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Laufberichte

Hundert Prozent Jungfrau

06.09.08
Autor: Klaus Duwe

Stell dir vor, es ist Jungfrau-Marathon und du bist nicht dabei.

Das kann schneller passieren, als man denkt. Zunächst ist es ja noch wie vor nicht selbstverständlich, dass man überhaupt einen Startplatz bekommt. Noch immer gehen nämlich mehr Bewerbungen ein, als Startplätze zur Verfügung stehen, so dass das gefürchtete Losverfahren angewendet wird. Hat man eine Nummer ergattert, muss man gesund bleiben. Auch das ist nicht selbstverständlich, wie ich zurzeit leidvoll erfahre. Damit will ich sagen, dass ich wieder mit dem Fotoapparat AN, statt mit Laufschuhen AUF der Strecke bin. Nur zuhause bleiben ist noch schlimmer – das vorweg.

Ich bin sicher, keiner der Väter des Jungfrau-Marathon hat 1993 vorausgesehen, was sich aus ihrer Idee bis heute entwickelt hat. Bis dahin hatte der Swiss Alpine in Davos fast eine Alleinstellung und war als Bergmarathon und –ultra das Maß der Dinge. Einen Marathon aber mit Zieleinlauf auf dem Berg gab es nicht.

Schon am ersten Jungfrau-Marathon nahmen über 1500 Läuferinnen und Läufer teil. Er erste Sieger (Jörg Hägler) blieb nur 5 Sekunden über 3 Stunden,  Birgit Lennartz war als schnellste Frau 3:30 Stunden unterwegs, was übrigens beiden auch heute zum Sieg gereicht hätte.

Das Interesse am Jungfrau-Marathon erreichte schnell ungeahnte Höhen, die Teilnehmerzahlen mussten limitiert werden - zuerst auf 3000, dann 3500 und jetzt auf 4000. Zum 10jährigen Jubiläum wurde der Lauf  gleich zweimal, Samstag und Sonntag, mit insgesamt 5260 Läuferinnen und Läufern durchgeführt. Manche gingen sogar zweimal an den Start. So kommt es, dass Klaus Neumann und ein paar andere bei der 16. Auflage für die 17. Teilnahme geehrt werden.

Nach Meinung nicht weniger Marathonis muss man sowieso nur zwei Marathons gelaufen sein: New York und den Jungfrau. Wie kommt’s?

Du bist noch nicht in Interlaken, heißen dich Plakate und Transparente willkommen: „Welcome Runner’s“. Du bist zuhause. „Sind Sie Läufer?“, fragt man im Hotel, kaum dass man deinen Namen erfahren hat. Der Ort ist geschmückt mit Fahnen und Wimpeln, in den Geschäften wird mit Aktionen und Plakaten auf das Großereignis hingewiesen, auf großen Bannern werden die Siegerinnen und Sieger der vergangenen Jahre geehrt. Das ist einmalig.


Man weiß, wie man mit Gästen umgeht, Gastronomie hat in Interlaken eine lange Tradition. Schon vor über 600 Jahren wurden im Hotel Interlaken, dem ältesten Haus am Platz, Gäste beherbergt. Heute ist es ein sehr angenehmes ****Hotel und wegen seiner Lage (direkt an der Laufstrecke in unmittelbarer Nähe des Starts) und seines besonderen Services für Läufer der m4y-Übernachtungstipp.

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Der Umzug des Veranstaltungszentrums vom ehrwürdigen alten Kurhaus in das große, „kalte“ Zelt auf der Höhematte ist den gestiegen Teilnehmer- und Besucherzahlen geschuldet. Für die Marathonmesse, die Startnummernausgabe und für die Bewirtung  ist nun mehr Platz, aber die Atmosphäre leidet. Nicht jede Veränderung ist halt in jedem Fall auch eine Verbesserung. 

Sehr beliebt ist nach wie vor die Veranstaltung am Vorabend mit der Präsentation der Favoritinnen und Favoriten und den vielen Tipps und Hinweisen zum Lauf. Dazu gehört auch der Wetterbericht, der für den Vormittag viel Sonne und ein paar Wolken, für den Nachmittag mehr Wolken und etwas Regen verspricht.  Temperaturen morgens in Interlaken 14 Grad, ebenso am Mittag auf der Höhe. Nicht schlecht.

Der Samstagmorgen präsentiert sich wie vorhergesagt. Die LKW’s für die Kleiderbeutel stehen genau gegenüber dem Zelt. Kurze Wege also vor dem Start. Die Alphornbläser beginnen ihr Spiel, unterstützt von einer Gruppe Fahnenschwinger. Eine ideale Kulisse für das „Vorher-Foto“. Japaner, Amerikaner, Italiener und ein Franzose drücken mit ihren Apparat in die Hand, damit ich sie ablichte. Grazie, merci, thank you.

