eigentlich, angelehnt an das Französische, Merci heißt. Aber der Jungfrau-Marathon ist ja ein internationaler Lauf mit Teilnehmer/innen aus fast 60 Nationen.

Bei der Steelband „Les amis de la casserole“ machen wir eine Kurve. Im Schatten der steilen Wand heißt es noch mal richtig Gas geben, bevor wir wieder nach Lauterbrunnen kommen und bei Kilometer 26 mit dem nächsten Abschnitt des Marathons beginnen: In engen Serpentinen führt uns der Wanderweg nach oben, begleitet von dem Radau der Kuhglocken, die  einheimische Kinder - sicherheitshalber mit Ohrenstöpseln versehen – am Ende ihrer Sommerferien für uns schwingen. Jetzt bieten sich schöne Ausblicke ins Tal. Weiter oben wird es viel ruhiger. Nur noch angestrengtes Schnaufen ist zu hören. Gelegentlich veranlassen mich Zuschauer zu einer launigen Bemerkung. Kein Marschierer reagiert. Beerdigungslauf nenne ich so etwas. Aber vielleicht bin ich auch nicht mit dem nötigen Ernst bei der Sache, denn wer Witze macht, hat bekanntlich noch Reserven – haha.

Ab hier stehen die Kilometermarkierungen im 250-Meter-Abstand. Fast noch mehr interessieren würden mich allerdings die Höhenmeter. Die Gleise der Bahn sind hier anscheinend unbenutzt. Erst das Ferienheim einer holländischen Reisegruppe beendet die Einsamkeit: „Hup, hup!“ fordert ein Plakat einen gewissen Ad auf. Fast 500 Meter haben wir uns auf den letzten 5 km nach oben geschraubt. Auf 1257 Metern befindet sich eine Hochebene mit der Ortschaft Wengen, Austragungsort des bekannten Lauberhorn-Skirennens und überragt vom 2.225 Meter hohen Männlichen, der für seine plötzlich aufziehenden Nebel berüchtigt ist. Im Moment sieht es aber nicht danach aus. Es ist wunderschön sonnig und warm. Wir halten uns in Richtung Wengen Downtown. Der 1300 Einwohner zählende Ort ist komplett autofrei. Daher also das große Parkhaus an der Zahnradbahn in Lauterbrunnen. Man erzählt mir, dass zu Beginn der Navi-Zeit ein Hamburger Autofahrer mit seinem Mercedes auf dem Wanderweg nach oben stecken geblieben ist. Deshalb warnt jetzt am Beginn der Strecke ein Schild „No road to Wengen, turn now“.

Zusätzlich zu den Einwohnern haben sich viele der 5.000 Sommer-Übernachtungsgäste am Wegesrand eingefunden. Für den M4Y-Chef waren wir wohl etwas zu langsam. Der ist mit der Bahn bereits Richtung Wengernalp unterwegs, der Spitzengruppe hinterher. Dafür gelingt es Judith und mir endlich, eine Dame im „Henkel“-Firmenlaufshirt zu überholen. Mit den „Drachen“ aus Wales ist das nicht so einfach.

An der Station Allmend kann man gut das Betriebskonzept der Bergbahn erkennen: Bei großem Fahrgastaufkommen bewegen sich die Zahnradbahnen mit drei Einheiten auf Sicht hintereinander. Die Ausweichstellen sind lang genug für die drei Züge. Auch der Laie wird feststellen, dass heute drei Generationen von Zügen im Einsatz sind. Besonders schön sind die alten Triebwagen mit ihren Holzsitzen. Und auch von dort wird uns weiter zugejubelt – wobei sich nur die Asiaten etwas zurückhalten. Neben arabischen Urlaubern sieht man viele Chinesen. Russen eher weniger. Am Lauf nehmen auch Taiwaner und Japaner teil.

Der wunderschöne Wanderweg fordert uns einige Anstrengung ab. Erfahrene Bergläufer kommen hier sicher gut voran. Bei Judith, Kirsten und mir ist es ein stetiges Laufen und Marschieren. Die Zahl der Verpflegungsstellen hat sich in der zweiten Laufhälfte erhöht: Alle zwei bis drei Kilometer gibt es das volle Programm mit Wasser, Isogetränk und Bananen. Oft auch eine gute Bouillon und sechs Mal zusätzlich zu Energieriegeln auch Gel-Tütchen. Das Trinkwasser wurde in großen Containern herauf gebracht. Ganz am Ende der Tische dann noch mal H2O zum Nachspülen, alles kredenzt von gutgelaunten „Marathon-Crew“-Mitgliedern. Der Service verdient damit die Note 1+.

