Er ist keineswegs der größte seiner Art (wenn auch einer der „Großen“), der Streckenverlauf ist auch nicht unbedingt als spektakulär zu bezeichnen und er ist zudem alles andere als bestzeitentauglich.
Dennoch gibt es wohl keinen Marathon, der in Läuferkreisen so viel Prestige und Tradition vorzuweisen hat wie der Boston Marathon. Vor allem in den USA wird dies deutlich, wo jeder Marathon, der etwas auf sich hält, sich als „Boston Marathon Qualifier“ bezeichnet. Denn nach Boston darf grundsätzlich nicht jeder, sondern nur, wer sich „qualifiziert“. Und die Qualifikationszeiten haben es in sich – so etwa 3:15 in der M35 und 3:30 in der M45, erzielt in einem Marathon in den letzten 19 Monaten vor dem Lauf. Europäer haben es allerdings etwas leichter, denn die haben die Möglichkeit, auch ohne „Quali“ einen Startplatz zu bekommen, wenn sie über einen Reiseveranstalter buchen und ein erhöhtes Startgeld zahlen. Dass sich trotz der Zeithürde 2008 wieder gut 25.000 Läufer/innen aus aller Welt auf die limitierten Startplätze gestürzt haben, spricht für sich.
Der Reiz des Elitären ist das eine, die Tradition das andere, was den Boston-Marathon heraushebt. Seit 1897 wird der Boston Marathon ununterbrochen ausgetragen, 2008 stand damit der 112. Lauf an – da kann weltweit kein anderer Marathon auch nur ansatzweise mithalten. Diese Tradition wird von den Veranstaltern sorgsam gepflegt und kultiviert. Zu ihr gehören der angestammte Streckenverlauf vom ländlichen Hopkinton bis ins Zentrum der Metropole Boston ebenso wie die alljährliche Austragung am stets auf einen Montag fallenden Patriots Day, in diesem Jahr am 21.04.2008, und das „corporate design“ der Veranstaltung, das allgegenwärtige Blau-Gelb mit dem Einhornwappen der veranstaltenden Boston Athletic Association.
Doch es sind auch noch andere Dinge, die dem Boston Marathon als Ruf vorauseilen: eine hervorragende Organisation und ein feierfreudiges Publikum. Für mich waren das jedenfalls genug Gründe, die lange Reise über den Atlantik anzutreten, um erstmals der „Mutter aller Volksmarathons“ die Ehre zu erweisen, zusätzlich motiviert durch den Umstand, als „Qualifikant“ auch ohne Hintertürchen teilnehmen zu können.
Schon beim mittlerweile recht sicherheitsintensiven Einreiseprozedere in die USA über den Logan Airport in Boston am Freitag Abend sind die Vorboten des Ereignisses zu spüren: Die investigative Befragung des Immigration Officers dreht sich fast ausschließlich um den Marathon (wie oft, wie schnell etc.) und mit den besten Wünschen für ein erfolgreiches Finishing wird mir der weitere Zutritt ins Land gewährt. Auf dem Weg in die Stadt künden zahllose Werbeplakate vom anstehenden Lauffest.
Run auf die Marathonmesse
Gleich am nächsten Morgen drängt es mich zur ersten vormarathonischen „Amtshandlung“: Dem Besuch der Marathonmesse. Drei Tage, von Freitag bis Sonntag, hat man in Boston die Gelegenheit, dort seine Startunterlagen abzuholen und sich dem Kaufrausch hinzugeben. Untergebracht ist die Messe im zentral nahe dem Zieleinlauf des Marathons gelegenen und gut per Metro (Green Line) erreichbaren Hynes Convention Center. Schilder dirigieren mich zur toporganisierten Startnummernausgabe, wo ich ohne Wartezeit zunächst meine Nummer selbst und anschließend - entsprechend der gewünschten Größe des Marathonshirts - den mit Papier, Funktionsshirt und sonstigen „Gimmicks“ gefüllten Kleiderbeutel in Empfang nehmen kann. Praktisch ist, dass man in einem Nebenraum vorher anprobieren kann, welche Größe im Bereich XXS bis XXXL die individuell richtige ist.