Die Favoriten besteigen nacheinander ein Podest, lassen sich beklatschen und winken ins Publikum und ins große Läuferfeld. Dann reihen sie sich an der Startlinie ein. Hermann Achmüller, im letzten Jahr überraschend Zweiter hinter Jonathan Wyatt und damit Vizeweltweltmeister, Gerd Frick, ebenfalls aus Südtirol und letztes Jahr auf dem dritten Platz, Martin Cox, Billy Burns, Tim Short, alles Läufer, die für einen Sieg in Frage kommen. Noch einen entdecke ich, der erst kürzlich in der Berglaufszene für Aufsehen sorgte. Konrad von Allmen, Triathlet und sensationell Zweiter beim K 78 in Davos. Und dann ist da der unvermeidliche Geheimfavorit: Boniface Usisivu aus Kenia, Bestzeit 2:07:50, Sieger in Eindhoven (2005) und vierte Plätze in Honolulu, Rom und Berlin. Es ist sein erster Bergmarathon. Bis Lauterbrunnen (km 25) will er volles Tempo gehen und einen deutlichen Vorsprung herauslaufen, weil er nicht wisse, was danach kommt.

Bei den Frauen zählen die Siegerin von 2006, Simona Staicu aus Ungarn und die Russinnen, Jeanna Malkova und Elena Kaledina, Zweite im letzten Jahr,  zu den Favoritinnen. Ob es Carolina Reiber wieder einmal auf’s Treppchen schafft, muss man abwarten angesichts der starken Konkurrenz.


„Trittst im Morgenrot daher“, die Schweizer Nationalhymne wird gespielt. Mehr als sonst bekomme ich das ganze Drumherum mit, die vielen Zuschauer und Musikgruppen und frage mich, was anders ist als bei einem großen Citymarathon. Die Antwort ist einfach: nichts. Das werden sich auch die Läuferinnen und Läufer denken, als sie 3 Kilometer in einer Schleife durch Interlaken laufen, umjubelt und begleitet von Blas- und Guggemusik und dem Geläut unzähliger Kuhglocken, dann zurück zum Startplatz am Höheweg kommen und sich schließlich auf den Weg zur Kleinen Scheidegg machen. Zuvor machen sie noch einen kleinen Schlenker zum Brienzersee, der sich lohnt. Vom See werden die Marathonis nicht viel sehen, denn hunderte Zuschauer werden ihnen wieder die Sicht verstellen und der Trychlerclub wird sie mit dem sonoren Geläut ihrer „Riesenglocken“  (richtig heißen sie Trycheln) empfangen.

Ich bin mit dem Zug nach Lauterbrunnen unterwegs. Kurz vor Wilderswil ist erstmals das Läuferfeld zu sehen. Alles im überfüllten Zug drängt ans Fenster und macht mit Rätschen und Pfeifen einen Heidenlärm. Winkt ein Läufer zurück, steigt der Geräuschpegel noch einmal an.


Lauterbrunnen hat sich wieder prächtig herausgeputzt und mit vielen bunten Fahnen geschmückt. Rechts und links der Straße stehen die Menschen dicht gedrängt, es gibt kaum eine Lücke. Links gibt es das „When the saints …“ in der Gugge-Version, rechts das Geläut aus 10 Trycheln. Eine sagenhafte Stimmung, wie ich sie nur von Berlin, Hamburg und Köln her kenne. Erst nach der Verpflegungsstelle am Ortsende wird es ruhiger. Jeder hält jeden für verrückt: die Zuschauer die Läufer, die Läufer die Zuschauer. Wehe, ich bleibe für ein Foto stehen. Sofort werde ich aufgefordert, mich zu bücken oder zu verschwinden. Keinen einzigen Läufer oder Läuferin will man verpassen. Ich bin zwischen Selbstmitleid und Begeisterung hin und hergerissen.

In Lauterbrunnen liegt bei der Halbdistanz der Kenianer Boniface Usisivu vorne. Aber er hat keinen großen Vorsprung herauslaufen können. Sergej Kaledine, der vom Start weg das Tempo bestimmte, liegt nur knapp hinter ihm und der Rückstand von Hermann Achmüller, er ist hier Dritter, beträgt nur eine Minute. Das wird dem Kenianer nicht reichen. Das Fragezeichen ist Kaledine – ist der Russe heute so stark, oder hat er sich übernommen? Der nächste Streckenabschnitt hinauf nach Wengen wird es zeigen.

Auch Simona Staicu liegt in Lauterbrunnen nur an dritter Stelle, die Spitze haben die Russinnen Kaledina und Malkova. Allerdings ist der Rückstand der Ungarin bereits 2 Minuten. Aber der Berglauf beginnt erst jetzt. 

Während sich die Marathonis 5 Kilometer und 500 Höhenmeter durch den Wengwald quälen, sitze ich im Zug Richtung Wengen. Mehrmals kommt zu Begegnungen mit dem Läuferfeld und zur Jubelorgien. Am Bahnhof in Wengen geht es zu wie auf einer Kirmes. Der Duft der Bratwurst macht Appetit und die Guggemusik gute Laune. Jedes Jahr ist der weltbekannte Skiort mit anderen Utensilien geschmückt. Einmal sind es Jungfrau-Finisher-Shirts, dann Laufschuhe, jetzt sind es bunte Luftballons, die über der Ortsstraße angebracht sind. Normal kommt man hier nicht durch, nur mit Körpereinsatz.


