marathon4you.de

 

Laufberichte

Marathonlauf mit Widrigkeiten

25.09.05

„Wo ist mein Chip?“

 

Auf der Marathonmesse habe ich die Startnummer abgeholt, meinen Chip prüfen und registrieren lassen, und nun ist Sonntagmorgen. Die Laufkleidung wird übergestreift, ein ausreichendes Flüssigfrühstück verzehrt, jetzt noch die Einlegesohlen in die Laufschuhe schieben, anziehen, zuschnüren und los kann’s gehen zum Treffpunkt mit der Laufgruppe.

 

Bei meiner Ankunft ist die Laufgruppe schon weg, also geht’s allein im lockeren Trab durch den Tiergarten zum Startplatz. Das Wetter ist herrlich, die Vorbereitung lief optimal, meine Helfer sind an fest vereinbarten Stellen mit Zuspruch und Trinkflaschen zur fliegenden Übernahme postiert, Beine und Geist sind locker, alles deutet auf eine erfolgreiche 5. Teilnahme am Berlin-Marathon hin, im Jahr 2010 könnte ich dann, wenn alles gut geht, Mitglied im Jubilee-Club werden. Startblock F ist schnell gefunden, und eine Viertelstunde vor dem Start geht’s rein ins Gewühl der wartenden Läufer. Der Chip eines Nachbarn fällt mir ins Auge: „Der ist aber seltsam eingebunden, ganz anders als bei mir!“

 

Und dann der Schock: „Wo ist mein Chip?“ Kein Chip am Schuh. Dabei erinnere ich mich genau, dass ich den Chip in den Laufschuh gelegt habe, damit ich ihn bloß nicht vergesse. Was also tun? Mit den Zehen taste ich kräftig in den Schuhen umher, aber leider ist kein Chip fühlbar, auch beim kräftigen Auftreten macht sich kein Störenfried im Schuh bemerkbar. Ich muss ihn nach der Registrierung auf der Messe in der Jacke gelassen und vergessen haben, ihn in den Schuh zurückzulegen.

 

Eiligst quetsche ich mich durch die Entgegenkommenden aus dem Starterfeld und renne was das Zeug hält nach Hause. Von meinen Trainingsläufen im Tiergarten weiß ich, dass es bis zu mir nach Hause hin und zurück nur etwa 5 km sind, das muss zu schaffen sein. Die Läufer, die mir an der Spree entgegenkommen, rufen mir zu, dass der Startplatz in der anderen Richtung zu erreichen ist; wer den Schaden hat, braucht für den Spott wirklich nicht zu sorgen! Zu Hause angekommen, werden Jacke, Hemd, Hose und Tragetasche durchsucht, danach die Wohnung in rasender Eile weitgehend umgekrempelt: nichts, der Chip ist verschwunden, ich muss ihn auf der Messe verloren haben.

 

Da ist guter Rat teuer, soll ich ohne Chance auf Zeitnahme mitlaufen? Enttäuschung macht sich in mir breit. Drei Monate Vorbereitung für die Katz, Jubilee-Club-Mitgliedschaft um ein ganzes Jahr verschoben: ohne Chip keine Zeitnahme.

 

In der Teilnehmer-Informationsbroschüre steht, dass auf der Strecke Video- und Zeitmess-Kontrollpunkte eingerichtet sind. Zur Sicherheit klebe ich mir also den grünen Punkt für Fotoaufnahmen auf das Startnummernschild und beschließe, auch ohne Chip mitzulaufen. Vielleicht wird der Lauf ja anerkannt, wenn ich ihn auf der Pulsuhr mit Pulsschlag und Kilometerzeiten aufnehme und dann am Rechner die ganze Pulskurve des Laufes ausdrucken lasse. Ehrlich gesagt, etwas heroisch komme ich mir bei diesem Entschluss schon vor.

 

Zehn nach neun bin ich wieder am Startplatz, wo der Start noch in vollem Gange ist. Um ein einigermaßen freies Feld beim Lauf zu haben, wollte ich eigentlich beim zweiten Startschuss vorn mitlaufen, das kann ich mir jetzt abschminken. Ein unabsehbar langer und sehr dichter Strom von Läufern wälzt sich durch den Start und ich mitten drin, sorgfältig darauf achtend, die Zeit exakt mitzustoppen. Bei km 5 an der Kirchstraße wartet unsere Tochter Ariande mit der ersten Trinkflasche, die Übernahme klappt trotz der vielen Mitläufer problemlos. Bei Kilometer 14 übergeben mir meine Frau Irmela und Freundin Ursula die nächste Flasche und jubeln mir zu. Alles läuft bestens; bei km 15 habe ich einen 10-km-Schnitt von 54 min und fühle mich stark.

