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Laufberichte

Berlin, Berlin, ich düste durch Berlin

30.09.07

Eigentlich bin ich nicht der Typ, der auf Bahnhöfen rumhängt. Die vorletzte Nacht vor dem Berlin Marathon machte ich aber nichts anderes, als auf verschiedenen deutschen Bahnhöfen rumzupennen. Ich hatte keine andere Wahl, denn ich wollte weder am Freitagabend nach der Arbeit auf den Flughafen stressen, noch am Samstag erst spät zur Startnummernausgabe kommen. Und da immer in solchen Fällen die Flüge verspätet sind, kam auch der Morgenflug nicht in Frage. Also nahm ich den Nachtzug, diese tolle Einrichtung, welche die Reise nach Berlin künstlich um einen Drittel verlängert, indem die Reisenden auf irgendwelchen Provinzbahnhöfen zwischengelagert werden. Dass der Lokführer in Hannover  dreißig Minuten zu spät zum Dienst erschien, fiel dabei fast nicht auf.

Um meine Beine hochlagern zu können, hatte ich im Viererabteil des Liegewagens gebucht. Die Mitreisenden waren ebenfalls Marathontouristen und entsprechend gesittet und ruhig, ganz im Gegensatz zu den Abschluss-Reisenden, die den Weg (nach Berlin) als Ziel betrachteten und mich immer wieder weckten. Wobei das bei dem leichten Schlaf nicht schwierig ist, den man hat, wenn die Liege nur um wenige Millimeter länger ist als der Liegende. Ganz zu schweigen von der Lüftung, die jedes Mal nach einem Halt und den damit verbundenen Schaltvorgängen im elektrischen System in Orkanstärke zu blasen begann. Ihr gleichzeitiges Heulen war das Heulen des Erkältungsgespenstes, welches ich mit allen Mitteln fern halten wollte, und sei es um den Preis des Schlafs. Da stellte sich die Frage ein, ob ich noch auf Rekord-Kurs war.

Trotz der unruhigen Nacht kam ich einigermaßen ausgeruht an und fühlte mich immer noch in der Lage, mein Vorhaben am Sonntag umzusetzen und meine bisherige Bestzeit leicht zu unterbieten. Dieses Gefühl bekam positive Verstärkung, als ich erst im Hotel vorbeischaute um mein Gepäck einzustellen. Ohne dass ich danach gefragt habe, wurde mir sogar schon am frühen Vormittag der Bezug des Zimmers angeboten, welches mir eine ruhige Nacht vor dem großen Anlass ermöglichen würde. Dass ich von der S-Bahn-Station nebenan mit der Ringlinie direkt zur Messe fahren konnte, hatte ich bei der Zufallsbuchung über Internet gar nicht bemerkt. Also, alles auf Kurs!

An der Messe habe ich mir richtig Zeit gelassen und trotzdem der Versuchung widerstanden, mich mit Laufschuhen einzudecken. Und  die Versuchung war groß, da meine Marke in der Schweiz bisher kaum vertrieben worden war und die Importfirma ein paar Wochen zuvor sogar Insolvenz angemeldet hatte.
Immerhin kam ich zu einem kostenlosen Funktions-Shirt, das ich mir mit einigen Minuten Anstehen erstanden habe. Ein größere Ausgabe war allerdings geplant und Teil meines Plans zum Erreichen einer neuen Bestzeit. Ich habe mir an der Messe ein paar Kompressions-Socken gekauft (dieses Fabrikat ist in der Schweiz auch nicht lieferbar). Eigentlich widerstrebt es mir, mich an einem Wettkampf auf Experimente einzulassen, doch am Samstagabend – nachdem ich mich den Rest des Tages daran gewöhnt hatte - war ich mir sicher, dass ich diesen Trumpf am Sonntag zücken werde.

Da ich an diesem Nachmittag noch Zeit hatte, ließ ich mir den Inline-Marathon nicht entgehen. Nachdem die ersten Gruppen gestartet waren, lief ich im lockeren Laufschritt zur Straßenecke zwischen Kanzleramt und Schweizer Botschaft, wo ich von der Spitze des Feldes bis zum Besenwagen alle Inline-Skaters anfeuern konnte. Wobei mir öfters die Anfeuerungsschreie im Hals stecken blieben, wenn ich sah, mit welchem Tempo und welch kleinen Abständen diese Halbwilden auf der regennassen Straße nach einem leicht abfallenden Stück um die Kurve preschten.