Pastaparty vom Feinsten
Ein weiteres vormarathonisches “Must” ist die große Pasta-Party am Sonntag von 16.30 bis 20 Uhr. Geladen ist in die City Hall, einem architektonisch durchaus ausgefallen konstruierten grauen Betonmonster im zentralen Downtown, allerdings mit dem Charme und auch optisch nicht ganz fern einer Hochgarage. Auch hier gelingt es den Veranstaltern durch allerlei Tricks, trotz des Besucheransturms Menschentrauben an Ein- und Ausgang zu vermeiden. So muss man, um zum Buffet im Untergeschoss der City Hall zu kommen, erst einmal eine lange Schleife durch den auf dem vorgelagerten Platz gastiereden Big Apple Circus drehen, wo ein paar Artisten und Clowns für Kurzweil sorgen. Ohne jegliches Warten erreiche ich so die Essensausgabe, wo bei lauter Discomusik super gelaunte Volunteers Styroporschachteln je nach Wunsch mit einer oder mehreren der drei angebotenen Nudelgerichte füllen und Salat füllen. Ein Stockwerk höher gibt es Getränke und ausreichend Sitzgelegenheiten. Die tiefstehende Sonne durchleuchtet das nach allen Seiten offen gebaute Stockwerk und taucht alles, selbst den Beton, in warme Farben. Ich genieße die wohl beste Marathon-Pasta, die ich bisher erlebt habe. Restaurantqualität hat die Lasagne mit feiner Zimtnote ebenso wie die Rigatoni mit getrockneten Tomaten und frischem Basilikum - und Nachschlag gibt es so viel man will. Länger als erwartet dauert dann allerdings der Abmarsch. Vom Ausgang der City Hall um das Zirkuszelt herum wartet bereits eine lange Menschenschlange - vor dem “Dessert-Zelt”. Entgehen lasse ich mir auch das nicht. Der “Lohn” der Warterei ist, dass wir eine Plastiktüte nach Belieben mit Chips- und Popcornbeuteln, Yoghurt, Obst und zu guter List mit Lindt(!)-Pralinen befüllen dürfen.
Der lange Weg zum Marathonstart
Schon kurz vor 5 Uhr am Marathon-Montag klingelt der Wecker- fünf Stunden vor dem offiziellen Marathonstart. Ein Stündlein lasse ich mir Zeit für all die kleinen Dinge, die vor einem solchen Ereignis so anfallen. Punkt 6 Uhr steht der Shuttle-Bus vor dem Hotel, der uns ins Stadtzentrum zur Tremont Street bringt, von wo aus die zentrale Verladung der Teilnehmer zum Start in Hopkinton erfolgt. Auch dieses Unterfangen ist ein Musterbeispiel für die ausgereifte Organisation der Veranstaltung. Denn es gilt, von 6 bis 7.30 Uhr, also innerhalb von nur 1 1/2 Stunden, zwischen 20.000 und 25.000 Menschen in Schulbusse zu verfrachten. Hochgerechnet bedarf es dafür zwischen 400 und 500 Bussen und so wundere ich mich nicht, dass in den Nebenstraßen bereits eine gewaltige Armada jener charakteristischen gelben altertümlichen Busse in Wartestellung steht. Jeweils etwa 20 dieser Busse reihen sich in der Tremont Street hintereinander am Straßenrand auf. Vor jedem Bus bildet sich eine lange Schlange, die schon bald weit in den angrenzenden Stadtpark hineinreicht. Das funktioniert ohne jedes Chaos. Das weitere Prozedere läuft so, dass alle in der Reihe jeweils wartenden Busse gleichzeitig bis auf den letzten Platz besetzt werden und dann gleichzeitig im Konvoi losfahren. Es rücken sodann sofort die nächsten 20 leeren Busse nach und die nächste Besetzungsrunde läuft. Ich bin überrascht, wie schnell ich einen Platz in einem Bus finde und kurz darauf über die Highways aus der Stadt hinaus brause. Stets haben wir Vorfahrt - dafür sorgt schon die State Police, die sich mit Blinklicht an neuralgischen Punkten, etwa den Mautstellen des Highways, postiert hat. Etwa eine Dreiviertelstunde sind wir unterwegs durch den trüben kalten Morgen, genug Zeit, um mir wieder einmal bewusst zu machen, dass 42 km ganz schön weit sind und die Vorstellung, all das, was wir jetzt hinaus fahren, - wenn auch auf einer anderen Strecke - zurück laufen zu müssen, vermittelt mir schon ein etwas mulmiges Gefühl. Vom Highway geht es schließlich über kleine, kurvige Sträßchen durch Wälder bis ins einsam verschlafene Dorf Hopkinton mit seinen hübschen Holzhäuschen und akkuraten Vorgärten. Unser Ziel ist das weite Gelände der Middle School am Ortsrand von Hopkinton, wo traditionell das “Athletes Village” errichtet ist.