Die „Bergriesen“ Eiger (3.970 m), Mönch (4.107 m) und Jungfrau (4.158 m) rücken immer näher. Die Sonne glitzert auf den Gletscherflächen. Die Form der verteilten Schwämme ist übrigens der Silhouette der drei Gipfel nachempfunden. Richtig herum halten! Die breitere Kerbe muss nach rechts. Da nehme ich natürlich ein Exemplar mit nach Hause. Auch die Bergstation der Jugfraujoch-Bahn (3.454 m) ist gut zu erkennen. Sie beginnt beim Marathon-Ziel auf der Kleinen Scheidegg und führt auf breiterer Spur (1.000 mm, die Wengernalpbahn hat nur 800 mm), mit Dreiphasen-Wechselstrom (zwei Oberleitungen) und anderem Zahnstangensystem durch einen sieben Kilometer langen Tunnel auf den höchsten Bahnhof Europas. 1896 begann man mit dem Bau und eröffnete 16 Jahre später die Strecke. Das Ganze wurde wirtschaftlich ein großer Erfolg. Leider fehlt nach wie vor das letzte Stück auf den Jungfrau-Gipfel. Falls wir nicht zu spät ins Ziel kommen, können wir die letzte Bahn zum Joch und zurück noch erwischen. Die Fahrt zurück nach Interlaken ist im Marathonpreis enthalten, sodass wir nur den Anschluss (95,- CHF) zahlen müssten. Mal sehen.

Meine Gedanken sind im Moment ganz woanders: Der Weg ist jetzt leicht zu bewältigen und ermöglicht daher eine ungestörte Sicht auf das Weltnaturerbe. Unglaublich. Bis vorgestern verhieß der Wetterbericht noch Regen. Jetzt ist es sonnig und viel wärmer als erwartet. Ich bin hin und weg: Natürlich gibt es Bergmarathons mit vergleichbaren Anforderungsprofilen, beispielsweise in Liechtenstein. Aber wo auf der Welt hat man einen Blick auf gleich mehrere Viertausender? Mich überwältigen die Gefühle und mir kommen die Tränen. Gottlob passiert mir das nicht im Ziel.

Jetzt heißt es erst mal Judith wieder einholen. Das Paar aus Wales haben wir dank mehrerer Laufeinlagen schon vor einigen Kilometern abgehängt. In der Nähe der Bahnstation Wengernalp ist ein kleiner Scheitelpunkt erreicht. Die Cut-Off-Zeit von 5:35 Stunden bei km 37,9 km haben wir problemlos unterboten.

Vor uns eine lange Kette aus farbigen Punkten, die sich den Berg hinauf zieht. Wir müssen erst mal ein paar Höhenmeter mit Volldampf nach unten zur Wixi-Bergstation. Dank entsprechender Beschneiung in den Wintermonaten erfreut sich dieser Südhang bei den Skifahrern besonderer Beliebtheit. Wir können hier noch einmal auftanken. Die kommenden 1,3 Kilometer geht es über einen Bergweg erst im Wald über Wurzeln stetig hinauf. Leider für meinen Geschmack etwas zu langsam. Irgendwie haben die Glückshormone und die Aussicht aufs nahe Ziel viel Energie freigesetzt. Bald habe ich zu Judith aufgeschlossen. Nett die vielen gelben Fähnchen der Schweizer Post, die den Weg markieren.

Links sieht man schon das Ziel, die Kleine Scheidegg. Unter uns bewegt sich eine weitere bunte Perlenkette von Sportlern in die gleiche Richtung. Wo kommen die denn her? Ganz einfach: Um größere Staus zu vermeiden, gibt es ab Wixi zwei Strecken bis Haaregg, auf die die Läuferinnen und Läufer bedarfsweise geleitet werden.

An der Wiedervereinigungs-Verpflegungsstelle (ein Wort so lang wie die Läuferschlange) gibt es köstliches Cola für den Schlussspurt und Alphornbläser für das Gemüt. Über die Moräne des Eigergletschers, einen geraden Weg auf einer Bergkante, geht es zum höchsten Punkt, der Loucherflue, wo wir mit Dudelsackmusik empfangen werden sollten. Dort ist der Teufel los. Christoph Seiler begrüßt gerade den Herrn im Kilt. Nach 15 Jahren als OK-Chef wurde Seiler zum Präsidenten von Swiss Athletics gewählt und übergibt die Leitung des Jungfrau-Marathons Ende 2015 an Toni Alpinice.