Anschließend schlenderte ich gemütlich zum Brandenburger Tor und wartete, dem kühlen Wind und dem Regen ausgesetzt, auf den Zieleinlauf (oder sagt man da –einfahrt?). Mir taten die Inline-Skaters leid und ich hoffte, dass es für die Marathonis ein bisschen besseres Wetter geben würde und es mich auf Rekord-Kurs laufen ließe.

Auf dem Rückweg ins Hotel gab es bei „meinem“ Chinesen ein zünftiges Nudelgericht, auf welches ich mich schon lange gefreut hatte. Mit Getränken und einem „Bettkanten-Snack“ versehen ging ich ins Hotel und startete meine Auslegeordnung für den großen Tag. Verschiedentlich hatte ich in der Vergangenheit Alpträume, in welchen ich mich zu spät beim Start eines Laufes einfand oder die Schuhe und die Startnummer nicht dabei hatte. Ich hatte den weiten Weg nach Berlin aber nicht auf mich genommen, um solche Alpträume in der Realität zu inszenieren, sondern um einen Rekord zu laufen (so, das musste mal erwähnt sein!).

Beim vorgesehenen Frühstück musste ich Anpassungen vornehmen, dabei wollte ich doch keine Experimente eingehen. Power Porridge, angerührt statt aufgekocht, war angesagt. Im Verlauf des Marathons zeigte sich, dass diese Variante zwar weniger schmackhaft aber gleich wirksam war. Bei mir sorgte der Porridge für gefüllte Speicher, beim freundlichen Herrn an der Rezeption, der mir das heiße Wasser besorgte, für Kopfschütteln. Eigenartige Leute, diese Läufer, die das kostenlose Frühstücksbuffet verschmähen und stattdessen einen solchen Brei aus der Tupper-Schale löffeln.

Kurz nach 7.00 Uhr arbeitete ich die Checkliste nochmals ab, sicherheitshalber und um keine Zeit zu verlieren nur etwa drei- bis viermal. Nachdem mich nichts mehr daran zweifeln ließ, dass ich von Schuhen über Chip bis Energy Gel alles dabei hatte, machte ich mich auf den Weg zum Rekord-Lauf, das heißt, erst einmal zur S-Bahn. Bis jetzt war immer noch alles auf Kurs.

Von der Friedrichstraße bis zum Startgelände musste ich nur mit dem Strom schwimmen. Dort angekommen, sah ich meinen Plan in Gefahr: Ich musste dringend mal, und die Warteschlangen vor den blauen Hütten waren endlos. Was sollte ich tun, schließlich hatte ich alles dabei, aber nicht in doppelter Ausführung? Dies war der Zeitpunkt für mentales Last-Minute-Training. Wenn ich es schaffte, nicht in die Hose zu pinkeln, würde ich es auch im Lauf schaffen mich durchzubeißen. Ersteres schaffte ich und so konnte ich mich an die letzten Vorbereitungen machen. Seltsame Blicke trafen meine Beine, als ich die lange Hose auszog und in den Kleiderbeutel stopfte. „Ha, wenn die wüssten, zu was mich diese Kniesocken befähigen werden!“

Im Startblock hielt ich mich links, dort wo die weniger frequentierten Klohäuschen standen. War es die Nervosität oder die Brille, die ich im Kleiderbeutel gelassen hatte? Jedenfalls konnte ich keinen der zahlreichen mir bekannten Läufer sehen.
Der nasse Asphalt unter meinen Sohlen war sehr rutschig. Um jegliche Verletzungsgefahr auszuschließen – so kurz vor dem erwarteten Rekord-Lauf – beschränkte ich meine Aufwärm-Aktivitäten auf ein Minimum, mal abgesehen vom zwei- bis dreimaligen Gang zu den an dieser Stelle dezent violett gehaltenen Kabinchen, vor welchen sich nur wenige andere Läufer ebenfalls aufwärmten, jedenfalls traten sie immer von einem Bein aufs andere.

So langsam füllte sich der Block und der Start rückte näher. Die Nervosität wich sentimentalen Gefühlen, wie sie mich vor solch großen Anlässen zu überkommen pflegen. Zusammen mit der passenden Musik und der Dankbarkeit, das Privileg der Gesundheit und der Mittel zu haben, an einem solchen Lauf teilnehmen zu dürfen, füllten sich meine Augen unweigerlich mit Tränen. Keine Chance, jetzt noch einen der mir bekannten Mitläufer in der Menge überhaupt ausmachen zu können.

