Als passionierter Marathonsammler habe ich ein Faible für Jubiläumsläufe. Dass nun der 40. Berlin-Marathon mit meinem 160. zusammenfallen würde, hatte ich nicht einkalkuliert, als ich im Oktober 2012 während eines Karibikurlaubes vergeblich versuchte, mit einem Uralt-PC und langsamer Datenverbindung in einem Call-Shop in St. George auf Grenada Punkt 12 Uhr MEZ die Option auf einen Startplatz in der ersten Tranche zu ziehen. Binnen Sekunden waren die ersten Zehntausend vergeben.
Noch symbolträchtiger mag sein, dass ich meinen 42. Marathon in diesem Kalenderjahr in Berlin laufen will und die ehrenvolle Aufgabe übernommen habe, als Österreicher bei diesem Event der Superlative in der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland wieder als M4Y-Läufer mit einer Pocketkamera unterwegs zu sein.
Die Fahrt am Vortag mit der U6 zum ehemaligen Flughafen Tempelhof, wo die Startunterlagen ausgegeben werden, erweist sich als Geduldspiel. Wegen einer baulich bedingten Unterbrechung der Verbindung auf Höhe der Friedrichstraße bis zur Französischen Straße marschieren Tausende Läufer in dieselbe Richtung. Die U6 verkehrt auch dann nur mehr eingleisig, es herrscht großes Gedränge. Verlaufen kann man sich aber kaum, denn alle wollen nur eins: so rasch wie möglich zur Marathonmesse kommen.
Voriges Jahr bin ich erst um 16 Uhr angereist. Das erwies sich als Fehler, denn ich stand am Ende einer vielleicht 200 m langen Schlange und wartete stundenlang. Heuer bin ich schon um 12 Uhr vor dem Gebäude, doch auch um diese Tageszeit drängen sich schon Massen in die Messehallen. Nach knapp einer Stunde habe ich es geschafft. Beim Einlass bekomme ich einen Kleiderbeutel mit einigen Werbematerialien ausgehändigt, nicht aber die Startnummer. Es dauert wieder 20 Minuten, bis ich drankomme. Die ältere Dame fragt mich, ob sie meinen bei der Anmeldung angeführten Champion-Chip technisch auf seine Funktionsweise überprüfen soll. Ich sage zu ihr: „Den habe ich aber nicht bei mir.“ Worauf sie sorgenvoll nachfragt: „Haben sie ihn denn in Wien…?“ „Nee, am Laufschuh im Hotel in Berlin…“ Eine nette Unterhaltung, die der Ami hinter mir nicht versteht.
Das Vielvölkergemisch, genau genommen müsste man von Nationen sprechen, kennzeichnet die Marathonmesse in Berlin. Hinter den Deutschen dürften auch heuer wieder die Dänen bei den Teilnehmerzahlen an der zweiten Position sein. Ich habe mir voriges Jahr ein Marathonshirt für mich und eine Jacke für die Tochter gekauft, heuer ist die Kollektion noch größer und auch schöner. Neu ist, dass einem am Ausgang zurück in den weitläufigen Bereich der Verkaufsmesse ein blaues Band um das Handgelenk gelegt wird, das als Erkennungszeichen am Marathontag dient und den Zugang zum Startbereich ermöglicht.
Inzwischen ist die Warteschlange schon deutlich länger geworden. Ich sehe mich um und erblicke an einem Stand den Pumuckl, den jeder Marathonläufer zumindest in Deutschland schon einmal auf irgendeiner Strecke angetroffen hat – entweder sich mit Zuschauern unterhaltend oder aber in vollem Lauf von hinten kommend, um nach 5 km wieder eine Pause einzulegen. Dietmar Mücke, so sein bürgerlicher Name, läuft barfuß und schon unzählige Marathons absolviert. Nach dem heurigen Thermenmarathon in Bad Füssing im Februar hat er mir erzählt, dass er monatlich einen Ultralauf um den Chiemsee veranstaltet, der gleich an 2 Tagen hintereinander stattfindet.
Hautaugenmerk bekommt dann jedoch nicht der Pumuckl, sondern der von einer Moderatorin herzlich begrüßte deutsche 5000 m Olympiasieger Dieter Baumann. Ich bin überrascht, wie sportlich fit der bald 50-jährige Ausnahmeleichtathlet aussieht. Er hat dann auch die passende Antwort, mehr im Scherz als ernst gemeint, parat, als er gefragt wird, warum er nach Berlin gekommen sei. „Ich bin und sehe mich als Experte, weil ich genau das gleiche erlebe wie die anderen Läufer. Nach 30 km werde auch ich müde, spüre meine Beine. Ich tue mir genauso schwer beim letzten Viertel eines Marathons wie die meisten anderen hier.“ Nach seiner aktiven Karriere ist Baumann 2007 in Frankfurt den Marathon in 2:30 gelaufen. Er weiß, wovon er spricht.