Um 9.15 Uhr hält mich allerdings nichts mehr im “Village”. Einen knappen Kilometer muss ich von hier aus schnurgerade über die Grove Street, eine schmale Wohnstraße, durch Hopkinton marschieren, ehe ich das eigentliche Startgelände erreiche. Gleich am Anfang dieser Straße erwartet mich zunächst das schon vertraute Bild zahloser hintereinander parkender Schulbusse, die dieses Mal allerdings zum Zwecke der Gepäckabgabe bereit stehen. Je näher ich mich dem Startgelände nähere, desto dichter wird der Trubel und größer wird die Hektik.
Der Marathonstart findet in Hopkinton auf der Main Road bzw. “Route 135" statt. Da diese Straße für einen gleichzeitigen Start von 25.000 Läufern zu schmal ist, wird der Start durch Teilung der Läufer in zwei Wellen entzerrt - die erste “Wave” startet und 10 Uhr, die zweite um 10.30 Uhr. Wave 1 ist den aufgrund ihrer nachgewiesenen Qualifikationszeit schnelleren Läufern vorbehalten; die Qualifikationszeit ist darüber hinaus für die Aufstellung in einer der 13 abgeteilten Corrals maßgeblich. Die Startnummer gibt bereits den zugeteilten Corral an. Mit Startnummer 10797 bin ich zwar in der Wave 1, lande aber mit Corral 10 eher im hinteren Feld der Startaufstellung. Ordner achten darauf, dass die immer zahlreicher herbeiströmenden Läufer im richtigen Corral “einchecken”. Die Spannung steigt. Zufall oder nicht - kurz vor dem Start rasen zwei F15-Jäger über die Läuferschar hinweg. Dem spontanen Gejohle folgt ergriffene Stille, als live über Lautsprecher die amerikanische Nationalhymne erklingt. Gleichzeitig bricht die Sonne durch die Wolken. Soviel Pathos auf einmal - das gibt es wohl nur in den USA.
Um Punkt 10 Uhr ist es soweit: der Startschuss ertönt und man merkt förmlich, wie die Spannung abfällt und in erleichtertes Jubelgeschrei umschlägt. Allerdings muss ich mich schon noch etwas gedulden, denn nur langsam schieben sich die Menschenmassen vor mir die Straße hinauf. Erst nach 6 1/2 Minuten erreiche ich den Scheitelpunkt der Hügelkuppe und damit die Startlinie.
Aus der Provinz in die Metropole
Wie ein Pinball werde ich – zumindest gefühlsmäßig - ab der Startlinie in die Laufstrecke geschossen. Vom Start weg erwartet uns gleich die erste kräftige Gefällstrecke und befreit von der langen Warterei habe ich den Eindruck, dass jeder erst einmal tempomäßig “Dampf ablässt”, auch wenn das Läuferfeld noch sehr dicht ist. So wenig ich vorher von der Bewohnern Hopkintons mitbekommen habe - hier am Start scheinen sie auf einmal alle versammelt zu sein. Ein dichter Pulk Hunderter von Menschen begrüßt und verabschiedet gleichzeitig die Startenden laut klatschend und mit den besten Wünschen.
Wie ein schier endloser Lindwurm windet sich der Läuferstrom über die Route 135 durch die Hopkinton umgebenden Wälder gen Osten. Den ersten Kilometer geht es durch die dichte Natur flott bergab, ehe wir durch einen kurzen kräftigen Gegenanstieg daran erinnert werden, dass der Bostoner Kurs nicht ohne Grund zu den anspruchsvollen zählt. Aber noch steckt das jeder locker weg. Die ersten Meilen im lockeren Auf und (primär) Ab sind noch sehr entspannend und erinnern eher an einen beschaulichen Landschaftslauf.