 

Auf dem Kottbusser Damm verleiht mir Vivaldi fast Flügel, und ich denke schon an eine neue Bestzeit. Nach km 16 an der Hasenheide laufe ich ziemlich weit links, da ich mir hier schnellere Läufer und somit ein besseres Fortkommen verspreche. Einen so schnellen allerdings, wie er mich jetzt unerwartet links überholt, habe ich dennoch nicht erwartet. Er springt plötzlich direkt vor meiner Nase von links nach rechts und tritt mir dabei auf den rechten Fuß. Ich gerate ins Straucheln, und schon krache ich mit der linken Fußspitze gegen den Bordstein, der unversehens vor mir aufgetaucht ist. Es gibt kein Halten mehr, ich stürze aus vollem Lauf und rutsche lang gestreckt auf dem Pflaster entlang. Glücklicherweise ergibt das aber keinen Massensturz wie gelegentlich bei der Tour de France. Meine ganze linke Seite ist lädiert, mein Knie ist aufgeschlagen und blutet, die Hüfte ist aufgeschrammt, die linke Schulter und der Arm sind abgeschürft.

 

Ich richte mich auf und versuche humpelnd weiterzulaufen, aber die gesamte Wadenmuskulatur links schmerzt höllisch, und das Knie steht dem nicht nach. Erstmal ist eine Zwangspause angesagt. Soll ich jetzt weiterlaufen, ohne Chip mit ziemlichen Schmerzen und mit noch rund 26 km vor mir?

 

Jetzt erst recht, sage ich mir, eine gute Zeit kannst du vergessen, aber Ankommen bin ich mir schuldig, sonst waren ja alle vorausgegangenen Mühen vergeblich, und meine freundlichen Helfer warten vergebens. Bei km 21 warten die Töchter Ariande und Candida mit der nächsten Versorgung und richten mich allein durch ihre Anwesenheit wieder etwas auf. Unter der Brücke am Innsbrucker Platz verursachen die Djembe-Trommler trotz allem eine Gänsehaut und erleichtern das Weiterlaufen wieder etwas. Bei km 26 halte ich es erstmal nicht mehr aus und stürze mich auf ein gerade frei werdendes Bett, um mir die linke Wade massieren zu lassen, die sich so hart anfühlt, als seien dort Stahltrossen eingezogen. Viel aber hilft das auch nicht; als ich weiterlaufe, habe ich eher das Gefühl, als sei es noch schlimmer geworden.

 

Am Wilden Eber lasse ich mich von der saumäßig tollen Stimmung wieder etwas aufrichten und erhalte nach einer schmerzvollen Ewigkeit am S-Bahnhof Hohenzollerndamm erneuten Trost und Zuspruch und meine letzte Flasche mit Zaubertrank (Vitargo in Wasser aufgelöst). Dann schleppe ich mich weiter. Auch auf dem Ku.-Damm werde ich durch das dicht gedrängte Publikum wieder etwas aufgemöbelt und halte bis zum Anstieg an der Brücke über den Landwehrkanal durch. Hier allerdings, auf dieser für einen Berliner schon deutlich merkbaren Steigung, komme ich mir nicht mehr so recht heroisch vor. Nachdem diese wohl letzte Hürde mit Ach und Krach auch noch genommen ist, lasse ich mich später am Potsdamer Platz, am Gendarmenmarkt und Unter den Linden von der großartigen Stimmung durchs Brandenburger Tor und durch das Ziel vor dem sowjetischen Ehrenmal tragen.

 

Zu Hause angekommen, schüttele ich noch einmal die Schuhe aus in der leisen Hoffnung, der Chip könnte doch noch in einem der Schuhe gewesen sein, aber vergebens. Enttäuscht nehme ich die Einlegesohlen zum Trocknen heraus und stelle die Schuhe weg.

 

Als wir am Montag darüber sprechen, wie man dem Veranstalter jeden einzelnen gelaufenen Meter auf der Strecke mit Hilfe der Pulsuhr und der während des Laufs gemachten Fotos nachweisen könnte, taucht schon die Ergebnisliste einer großen Berliner Zeitung auf. Da ich einen sehr häufigen Namen habe, erstaunt es mich nicht, dass mein voller Name mehrfach auftaucht, eher schon dass einer von denen 4:24:15 gelaufen sein sollte, bis auf 2 Sekunden die gleiche Zeit, die ich mit meiner Uhr gemessen habe. Leider ist die Startnummer nicht lesbar, so dass ich gleich im Internet die Ergebnisliste aufrufe um zu sehen, ob auch Startnummer, Altersklasse und Zwischenzeiten übereinstimmen. Ein Anruf beim Veranstalter ergibt dann, dass es sich tatsächlich nur um meine Laufdaten handeln kann; dass diese durch Fotos an den Zeitmessmatten rekonstruiert worden seien, wäre allerdings ganz ausgeschlossen. Der Chip müsse sich im oder am Schuh befunden haben, da keine Messung zustande gekommen sein könne, wenn ich ihn z.B. weiter oben in der Tasche getragen hätte.

 

Mein erneutes Nachsehen in den Schuhen bringt nun zu meiner großen Überraschung tatsächlich den Chip zu Tage, der sich unter der Einlagesohle befunden hatte, wo er sich auf der Unterseite durch die ständige Belastung beim Laufen auch deutlich unter dem großen Zeh abgedrückt hatte. Meine Freude über diesen unverhofft gemessenen, gültigen Marathonlauf ist so groß, dass ich trotz aller Blessuren gleich ein flottes Erholungsläufchen absolviere. Ein kleines bisschen Mut und Durchhaltevermögen lohnen sich wohl doch, vielleicht nicht nur beim Marathonlauf.

 


 
NEWS MAGAZIN bestellen
Das marathon4you.de Jahrbuch 2024