Tagwache ist am Marathontag um 6 Uhr. Für das kleine Zimmer ohne Komfort – nicht einmal ein Tisch befindet sich im Zimmer im 4. Stock eines Wohnhaues in der Rankestraße – zahle ich für die Nacht von 28. auf den 29. September 120 Euro. Alle Hotels haben wegen des Anlasses die Preise erhöht. Der Rezeptionist sagt, dass mein Zimmer sonst nur 65 Euro kosten würde. Leider war drei Wochen vor dem Marathon in der Gegend des Kurfürstendamms unter 150 Euro nichts mehr zu bekommen, sonst hätte ich eine bessere Unterkunft gebucht. Obwohl seit dem Mauerfall das Zentrum von Berlin in die Mitte der Stadt um das Regierungsviertel gerückt ist, halte ich mich nach wie vor am liebsten im ehemaligen Westberlin auf. Das ist eine alte Gewohnheit, als Ösi bleibe ich ein überzeugter Wessi.
Auch das Frühstück ist bescheiden, doch ich habe mir am Vortag noch einiges bei Ullrich, meinem Hausladen am Zoo, besorgt. So frühstücke ich nach dem kargen Hotelfrühstück nochmals auf der Bettkante. Nach einem Wettercheck gehe ich ohne Eile um 7.30 Uhr aus der Unterkunft und fahre mit der zur S-Bahn vom Bahnhof Zoo zum Hauptbahnhof. Im Zug sind wenige Läufer anzutreffen, doch am Hauptbahnhof strömen plötzlich Hunderte von allen Seiten zum Ausgang in Richtung Reichstag, genau genommen über die Spreebrücke ins Grünareal um den Platz der Republik zum Start- und Zielbereich. Es hat kaum mehr als 8 Grad am Morgen, doch es würde trockenes, sonniges Herbstwetter zu erwarten sein. Bei guten Wetterbedingungen könnte ein neuer Weltrekord aufgestellt werden, spekuliert die Sportpresse. Dafür in Frage kommen mehrere Kenianer, am ehesten der Sieger des London Marathon 2012 und Olympiadritte Wilson Kipsang.
Man sieht und spürt die Hektik, viele Läufer sind auch sichtlich nervös bzw. angespannt. Ein Marathontourist wie ich hat keinen Stress, höchstens ein Zubringerverkehrsmittel würde plötzlich ausfallen oder mein Chip hätte sich vom Schuhband gelöst. So aber gebe ich meinen Kleiderbeutel bei der betreffenden, ein bestimmtes Startnummernkontingent umfassenden Aufbewahrungsstelle ab. Eine junge Helferin antwortet schlagfertig, als ich sie frage, ob meine Nummer 22.276 nicht eine harmonische Zahl sei: „Mit der werden Sie bestimmt im nächsten Zahlenlotto gewinnen…“
Die Entfernung von der Abgabestelle bis zum Block G, wo ich aufgrund einer angeführten Finisherzeit um 4 Stunden zugeteilt bin, ist ca. 1 km weit entfernt. Die Blöcke haben unterschiedliche Startzeiten, um 8.45 Uhr geht es für mich los. Vorher aber knipse ich noch das Geschehen, wie auch schon davor während der Anreise mit der S-Bahn und am Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude. Meine Stimmungsfotos sind reine Schnappschüsse, die manchmal mehr Aussagekraft haben als ein um 20 Euro kaufbares Profibild von einem Fotografen vom Motorrad aus aufgenommen, von einem Klappsessel neben der Laufstrecke aus oder gar vom luftigen Kran aus der Höhe.
Es geht los. Letztes Jahr war mir so kalt, dass ich einen Pulli vom Boden aufhob und ihn bis Kilometer 5 anhatte. Viele der weggeworfenen Sachen sind noch tragbar. Beim New York City Marathon werden abgelegte Sportkleidungsstücke für soziale Zwecke gesammelt, bei uns landen sie häufig in der Altkleiderverwertung, die daraus Flickenteppiche u.a. erzeugt. Die Canon IXUS im Anschlag, einen zweiten vollgeladenen Akku in der kleinen Bauchtasche, so laufe ich anfangs wie alle etwas zu schnell die Straße des 17. Juni entlang nach Westen in Richtung Siegessäule, die man ja kilometerweit erkennen kann. Ich habe nicht den Eindruck, dass mich die Läufer – erst recht nicht die ausländischen aus 191 Nationen, wie der Platzversprecher verkündet – aufgrund des orangen Shirts als M4Y-„Reporter“ erkennen. Es kann ja auch sein, dass mir jemand so ein Leibchen geschenkt hat und ich es einfach so trage.
Doch ich habe mich geirrt. Als ich mich bei der Zweiteilung des Läuferstroms bei der Siegessäule auf einen Sockel stelle, um zu fotografieren, sagt jemand: „Schau, das ist der erste M4Y-Typ, der mit uns mitläuft….“Das gilt leider nur im Moment, denn viele nachströmende Marathonis laufen Zeiten knapp über 5 min/km. Das ist viel zu schnell für mich, ich orientiere mich am eingeschlagenen 6:15er-Tempo.