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Laufberichte

Tiefgründige Gespräche auf flacher Strecke

08.03.09

Der Tag beginnt für mich mit einem Sieg. Für einmal bin ich schneller, wobei ich zugeben muss, dass ich diesen Sieg nur einem Frühstart verdanke. Normalerweise werde ich, einige Minuten bevor der Wecker meine wohlige Nachtruhe akustisch beendet, von unserer kleinen Katerstrophe mit einem Biss in die Zehen geweckt, was nicht unbedingt sanfter ist als das elektronische Gepiepse und mir heute ein Handicap einbringen könnte.

Mein Programm sieht für heute den Bienwald-Marathon vor, weshalb ich früher aus den Federn steige als an den Wochentagen. Die Samtpfote muss also auf seine Morgenbeute verzichten, damit ich rechtzeitig dort ankomme, wo seine per Definition wilden Verwandten zu Hause sind. Wildkatzen heißen zwar so, benehmen sich aber nicht halb so wild und frech wie ihr Kollege, welcher der Gattung Hauskatze angehört, als heimatloses, krankes und bedauernswertes Jungtier im vergangenen Sommer bei uns Aufnahme gefunden hat, und seither für Stimmung und bei den beiden Katzendamen und einem der Hunde für Missstimmung sorgt.  So viel vorweg:  Außer auf der Ausschreibung des Marathons sehe ich in Kandel keine von ihnen.

Der Weg dorthin führt mich fast ausschließlich über die Autobahn. Auf diese Weise erhalte ich schon das Feeling für lange Geraden, denn gemäß Streckenplan ist das eine der Charakteristiken dieses Laufs. Im Frühprogramm von SWR3 werden die Zuhörer gefragt, was sie an diesem Sonntag zu unternehmen gedenken und mehr als einer meldet sich, der mit mir sein Vorhaben gemeinsam hat. Der erste plant auf dieser Strecke eine Zeit unter drei Stunden, der nächste will sich eine Stunde mehr gönnen und sich damit auf einen Frühjahrsmarathon vorbereiten.

Gut vorbereitet ist der Veranstalter, der TSV 1886 Kandel. Bei meiner Ankunft werde ich auf einen Parkplatz gleich neben dem Bienwald-Stadion eingewiesen und bin von dort nach wenigen Schritten im Wettkampfzentrum, der neuen Mehrzweckhalle.

Im Nu habe ich meine Startnummer und kann im zweiten Hallenteil mein Teilnehmer-Shirt in Funktions-Qualität abholen. Für die ebenfalls dort angesiedelten Anbieter auf der Marathonmesse bin ich heute kein interessanter Teilnehmer – der einzige, der mit mir ein Geschäft machen könnte, wäre derjenige, der mir aus meinen zahlreich mitgebrachten Bekleidungsteilen mit absoluter Sicherheit die Kombination zusammenstellen könnte, welche mir heute ein ideales Körperklima bietet. Von der aktuell gemessenen Temperatur her wüsste ich genau, was ich wählen würde, allerdings geht ein starker Wind, welcher ein zusätzliches Kriterium für die Entscheidungsfindung bedeutet. Zudem sind die Wetterfrösche der Meinung, dass es im Verlauf des Tages zwar zu regnen beginnt, dafür die Temperatur ansteigen wird.

Ich besinne mich auf meine Absicht, es heute gemütlich angehen zu lassen, um nicht meinen fehlenden Trainingskilometern Tribut zollen zu müssen, und entscheide mich für – wie ich später feststellen kann – tatsächlich für das Richtige.

Von nun an kann ich mich auf die Suche nach Dieter konzentrieren. Nach dem Frauenfeld-Marathon, den wir im November miteinander bestritten haben, wollen wir hier wieder gemeinsame Sache machen. Ich treffe die üblichen Marathon-Stammgäste und Vielläufer und meine m4y-Berichterstatter – nur von Dieter keine Spur.

Vom vorderen Starterfeld vor dem Stadion kann ich nur wenige Fotos sammeln, denn es bleibt mir nicht mehr viel Zeit, um in den hintersten Startblock zu gelangen, von wo aus ich mich dann auf die Suche nach ihm machen will. Hier ist die Stimmung locker und entspannt, von Nervosität ist nichts zu spüren als der Startschuss losgeht.