Hermann Achmüller läuft die schnellste Zeit hinauf nach Wengen und hat Boniface Usisivu fast eingeholt, den Russen Kaledine aber deutlich hinter sich gelassen. Mike Tanui, ein zweiter Kenianer und Gerd Frick folgen auf den Plätzen. Achmüller macht den besten Eindruck, er hat bis hierher ein intelligentes Rennen gelaufen, sich ganz auf sich und seine Stärken konzentriert und sich zu nichts verleiten lassen. Jetzt übernimmt er die Führung. Keine Änderung bei den Frauen, die Russinnen vorne, dann Staicu und auf Platz 4 Carolina Reiber.

Bis zur nächsten Zwischenzeit beim Wixi sind es rund 7,5 km und 600 Höhenmeter, die aber auf guten Wegen zu laufen sind. Hier sucht Hermann Achmüller die Entscheidung. Gleichmäßig zieht er sein Tempo durch, nur sporadisch hebt er den Blick und nimmt die herrliche Bergwelt wahr, die sich den Läuferinnen und Läufern im vorderen Feld erschließt. Wenn das Hauptfeld eintrifft, sind Eiger, Mönch und Jungfrau meist in Wolken. 

Wieder läuft der Südtiroler die schnellste Zeit und holt einen deutlichen Vorsprung heraus. Hinter ihm tut sich aber einiges. Martin Cox hat ebenfalls kräftig zugelegt und läuft als Zweiter, allerdings mit fast 4 ½ Minuten Rückstand über die Zeitmatte. Dahinter Mike Tanui. Ganz unauffällig hat sich der Schweizer Halbmarathonmeister Patrick Wieser auf den vierten Platz vorgelaufen. Der 2:07-Kenianer Usisivu verliert alleine auf diesem Streckenabschnitt 22 Minuten auf die Spitze und auf der Moräne noch einmal 14 Minuten. Ich glaube, der macht keinen Berglauf mehr.

Apropos Berglauf. „Ich bin kein Bergläufer“, sagte Achmüller schon letztes Jahr, als er Zweiter wurde. Gestern erzählte er, er habe seither keinen Berglauf mehr gemacht und sei nur im Flachen gelaufen. Und jetzt diese Leistung. Auf den letzten zwei Kilometern, so steil und anspruchsvoll sie auch sein mögen, lässt er sich den Sieg nicht mehr nehmen. Er kämpft sich nach oben, gibt auf dem kurzen, fast flachen Übergang und auf dem letzten Gefällstück noch einmal Gas und gewinnt in 3:03:18,6 Stunden. Martin Cox gibt alles und kann noch 2 Minuten gut machen, den Südtiroler aber nicht mehr einholen. Patrick Wieser macht auf der Moräne noch einen Platz gut und wird völlig überraschend Dritter.

„Das ist wie ein Sieg für mich“, freute er sich im Ziel. Schaut man sich an, wen er hinter sich gelassen hat, muss man ihm recht geben: Tim Short (4.) Gerd Frick (5.), Grigory Murzin (6.) und die Kenianer.

Die Entscheidung bei den Frauen fällt erst auf den letzten Kilometern. Am Wixi ist Simona Staicu noch Zweite hinter Malkova, dann dreht sie auf und macht auf der Moräne 4 Minuten auf ihre Rivalin gut. Das reicht zum deutlichen Sieg.

Auf der Kleinen Scheidegg ist Hochbetrieb. Aus Grindelwald und Lauterbrunnen kommt ein Zug nach dem anderen mit Schaulustigen. Der Zielhang gleicht einer Arena. Auch der Zieleinlauf  des Jungfrau-Marathon auf 2100 m Höhe hat Citymarathon-Niveau.


Das ist es,  was den Jungfrau-Marathon von anderen attraktiven Bergmarathons unterscheidet - die atemberaubende Bergwelt und die begeisterte Bevölkerung, die den Jungfrau-Marathon vereinnahmt hat, wie sonst nur das weltbekannte Skirennen am Lauberhorn. Das Prädikat „Schönster Marathon der Welt“ gaben sich die sonst auf Superlative scharfen Schweizer aber einmal nicht selber. Die beiden amerikanischen Journalisten Dennis Craythorn und Rich Hanna zeichneten den Jungfrau-Marathon 1998 in ihrem Buch The ultimate guide to international marathons damit aus.

Siegerliste
Männer


1. Hermann Achmüller ITA 3:03:18,6
2. Martin Cox GB 3:05:32,1
3. Patrick Wieser CH 3:08:07,9

Frauen


1. Simona Staicu HUN 3:39:05,5
2. Jeanna Malkova RUS 3:41:15,7
3. Elena Kaledina RUS 3:43:21,1

 

Informationen: Jungfrau-Marathon
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