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Laufberichte

Manche mögen’s irre

 

Völlig gleichmäßig ist mein Schritt, leichtfüßig federe ich über den Untergrund, bin ganz in den Pacific Crest Trail im Westen der USA eingetaucht. Über drei Stunden später hängt meine eigentlich leichte Bekleidung aufgrund des fehlenden Fahrtwindes bleischwer an mir herunter, gegen die Monotonie hilft nur noch mein Lieblingsfilm über den Badwater 135, der mir in aller Deutlichkeit zeigt, was ich läuferisch für ein Würstchen bin. Dergestalt auf dem Laufband schwitzend relativieren sich angesichts der Leistungen dieser Ausnahmeathleten die eigenen Zipperlein beträchtlich. Und doch halte ich das Training für den beabsichtigten Zweck für genau richtig.

„Du hast echt einen an der Klatsche“, meinte ein Bekannter (selbst Läufer!), der seinerzeit von Markus‘ und meinem Projekt des Karnevalsmarathons auf der 400 m-Bahn des Bad Driburger Stadions am 11.11.11 um 11.11 Uhr gehört hatte. Nun, das mochte durchaus korrekt gewesen sein, auf jeden Fall aber empfand ich die damaligen 105,5 Runden überraschenderweise als ausgesprochen kurzweilig. Klar ist aber auch, daß alles irgendwie noch zu steigern ist, z.B. bei gleichbleibender Strecke die Rundenzahl. Auf 169 beispielsweise.

Achteinhalb Stunden sparpreisige Anfahrt quer durch die Republik von West nach Ost, erstmals in meiner Laufkarriere mit der Bahn genossen, ist mir der Ausflug nach Senftenberg (in der Sprache der sorbischen Bevölkerung Zly Komorow genannt) in der Brandenburger Lausitz wert. Die 25.000-Einwohner-Stadt liegt mitten im ehemaligen Braunkohlerevier und heute größten künstlichen Seenplatte Europas und war einmal als Energiezentrale der untergegangenen DDR bekannt.
Am Samstagnachmittag angekommen, richte ich mich zunächst in einer netten, zwischen Bahnhof und dem Austragungsort gelegenen Pension ein (und verschmähe damit den für wenige Euro angebotenen Übernachtungsplatz am Veranstaltungsort), bevor ich mich auf den kurzen Fußmarsch zur denkmalgeschützten Niederlausitzhalle begebe. Aus einem Kohleschuppen Ende der 50er Jahre entstanden, war sie seinerzeit die größte freitragende Halle Europas gewesen und bot ab den 70er Jahren den DDR-Hallen-Leichtathletikmeisterschaften eine ideale Heimat. U. a. wurde in der damaligen Aktivist-Sporthalle („Lauftempel“) der heute noch gültige deutsche Hallenrekord im 60-Meter-Lauf der Frauen am 16. Februar 1985 mit 7,04 Sekunden von Marita Koch aufgestellt. Neben 1.200 Sitzplätzen bietet sie eine 250m-Laufbahn und damit sind wir beim Tagesthema angekommen.

 

 

Wer jetzt meint, ein Marathonlauf in einer Halle auf einer 250 m-Bahn sei völlig Banane, dem sei gesagt, dass das erstens zutreffend ist und zweitens am Vortag bereits ein 100 km-Lauf gestartet wurde. In der Halle. Auf der 250 m-Bahn. 400 verdammte Runden lang. Fast überflüssig zu erwähnen ist, dass es Teilnehmer gibt, die sowohl für die 100 km am Freitag als auch den Nachtmarathon am Samstag sowie die 50 km am Sonntagmorgen gemeldet haben. Richtig, 192,5 km oder 769 Runden lang. So etwas bezeichne ich als wirklich schmerzfrei, will aber meine ehrliche Bewunderung für diese gleichermaßen physisch wie psychisch für mich unvorstellbare Höchstleistung keinesfalls verhehlen. Manche mögen's irre! Puh, jetzt muss ich erstmal durchatmen! Und komme also danach zu meiner für Normalsterbliche machbaren Pussistrecke, die mir als um 18 Uhr beginnende Abend- bzw. Nachtveranstaltung zeitlich einfach am besten hinsichtlich meiner langen An- und Rückfahrt passt.