Ebenfalls guter Laune ist die Starterprominenz – und auch ich als Ausländer erkenne unter ihnen den Landesvater höchstpersönlich. Als ich an Ihnen vorbeilaufe, knipse ich noch schnell ein Bild und verwackle es prompt. Vermutlich hat mich mein Unterbewusstsein zu flott und in weit mehr als gebührlichem Abstand vorangehen lassen. Nachdem der Finanzminister sich seit Monaten darin gefällt, in Sachen Steuern verbal auf meine Landsleute einzuprügeln, bin ich lieber etwas vorsichtig, wenn sich Politiker mit einer Pistole am Wegrand aufhalten.

Wenn man den Streckenplan mit etwas Fantasie anschaut, entspricht der Kurs einem von Joan Miro gezeichneten, den Kopf nach hinten gedreht haltenden Kiebitz, der in seiner künstlerisch nicht verfremdeten Form auch im Bienwald beheimatet ist. Gewissermaßen auf der Federholle, der langen  schwarzen Haube des Vogels, geht es durch das verschlafen wirkende Kandel. Nur vereinzelt werden wir von offenen Fenstern aus beobachtet, teilweise auch angefeuert.

Die Straße bietet genügend Platz für jeden einzelnen, um seinen Schritt zu finden. Auch die am Ende des Feldes mitgeschobenen Babyjogger stören nicht, sondern geben dem Ganzen einen familiären Anstrich und sind ein Farbtupfer in der von winterlichem Braun geprägten Landschaft. Während ich mich im Feld langsam vorwärts arbeite, bin ich auf der Suche nach einem anderen Farbklecks im Läuferfeld, nach Dieters unverwechselbaren Laufschuhen. In der Tat finde ich ihn kurz darauf auf diese Weise. 

Das große Schild vor der nächsten Ortschaft Minfeld zeigt an, dass die Straße geradeaus nach Schweigen führt. Wir biegen aber links ab, somit ist in doppelter Hinsicht klar, dass Schweigen heute kein Thema ist, weiß ich doch, dass Dieter und mir der Gesprächsstoff auf den kommenden 38 Kilometern nicht ausgehen wird. Mal sehen, ob es mit dem Atem auch so sein wird…

Von hier aus – der Unterseite des Schnabels könnte man sagen – geht es über einen der wenigen Abschnitte, die nicht über eine vierstellige Meterzahl hinweg mit dem Lineal gezeichnet werden können. Bevor es für viele Kilometer ausschließlich durch bewaldetes Gebiet geht, werden wir von freundlichen Helfern verpflegt.

Während uns die ersten Halbmarathonis entgegenflitzen, entfernt sich die Gruppe um die Zugläuferin mit der Zielzeit von 4:00 immer weiter von uns. Dieter fragt mich, ob ich mich nicht ihnen anhängen möchte, aber ich meine es ernst mit meiner Absicht, ohne Zeitvorgabe zu laufen. Zudem sind wir nicht nur am Quasseln, sondern in interessante Gespräche vertieft. Wir unterhalten uns über die zahlreichen positiven Aspekte des Dauerlaufs wie physische und psychische Gesundheit, Resozialisierung (es kann auch anders kommen als bei Allan Sillitoe) und vieles mehr.

Die für uns gesperrten asphaltierten Straßen brauchen keine besondere Aufmerksamkeit, sind also besonders für solche Laufgespräche geeignet.  Nach dem dritten Verpflegungsposten kommen uns die Schnellen entgegen, wobei wir die ganz Schnellen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wie üblich ist auch Anton Lautner bald zu sehen. Meine Prognose, dass er wieder über den vorderen Teil des Feldes berichten wird, ist ein Volltreffer.  Da und dort stehen ein paar Unentwegte, die sich über unseren Dank freuen, genauso wie wir uns über ihre Zurufe.

Nach etwa 16 Kilometern streifen wir den Rand der Ortschaft Schaidt, wo einige Bewohner mit der Unterstützung einer Guggenmusik den Marathonis moralische und musikalische Unterstützung gewähren. Da nicht viel weiter der erste Wendepunkt liegt, kommen wir bald darauf nochmals in diesen Genuss.

Von der Halbmarathonmarke an gibt es praktisch nur noch Geraden und rechte Winkel. Gerade diese Tatsache hilft erst recht, uns weiter in unsere Gespräche zu vertiefen. Mittlerweile sind wir bei Religionsphilosophie gelandet, ein Thema, bei dem es auch mal hitzig zugehen könnte. Nicht aber bei uns, weshalb wir auch gut auf den einsetzenden Regen verzichten würden. Ob es wegen unseres tief gehenden Austauschs ist, dass uns der Himmel beim Einbiegen auf die lange Gerade auf dem  Rückweg dann doch vor der weiteren Ausschüttung seines Lebenssafts verschont?