Mit Erreichen der ersten Ortschaft nach Hopkinton, dem Städtchen Ashland bei Meile 3/ km 5 werden wir jäh aus der meditativen Ruhe gerissen. Ich kann es kaum glauben, welche Menschenmengen sich hier in dichten Reihen entlang der Straße postiert haben und voller Enthusiasmus die vorbeiziehenden Läufer anfeuern. Das gleiche Bild erwartet uns - nach einem weiteren Ausflug in die Natur - in Framingham bei Meile 6/km 10. So beschaulich und provinzlerisch die kleinen Orte mit ihren niedrigen Holzhäuschen wirken – heute scheint (fast) alles auf den Beinen zu sein. Man merkt: der Patriots Day ist hier gleichzeitig der Marathon Day und der Familienausflug an die Marathonstrecke hat Tradition. Die Herzlichkeit und Ausgelassenheit des Empfangs und die geballte Wucht des Andrangs lässt keinen kalt.
Die Strecke plätschert ohne nennenswerte Kurven in leichtem Auf und Ab dahin. Die Sonne nimmt an Kraft zu, aber ein leichter kühler Wind lässt dies gut ertragen. Hinzu kommt eine mustergültige Getränkeversorgung. Ab Meile 2 erwartet uns jede Meile und damit 25 Mal (!) jeweils beiderseits der Strecke eine langgezogene Versorgungsstelle, erst rechts, dann links, erst Gatorade, dann Wasser. So gibt es nie Gedränge und man kann sich bestens darauf einstellen. Einziger Wermutstropfen: Zu „Beißen“ gibt es auf der gesamten Strecke bis ins Ziel nichts. Doch wird von privater Seite Einiges unterwegs angeboten, vor allem Orangenscheiben und vor allem durch Kinder. Ich habe mir dennoch vorsichtshalber einen Energie-Riegel eingepackt.
Ausgezeichnet ist auch die Streckenmarkierung. Angezeigt wird jede Meile (etwas größer) und jeder Kilometer (etwas kleiner). Eine offizielle Netto-Zeiterfassung per Chip erfolgt alle 5 Kilometer – hier dominiert ausnahmsweise mal das metrische über das Meilen-System –, ebenso die Anzeige der zurückgelegten Bruttozeit seit Startschuss per Digitaluhr.
Bei Meile 9 passieren wir den idyllischen Lake Cochituate – nur eine Meile später sind wir im Hexenkessel von Natick. Natick ist etwas größer und städtischer als Ashland und Framington, und hier erlebe ich eine weitere Steigerung des Zuschauergetümmels. In vielen Reihen, dicht an dicht drängen sich Tausende, Jung und Alt an der Strecke, werden Plakate und Fahnen geschwenkt und mit unermüdlichem Anfeuern ein unglaublicher Geräuschpegel erzeugt. Selbst die Bewohner eines Altenheims, in ihren Rollis in erster Reihe entlang der Straße aufgereiht, freuen sich über diese Art der Abwechslung. Des öfteren kann ich Barbecue-Parties am Straßenrand beobachten; der Duft des gegrillten Fleisches lässt mich richtig neidisch werden. Vielleicht ist es gerade auch der Wechsel aus eher ruhigen Landschaftspassagen einerseits und den Menschenmassen und der Feier- und Feststimmung in den Orten andererseits, die einem in besonderer Weise und immer wieder ein echtes Gänsehaut-Erlebnis bescheren.
Gespannt bin ich nun schon auf Meile 12/ km 20. Denn hier wartet ein Markstein der Strecke, dem ein fast schon legendärer Ruf vorauseilt: das Wellesley Collage. Hinter Natick wird es aber zunächst einmal wieder ruhig. Ich horche – aber es ist nichts Außergewöhnliches zu hören. Wir passieren schließlich das Straßenschild mit dem Namen des Colleges und ich sehe die verlassenen Schulgebäude – immer noch nichts. Ein wenig Enttäuschung macht sich breit. Fällt die Show in diesem Jahr aus? Da vernehme ich ein leises Sirren in der Ferne, das immer mehr zu einer Geräuschkulisse anschwillt, das mich an ein Fußballstadion bei einem Torschuss erinnert – nur eine Oktave höher. Und dann geht es ganz schnell: Auf einmal sind sie da, Hunderte von 14 bis 18-jährigen Mädels, wild gestikulierend und sich hemmungslos der kollektiven Massenhysterie hingebend. Einzelne Laute sind nicht auszumachen, ein einziger schriller, durchdringender Dauerton erfüllt die Luft. Beim männlichen Teil der Läuferschar ist eine auffallende Konzentration am rechten Straßenrand da, wo der Jubel am größten ist, auszumachen. Viele nutzen die Gelegenheit, binnen kürzester Zeit unzählige Hände abzuklatschen und so mancher lässt sich die Aufforderung „kiss me!“ nicht zwei Mal sagen oder verweilt zu einem Fotostop. Später erzählt ein Läufer stolz von 14 Telefonnummern, die er eingesammelt habe. Zumindest nimmt jeder ein Lächeln und ein leicht taubes Gefühl im Ohr von diesem besonderen Highlight der Strecke mit.