Von außen betrachtet ist die Halle völlig unspektakulär in für meine Augen typischen DDR-Stil gehalten, was aber nichts heißen muss, denn hineingeschaut habe ich noch nicht. Bevor ich die Tür öffne, schallt mir bereits lautstark „We will rock you“ von Queen entgegen. Also, Lautstärke und Mucke passen schon mal. Vor mir tut sich ein riesiger Innenraum auf, der durch verschiedenfarbige, sehr einfallsreiche Illumination toll hergerichtet ist. Einer der zahlreichen Wettkämpfe des Wochenendes ist gerade im wahrsten Sinne des Wortes am Laufen, da verziehe ich mich erst einmal auf die Zuschauertribüne, die eine komplette Längsseite ausmacht, um das Ganze in mir aufzunehmen. Die Tribüne, komplett aus Beton und mit rotlackierten Latten als Sitzfläche versehen, versprüht einen morbiden Charme, der durchaus etwas für sich hat. Schnell mit den Startunterlagen versehen (inkl. eines letztlich kostenlosen Leihchips von Lausitz Timing), sauge ich die Atmosphäre auf und freue mich auf den Wettkampf.

Was sofort auffällt ist, dass man auch uns während der Leistungserbringung mit Musik dauerberieseln wird. Und das macht aufgrund des Verbots, mit Ohrhörern zu laufen, durchaus Sinn, denn es versüßt das Rundendrehen. Falls die Musik geschmacklich passt. Wer die Ausschreibung sorgfältig las, hatte nämlich drei Musiktitel übersenden können, mit denen die Veranstalter den jeweiligen Akteuren während des Laufs eine Freude machen wollten. Mir fielen auch drei ein, genauer gesagt dreihundert, unter denen ich mich entscheiden musste. Ob ich damit allerdings allen Mitstreitern eine Freude bereiten werde, sei dahingestellt. Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen, ob die sich wirklich trauen, die Halle mit drei Doppel-T-Trägern Schwermetall in ihren Grundfesten zu erschüttern: „Children of the grave“ von Black Sabbath, „Now that we’re dead“ von Metallica, und „Hallowed be thy name“ von Iron Maiden wirken, in Konzertlautstärke genossen, wie Doping. Zumindest bei mir. Und nur darauf kommt es schließlich an.

Die ersten Runden im etwa sechzigköpfigen Starterfeld gehe ich bei ca. 16° Hallentemperatur - und damit optimalen Verhältnissen - sehr vorsichtig an, denn ich kenne die Tartanbahn nicht. Stark federnd soll sie sein, die mit ca. 30° deutlich angeschrägten Kurven, die ein evtl. Überholen – ich muss ja nicht unbedingt Letzter werden! – erschweren dürften, sind unschwer zu erkennen. Als stark federnd, nun ja, empfinde ich sie nicht gerade, aber insbesondere entlang der Tribüne erscheint die Innenbahn stark abgenutzt, teilweise sogar leicht uneben zu sein. Der Eindruck des morbiden Charmes täuschte also nicht. Vom Sprecher Adi, den hier scheinbar jeder mit Ausnahme eines tumben Wessis zu kennen scheint, erfahre ich, dass hier ursprünglich eine Aschenbahn (!) existierte und er in den fünfziger Jahren über 3.000 m Weltrekord gelaufen ist.

Erfreulicherweise müssen wir nicht mehr auf Asche bzw. Sand laufen, was bei der heutigen Bahngeometrie auch gar nicht machbar wäre, denn die Kurven sind wirklich stark angeschrägt. Und das macht den Lauf durchaus zu einer Herausforderung. Man sollte ja meinen, es gäbe nichts Simpleres, als 250 m im Oval zu laufen und dann wieder von vorne zu beginnen. Nun, das mag bei einem Einzellauf oder bei einem Wettkampf mit einer Handvoll Athleten so sein, nicht aber bei uns. Kompliziert und kräftezehrend macht es nämlich das Überholen. Die flache Innenbahn in den Kurven ist ganz eng, ein niveaugleiches Vorbeilaufen unmöglich. Und so stehe ich immer vor der Entscheidung, auf der Geraden Gas zu geben, um vor der Kurve vorbei zu sein, oder mich in der Kurve stark abzudrücken, auf die höhere, schiefe Außenbahn zu wechseln und vorsichtig wieder einzuscheren. Beides kostet Kraft und beides hemmt ein ruhiges, kontinuierliches Vorwärtskommen. Von wegen meditatives Laufen, das ich erwartet hatte! Ungestörtes Laufbandlaufen ist doch etwas anderes.