Auf jeden Fall hat mein Laufpartner nichts dagegen, dass er nicht auch noch gegen das Wetter kämpfen muss, denn mittlerweile kämpft er noch an anderen Fronten. Die Marathons an fast jedem der vergangenen Wochenenden, bei Kälte, Nässe und Schlamm, machen sich bei ihm offenbar bemerkbar. Endlich gibt es für ihn am Verpflegungsposten nun auch die als Elixier ersehnte Cola. Sein scherzhafter Zuruf beim Hinweg, sie sollen das Bier schon mal kühl stellen, ist nicht vergessen gegangen und er wird deswegen hochgenommen. Wenn das kein Beweis für die Aufmerksamkeit der Helfer ist!

Die lange Gerade, die zwar nur leicht aber stetig ansteigt, ist nicht eine ausgesprochene mentale Stärkung. Außer man habe einmal in der Ebene der Nullabor Wüste Australiens als Streckenwärter an der Trasse des Indian Pacific gearbeitet und Gefallen an 478 Kilometern ohne Richtungsänderung gefunden.

Am letzten Verpflegungsposten verfolge ich eine Diskussion über die Aufnahme fester Nahrung bei einem Marathon. Der sachlich geäußerten und medizinisch belegten Ansicht, dass der Magen bei diesen Anstrengungen feste Nahrung gar nicht umsetzten kann, steht das Credo des Ultraläufers gegenüber,  dass gerade das Essen das A und O sei,  er das bezeugen könne und alle falsch liegen, die das anders sehen. Irgendwie kommt uns das bekannt vor -  ein Déja-vu-Erlebnis sozusagen. Erst ein paar Kilometer ist es her, da haben wir uns eben darüber unterhalten, welche Kunst es ist, von seinen Glauben als den allein richtigen zu vertreten und dabei die Meinung des andern so zu achten, wie wenn das Gegenüber die Wahrheit auf seiner Seite hat. Kein Wunder, dass es zu Religionskriegen kommt, wenn schon die Ansicht über die richtige Ernährung bei einem Marathon zu einem einseitig so heftigen Disput führen kann.

Die letzten Kilometer in den Dreißigern führen an den Hinterhöfen Kandels vorbei  und bald bleiben uns nur noch eineinhalb Kilometer, bis wir ins Stadion einlaufen und dort die letzten zweihundert Meter auf der Bahn zurücklegen. Als echte Gentlemen lassen wir noch vier Damen an uns vorbeiziehen, in der festen Überzeugung, dass sie uns den bleifreien Hopfentrunk nach dem Zieleinlauf sicher nicht vor der Nase wegschnappen würden.

Von toller Stimmung im Zielraum zu sprechen wäre eine ziemliche Übertreibung. Auch ich mache mich, nachdem ich einen Windschutz aus Plastik übergestreift bekomme und einen Becher mit dem Schaum meiner Träume in der Hand halte, schnurstracks auf den Weg zur Garderobe. Die Duschen sind nicht nur etwas für Warmduscher, sogar Heißduscher, die spät ins Ziel kommen, können sich nicht beklagen.

Für viele meiner Laufkollegen ist es nicht nachvollziehbar, dass man einen Marathon bestreiten kann, ohne eine gute Schlusszeit vor Augen zu haben. Sie finden, dass ein Marathon eine gute Sache ist, diese Sache aber auch möglichst gut – sprich schnell – getan werden muss. Ihnen entgegne ich mit einem Zitat G. K. Chestertons (auch er ein Inhalt unserer heutigen Marathon-Gespräche):

„Wenn eine Sache wert ist, getan zu werden, ist sie es auch wert, schlecht getan zu werden.“

In diesem Sinne habe ich es heute vielleicht schlecht getan. Aber dieser Marathon war es wert getan zu werden. Ich freue mich auf den nächsten!

Marathonsieger

Männer

1 Jäkel, Robert (GER) TuS 08 Lintorf  02:35:49 
2 Dörr, Hans-Jörg (GER) TV Hatzenbühl  02:37:37
3 Fischer, Martin (GER) TV Offenbach  02:39:09

Frauen

1 Hebding, Marion (GER) TV Rheinau 1893 e.V.  03:04:14 
2 Meiniger, Simone (GER) LTG Kämpfelbach  03:07:52
3 Fromm, Nadine (GER) Fitness Factory  03:08:43

 

Informationen: Bienwald-Marathon
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