Dann, endlich, der erlösende Startschuss. Dass meine Uhr nur gerade eine Sekunde Abweichung zur Startzeit von 09.00 Uhr zeigte, war eine letzte Bestätigung, dass alles auf Kurs war. Und dann war ich auf dem Kurs.

Ich hielt mich an die Menge und mein Gefühl und merkte nach jedem Kilometer, dass ich, gemessen an der Richtzeit, viel zu schnell unterwegs war. Der Versuch Tempo rauszunehmen misslang. „Das kommt dann automatisch“, dachte ich und wartete auf den Moment. Doch der ließ auf sich warten.

Als ich die Halbmarathon-Marke überquerte – nur zwei Minuten über meiner Bestzeit über diese Distanz – wusste ich, dass ich gemäß Zeittabelle viel zu schnell unterwegs war, rechnete mir aber aus, dass ich auch mit Bummeln meine bisherige Bestmarke leicht unterbieten konnte. Wenig später stieß ich auf eine kleine Gruppe mit einem Zugläufer für die 3:15 Marke. Ein kleines Weilchen konnte ich mithalten, dann musste ich sie ziehen lassen. Es war mir klar, dass es nicht die ganze Strecke so gehen konnte, wie ich gestartet war und so war das dritte Drittel auf Durchhalten ausgerichtet. Die Nachricht vom neuen Weltrekord, die ich aus einem Lautsprecher am Straßenrand vernahm, war eine willkommene Motivation für die harten Kilometer, welche noch auf mich warteten. Dass mehr Läufer an mir vorbeizogen als ich an anderen, war für die Moral nicht optimal. Doch wer in der Warteschlange vor dem Klo durchhält, schafft es auch hier. Zudem fühlte sich meine Muskulatur den Umständen entsprechend noch erstaunlich locker. Mein Experiment mit den Kniestrümpfen hatte sich also gelohnt. Das Gefühl sagte mir, dass ich immer noch auf Kurs war.

Endlich, das Brandenburger Tor war in Sicht. „Unter den Linden zu flanieren ist nicht das gleiche“, dachte ich, „jedenfalls scheint sonst das Brandenburger Tor nie so weit entfernt wie heute.“

Dann kam der Moment, für den ich zum Abschluss jedes Training nochmals zur Höchstleistung ansetze: der Endspurt. Mit einem furiosen Finale näherte ich mich dem Zielbogen und als ich so nahe war, dass ich die Brutto-Zeit auf der Anzeige erkennen konnte, warf ich die letzten Reserven hinein. Ja, ich war auf Rekord-Kurs! Und zwar nicht nur im Rahmen der anvisierten Verbesserung von zweieinhalb Minuten, also knapp unter 3:25, sondern sogar unter 3:20. Die Netto-Laufzeit betrug 3:18:17. Ganze 8 Minuten und 56 Sekunden schneller als im April in Zürich, wo ich die Bestzeit schon um über 11 Minuten drücken konnte. In diesem Jahr also eine Verbesserung um 20 Minuten und 24 Sekunden. Ich hätte den ausgelacht, der mir im März erzählt hätte, dass dies im Bereich des Möglichen liege.

Nach der Kameltränke schaute ich im Sanitätszelt vorbei, vielmehr blinzelte ich hinein. Nein, Blasen gab es auch mit der neuen Ausrüstung am Fuß keine. Anfangs zweite Streckenhälfte machte ein Fremdkörper in meinem rechten Auge Halt – vermutlich aufgewirbelt von der wilden Herde Bestzeit-besessener Läufer - den ich nun fachmännisch entfernen lassen wollte. Doch mittlerweile hatte der sich aus dem Staub gemacht und ließ mich mit einer leichten Verletzung der Hornhaut und rotem Auge und Tränen zurück. Wobei mir diese auch ohne diese Verletzung über die Wangen gekullert wären wie schon vor dem Start. Einen Marathon mit solchen Läufer- und Zuschauermassen, solcher Stimmung und solcher persönlicher Leistung hatte ich noch nie erlebt. Mental war ich schon zu diesem Zeitpunkt bereit für eine Wiederholung des Abenteuers Berlin-Marathon.

 


 
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