Kurz vor dem Beginn der ersten Kurve hat Lausitz Timing zwei Videowände aufgebaut, auf denen man zum einen die gelaufene Zeit sowie die Tageszeit ablesen kann, und zum anderen eine Übersicht, wer wie weit gelaufen ist und sein individuelles Restprogramm. Vertun kann man sich hier also wirklich nicht und mitzählen braucht auch keiner. Aber auch das ständige Draufstieren nervt mit der Zeit, denn die 250 m-Fortschritte sind doch sehr kleinteilig und man hat das Gefühl, kaum voranzukommen. Ich schaue also absichtlich meistens nicht hin und erinnere mich lebhaft an den Jungfrau-Marathon, wo ich bei jedem angezeigten Viertelkilometer ab dem Aufstieg von Lauterbrunnen nach Wengen drei Kreuzzeichen gemacht habe. So sind halt die Unterschiede in unserem Sport und, seien wir ehrlich, das ist auch gut so.

Auf der Gegengeraden ist ein toller Verpflegungsbereich mit allem, was das Herz begehrt (inkl. Salzgurken), zur Selbstbedienung aufgebaut. Einen Orden hat sich wahrlich der junge Mann verdient, der dort unverdrossen über mehr als drei Stunden ununterbrochen im Alleingang Wasserbecher anbietet. Ich habe mal, ganz im Gegensatz zu sonst, zwei eigene Flaschen mit vertrautem Iso mitgebracht, die ich ab und an vom Selbstverpflegertisch mitnehme, wechsele aber mit Wasser ab, um den Jungen durch ständige Ablehnung nicht zu demoralisieren. Auf dem Tisch stelle ich zwischendurch auch die Kamera ab. Kamera. Wie man's macht, macht man's verkehrt. Mit Blitz gelingen brauchbare Fotos selten, ohne gar nicht. Also müssen es diesmal einige wenige tun, die aber, so glaube ich, einen ausreichenden Eindruck vom Geschehen vermitteln.

 

 

Nach einer Stunde habe ich 10,5 km hinter mich gebracht und daher exakt die 85 Sekunden benötigt, die man für einen Viererschnitt pro Runde brauchen darf. Einmal Pipimachen ist da drin und kostet auch nur überschaubar Zeit, weil sich die Toilette im Eingangsbereich befindet und nach kaum zehn Metern erreicht ist. Freude macht mir Robert Boyde-Wolke, der wie der LäuferMann, der sein Vorbild sei, in einem anzuggleichen Ganzkörpertrikot inkl. Zylinderhut unterwegs ist. Der LäuferMann ist allerdings in einem weißen Hut unterwegs, Verwechslungsgefahr besteht also nicht. Und so spule ich Runde für Runde ab, immer auf der Hut, keinem im Weg zu stehen und den am wenigsten ungeeigneten Ort zum Überholen zu finden.

Leider, ich muss es zugeben, geht mir mittlerweile die zu unserer Unterstützung gespielte Musik mächtig auf den Senkel. Eigentlich würde ich sogar noch etwas mehr Lautstärke vertragen, was die je vier auf beiden Geraden im Abstand von etwa zwanzig Metern aufgestellten Lautsprecherboxen auch durchaus hergäben. Aber dieses überwiegend Hiphop-, Techno-, House- und sonstiges Gedöns sind für mich Liebhaber kräftigerer Töne auf Dauer nur schwer zu ertragen, auch wenn ich mich bemühe, die Ohren auf Durchzug zu stellen. Da freue ich mich lieber an der Videowand am Ende der Gegengeraden nach der Verpflegung, wo man uns schöne Naturaufnahmen zeigt.

Zwei Stunden sind vorüber, die erste Flasche geleert und 21,5 km auf der Habenseite. Wird das etwas werden? Einige machen schon schlapp, gehen immer wieder eine Weile, dehnen oder sind plötzlich gar nicht mehr zu sehen. Andere wiederum überholen in einem Affenzahn, dass man nur bewundernd staunen kann. Ja, so sind halt die Unterschiede. Eine weitere Stunde später bin ich bei 31,5 km und erst einmal froh, dass ich die Geschichte heute zur Not auch gehend nach Hause bringen werde. Aber mir ist auch klar, dass ich nachzulassen beginne und beerdige die sub 4 lieber jetzt direkt, als mich noch weitere Runden lang falschen Hoffnungen hinzugeben. Falsche Hoffnung keimt auch auf, als ich mich zu verhören glaube: Nein, es ist wahr, die nach eigenem Bekunden lauteste Band der Welt, Manowar, gibt, leider viel zu leise, ihre Hymne „Warriors of the world“ zum Besten. Ich freue mich schon auf deren Konzert im Dezember in Essen. Bedauerlicherweise bleibt dieser Ausflug ins Metallfach die Ausnahme.