Noch 1,3 Kilometer: Kurz Speed auf einer Abwärtspassage. Dann anstehen vor einer kleinen Felskuppe. Zwei Meter geht’s bergab, bei Bedarf von Helfern gestützt. Und dann weiter mit Schwung. Unter den Gleisen der Jungfraubahn hindurch zu einem wunderschön glänzenden See. Baden ist hier verboten. Dafür gibt es einen Tümpel mit Sitzgelegenheit zum Füßeabkühlen. Noch 200 Meter zum Ziel. Die begleitenden Schlachtenbummler, darunter viele inzwischen bekannte Gesichter, feuern uns ein letztes Mal an. Nach 5:43 Stunden  sind wir im Ziel. Eine schicke Medaille gibt es. Wirkt wie eine teure Silbermünze. Alkoholfreies Bier aus dem Berner Oberland wartet auf uns, ebenso eine mit Iso gefüllte Trinkflasche mit Jungfrau-Marathon-Logo.

Judith und Kirsten strahlen um die Wette. Das Frauenwahlrecht in der Schweiz wurde übrigens 1971 eingeführt. Bei der Premiere des Jungfrau-Marathons im Jahr 1993 gewann Birgit Lennartz in einer Zeit von 3:30:00. 2015 ist jeder vierte Starter eine Frau. Umso interessanter erscheint es mir da, dass die Berner Zeitung in ihrem Online-Bericht „Krämpfe und ein heilender Stein“ (siehe Link auf M4Y) nur von den männlichen Läufern berichtet. Aufwachen, unbekannter Redakteur! Auch in der Schweiz laufen Frauen auf die Berge.

Vor dem Hotel Bellevue Des Alpes tauscht man den Zeitmesschip aus der Startnummer gegen ein „Finisher“-T-Shirt und eine 300-Gramm-Lindt-Schokoladentafel, die Judith jetzt in Rekordzeit verzehren könnte. Die letzte Musikgruppe spielt mit viel Temperament am Bahnhof Kleine Scheidegg auf. Die Gepäckstücke bekommt man in der Remise links hinter dem Bahnhofsgebäude.

Einige Meter weiter erwarten uns die warmen Duschen. Massagen gibt es im Ziel ebenfalls, wie bereits mehrmals an der Strecke. Judith und ich entscheiden uns wegen des doch etwas knappen Zeitfensters gegen die Fahrt zum Jungfraujoch. Wir nehmen die nächste Bahn hinunter nach Lauterbrunnen. Über Grindelwald nach Interlaken wäre es in die andere Richtung gegangen. Aber so können wir noch einmal die Laufstrecke aus anderer Perspektive betrachten. Gerade rechtzeitig fällt mir noch ein, ein Foto mit der berühmten Eiger-Nordwand im Hintergrund zu schießen.

In Interlaken lassen wir im Zelt unsere Urkunden ausdrucken. Nach der Siegerehrung werden die Teilnehmer auf einer Farewell-Party mit Abba-Revival-Konzert verabschiedet.

Wer sich über die Farben der Startnummern gewundert hat: Die orangefarbenen kennzeichnen Läufer aus dem hiesigen Kanton Berner Oberland, die roten die Eliteläufer (habe ich eher nicht gesehen), die blauen das Läuferfeld (also auch uns) und die grünen und goldenen die10- bzw. 20-maligen Finisher, für die eigens eine Apéro-Party veranstaltet wird.

Der Sonntag beginnt mit einem Regenschauer, sodass wir uns bald auf den Heimweg begeben. Das Welterbe Jungfrau hat mich in seinen Bann gezogen. Wie stark sich doch die Alpen vor unserer Haustür in Oberbayern und Tirol von denen in der Schweiz unterscheiden! Unser Stopp in Luzern bei den noblen Palazzi am Vierwaldstättersee verschafft zusätzliche interessante Eindrücke.

Fazit:

Der Jungfrau Marathon ist ein wunderbarer Berglauf vor einer einzigartigen Kulisse, den man erlebt haben muss. Mit 1.800 Höhenmetern und ohne ausgesetzte Stellen ist dieser Lauf  gut zu bewältigen. Lediglich auf die Schlusszeiten sollte geachtet werden; die Liste weist Ergebnisse bis fast 7:00 Stunden aus. Ich schätze, wer eine 4:30er- Zeit im „Flachen“ schafft, sollte hier ohne Zeitprobleme durchkommen.

Und ich weiß, wo ich Wanderurlaub machen werde, wenn die Finanzjongleure die Finger vom Schweizer Franken lassen.

Ergebnisse:
Frauen:

1. Camboulives, Aline FRA 3:28.43,2
2. Deme, Eshetu Meseret ETH 3:32.00,9
3. Berchtold, Conny SUI 3:33.29,9

Männer:
1. Mustafa, Shaban BUL 3:02.36,8
2. Mekonnen, Birhanu ETH 3:03.51,8
3. Vaccina, Tommaso ITA 3:04.08,8

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Informationen: Jungfrau-Marathon
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