Der kurz darauf folgende Ort Wellesley markiert die Halbzeitmarke. 1:38 – ich bin zufrieden und schneller unterwegs, als ich dachte. Fantasien einer 3:20er-Endzeit geistern durch meinen Hinterkopf und verdrängen zeitweilig die Vernunft, die mich daran erinnert, dass da ja noch jene berüchtigten Hügel anstehen. Aber noch läuft der „Motor“ rund – und ich lasse es laufen, freue mich über das begeisternde Publikum, das auch wieder in Wellesley lückenlos die Straßen säumt und für eine fantastische Stimmung sorgt. Noch immer geht es tendenziell eher bergab als bergan, schließlich hinab in die Senke des River Charles, jenes Flusses, der Boston durchschneidet.
Der River Charles bei Meile 16 / km 25,5 markiert das vorläufige Ende des „easy running“. Die Newton Hills liegen vor uns, konkret: vier längere Anstiege auf den nächsten fünf Meilen. Es geht nicht steil hinauf, aber dafür beständig. Um die 40 Höhenmeter sind es zunächst, verteilt auf etwa eine halbe Meile. Der erste Hügel ist kein Problem. Bei Meile 17 bekomme ich einen doppelten Energieschub. Zum einen werden hier einmalig Energie-Gels an die Läufer ausgegeben, zum anderen wartet Reiseveranstalter Interair mit einem Sonderservice für seine Teilnehmer in Form von Bananen und Fotoshooting auf. Das gibt Schwung für den nächsten Anstieg bei Meile 17,5. Dennoch merke ich: die Anstiege gehen in die Beine und drücken das Tempo. Noch stärker wird mir das beim dritten Anstieg bei Meile 19 bewusst. Aber: den anderen geht es genauso. Zunehmend sehe ich Läufer, die resignierend zum Fußmarsch übergehen. Ein Mitläufer fragt mich leicht verzweifelt, ob das nun schon der letzte Hügel war – ich muss ihn enttäuschen. Die Zuschauer in Newton geben ihr Bestes uns anzufeuern, aber nicht wenige Läufer sind auch damit nicht mehr erreichbar.
Bei Meile 20,5 / km 33 ist es soweit. Der letzte, größte und wahrscheinlich berühmteste Marathon-Hügel der Welt liegt vor mir: der Heartbreak Hill. Er ist weder besonders attraktiv, noch in irgend einer anderen Weise sonderlich auffallend. Es sind allein die (angeblich) 53 Höhenmeter, die dem Marathonläufer in der Spätphase des Laufs das (Lauf)Leben schwer machen und der einprägsame Namen, denen dieser Hügel seine besondere Bekanntheit zu verdanken hat. Normalerweise wäre seine läuferische Bezwingung ein „Klacks“, im Hier und Jetzt ist er für die meisten jedoch eine echte Herausforderung. Auch ich merke, wie ich auf dieser elend langen Steigung kämpfen muss und versuche mich durch die Vorstellung abzulenken, dass es danach (fast) nur noch hinab geht. Schon eine Frage der persönlichen Ehre ist für mich allerdings, hier auf keinen Fall zu gehen oder gar stehen zu bleiben.
Bei Meile 21 / km 34 ist es geschafft. Jäh stürzt die Strecke jenseits der Hügelkuppe hinab und die Beine laufen wieder wie von selbst. Fern am Horizont sehe die beiden markanten Wolkenkratzer des Prudential Building und des John Hancock Towers in der Back Bay von Boston. Von diesen weiß ich, dass sie auf Höhe des Zieleinlaufs liegen. Aber ermutigend ist das für mich keineswegs – denn von hier aus scheinen sie noch endlos weit entfernt zu liegen.