Keine Ahnung habe ich, wo im Feld ich mich befinde, als das Restprogramm immer kleiner wird. Die zweite Flasche ist geleert, der strahlende Sieger und viele andere längst im Ziel, als auch ich endlich die 40 km-Marke überschreite und nur noch neun Runden vor mir habe. Mittlerweile schmerzen die Fußgelenke etwas, ich vermute von dem ungewohnten Schräglaufen in den Kurven. Aber was soll's, Laufen ist eh zu 90% Kopfsache und der Rest mental. Für 22 Uhr, nach vier Stunden Laufzeit, ist die Siegerehrung der Männer angekündigt, was im Foto festzuhalten ich nicht schaffen werde, denn noch liegen vier Runden vor mir. Da die Aktion aber länger dauert, schlägt eine halbe Runde vor dem Ende die Stunde des Reportes: Er springt auf die Innenfläche, knipst die Zeremonie und hält sie somit für die Ewigkeit fest.

Auf der Bahn zurück ist nach der letzten halben Runde auch für mich Schluss und ich lasse mich erleichtert dekorieren. Die knappen 4:07 Std. bringen mir überraschend den 2. Altersklassenplatz, eine Soforturkunde und eine Flasche Pflaumenwein ein.

Nein, weitere 21 Runden, um auf 50 km zu kommen, hätte ich bei einem Start am Folgetag sicher nicht gebraucht. Umso größer ist, nochmal gesagt, mein Respekt vor denen, die es, wie René Wallesch, mit dem ich mich länger unterhalte, getan haben oder wie die Rohwedders, die in drei Tagen tatsächlich geschlagene  siebenhundertneunundsechzigmal ums Oval gewetzt sind.

Etwas schade ist, dass ich diesmal kaum Gelegenheit hatte, auch das Drumherum ein wenig eingehender kennenzulernen, denn üblicherweise möchte ich schon genauer wissen, wo ich mich befinde. Zu mehr als ein paar Minuten Innenstadt und Schlosspark reicht die Zeit leider nicht, wenigstens kann ich Euch ein paar Fotos mitbringen. Nun ja, vielleicht ist das ja ein Grund, irgendwann einmal zurückzukehren. Wie ich mir habe sagen lassen, wird der Spreewaldmarathon vergleichsweise um die Ecke ausgetragen, da wäre also noch Potential.

 

 

Das einzige Manko aus meiner Sicht ist tatsächlich die Sache mit der Musik: Wenn man schon die Zusendung dreier Titel anbietet, erwartet der Läufer sie auch zu hören. Und sollten diese bei der Qualitätsprüfung durchfallen, könnte man ja einen Hinweis geben. Dadurch würde wie bei mir vermieden, drei Stunden darauf zu warten und sie in der letzten zähen Stunde vergeblich herbeizusehnen. Abgeschreckt hat mich die Veranstaltung natürlich trotzdem nicht, sondern ganz im Gegenteil hat es sehr viel Freude gemacht und den großen Aufwand gelohnt. Die Versorgungsdichte ist schon konkurrenzlos, zur perfekten Wellness hätten sie uns eigentlich nur noch um die Runden tragen können.

 

Streckenbeschreibung:
Durchgehend flacher, gut strukturierter und bestens zu belaufender Rundkurs ohne größere Überraschungen. Verlaufen ist fast ausgeschlossen.

Startgebühr:
45 bis 55 € je nach Anmeldezeitpunkt, 20 € Transponderpfand.
 
Weitere Veranstaltungen:
250 m, 1.000 m, 3.000 m (Lauf und Walk), 5.000 m, 10.000 m, HM, 2 x M, 50 km, 100 km.
 
Leistungen/Auszeichnung:
Medaille, Urkunde für jeden, Sachpreise für die Schnellsten.

Logistik:
Alles innerhalb der Halle und damit nicht zu toppen.

Versorgung:
Lediglich eine Station mit allem Erforderlichen und sehr viel mehr (Tee, Wasser, Cola, isotonisches Getränk, Bier, Bananen, Äpfel, Salzgurken, Kekse, Riegel, Schokolade, Nüsse, Salzbrezeln, Schwämme zum Erfrischen, Vaseline, Blasenpflaster), die dazwischenliegenden 250 m muß man irgendwie überleben.

Zuschauer:
Verständlicherweise nur wenige.

 

Informationen: Hallenmarathon Senftenberg
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