Ab dem Heartbreak Hill laufen wir fast nur noch durch städtisches Gebiet. Man merkt den Einfluss des nahen Boston. Die Zuschauerreihen reißen jetzt fast gar nicht mehr ab. Ein Höllenspektakel erwartet uns nahe dem Boston College kurz nach dem Heartbreak Hill. Dankbar bin ich für jede Versorgungsstation, weniger wegen des Gatorade, das ich nicht mehr sehen kann, als vielmehr wegen des kalten Wassers, das ich mir zwecks wohltuendem Kälteschock über den Kopf gießen kann. Dass ich das mit einem ordentlichen Sonnenbrand auf der Schulter büßen muss, merke ich erst im Ziel.
Die Meilen ziehen sich. Die vorstädtische Umgebung ist nicht besonders interessant, zumindest empfinde ich es so, und die Zuschauer können mich auch nicht mehr so recht motivieren. Es ist warm geworden und das Laufen mühsam; ich versuche mich gedanklich vom dem, was meine Beine in gleichmäßiger Arbeit verrichten, zu lösen und mich auf anderes zu konzentrieren. Über die Beacon Street geht es immer weiter hinein in die Stadt. Etwa bei Meile 24 sehe ich am Horizont ein riesiges „CITGO“-Werbeschild. Diese Wegmarke hat für die Läufer besonderen Symbolcharakter, denn sie kennzeichnet den Beginn der letzten Meile. Das weckt mich aus meiner Lethargie. Vor dem Schild geht es scharf nach rechts und kurz darauf wieder nach links, was insofern erwähnenswert ist, weil es die ersten wirklich markanten Richtungswechsel auf der Strecke sind.
Ich erreiche die lange Schlussgerade der Bolyston Street. Mehrreihig säumen die Menschen die Straße und treiben die Läufer lärmend zum Schlussspurt an. Was für ein Finale! Ein Blick auf die Uhr mobilisiert meine noch vorhandenen Restenergien. Zumindest unter 3:30 zu bleiben ist mein Ziel. In der Ferne erblicke ich den mächtigen blauen Bogen des Zieleinlauftores. Den Blick davon nicht mehr abwendend scheinen alle Anstrengungen auf einmal verflogen. Schon bald höre ich die dauerquasselnde Lautsprecherstimme des Einlaufkommentators. Die letzten paar hundert Meter tauche ich ein in ein wahres Zuschauermeer. Die dichten Menschentrauben lassen zwischen Häusern und Laufstrecke keinen Platz mehr, kurz vor dem Ziel türmen sie sich zudem auf mobilen Tribünen. Dann geht alles ganz schnell: Vorbei an einer Stafette wehender Fahnen, über die roten Matten der Zeitmessgeräte und die breite blaue Bodenmarkierung mit dem Wort „Finish“ hinweg – und es ist geschafft. Ein herrliches Gefühl.
Apres Marathon
Gefeiert werden im Ziel auch noch die Läufer, die nach 6 Stunden netto eintrudeln. Wer es allerdings nicht bis 16:45 geschafft hat, hat Pech - der erhält zwar noch den Applaus des nun rarer gewordenen Publikums, kommt aber nicht mehr in die Wertung. Das Marathonfest ist aber auch dann noch nicht ganz zu Ende: Abends sind wir zur After-Marathon-Party im “The Roxy and Pearl”, einem großen Nachclub in der Back Bay nahe dem Zielgelände geladen. Bei lauter Live-Musik können wir auf Großleinwänden über der Tanzfläche Filmbilder des heutigen Laufs verfolgen und bei Bier und Cocktails das Erlebte rekapitulieren. Erst hier sehe ich, dass der Kenianer Robert Cheruiyot in 2:07:46 zum vierten Mal den Boston-Marathon gewonnen hat. Bei den Frauen hatte die Äthiopierin Dire Tune in 2:25:25 die Nase vorn.
Was bleibt
Boston bietet eine rundum perfekte Organisation, eine nicht einfache, aber schöne und abwechslungsreiche Strecke und viele Zuschauer. Das bieten auch einige andere große Marathonveranstaltungen. Aber es ist etwas anderes, was den Boston Marathon letztlich einmalig macht: Die “Emotion”. Dies ist es, was mir den Lauf in Boston unvergesslich bleiben lassen wird. Die Art und Weise, wie die Zuschauer an der Strecke mitgegangen sind und mitgefeiert haben, ist einmalig und macht - zumindest für mich - den Boston Marathon in der Liga der Großmarathons zu einer Klasse für sich