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Laufberichte

Niemand hat die Absicht 100 Meilen zu laufen

21.08.11
Autor: Joe Kelbel

Der S-Bahnhof Bornholmer Straße wurde am 13. August geschlossen. Die Züge in den Norden nach West-Berlin passierten den Bahnhof ohne Halt. Die S-Bahn war übrigens in DDR-Eigentum und fuhr auch durch West-Berlin, wurde nach dem Mauerbau deshalb von den West-Berlinern gemieden. Ein Stück hintere Mauer steht noch, sie trennte den Bahnhof vom Ost-Berliner Stadtgebiet.

Ganz, ganz blöde Erinnerung an diesen Teil der Strecke: Plattenbauten. Vor mir läuft ein Fuchs. Als er in meinen Scheinwerfen schaut, leuchten seine Augen.  Aber auch Alkoholisierte, rauchend, mit Bierflasche in der Hand, die mir ganz nett zusprechen. Sozialer Brennpunkt, vielleicht, ich  hätte auch noch Bier von denen bekommen, ich konnte nicht mehr, es ging nix mehr, aber es war o.k.

Ewig lange Kirchbaumallee, gestiftet von japanischen Bürgern, markiert die Grenze .Zwei  ganz junge Mädchen schieben ihr Fahrrad, ich weiß nicht warum um diese Uhrzeit. Ich wackele im selben Tempo mit Startnummer 99 hinter ihnen her. Es ist ja hell jetzt und meine leuchtende Stirnlampe findet die blauen, reflektierenden Dinger nicht mehr. Und die jungen Dinger haben auch keine Angst vor mir. Könnte sein, das ich gut aussehe, oder auch scheiße,  aber wo der Mauerweg ist, das wissen sie nicht..

Bei km 149 passiere ich den Wasserposten „Mauerpark“. Ein „Rastertyp“ hält hier die Wache, der Andere liegt mit Augenklappe in einem Liegestuhl und schnarcht lauthals. Danke Jungs, ich habe erfahren, wie lange Ihr hier am Posten ward!

Erst 1988/89 erreichte dieser Park seine heutige Größe durch Gebietstausch. Die DDR erhielt einen Streifen am Ebertswalder Güterbahnhof. Hier steht noch ein Stück Mauer, welches noch von Graffiti-Sprayern genutzt werden darf.
Eifriges Werkeln für den Mauerparkflohmarkt, der hier täglich stattfindet.

Hektisches Suchen zwischen den Steinblöcken von Ewigwachen nach Drogendepots. Das sind die neuen Mauertoten, die hier im  Brachland täglich verrecken. Verdrecktes Berlin. Wenn ich noch kotzen könnte....  Wie sagte der Ost-Berliner im Zug: „Es war alles nicht so schlimm“.  Jetzt begreife ich, was er meinte.

Km 150: Berrnauer Strasse. Wohl jedem sind die dramatischen Fernsehbilder vom 17.August 1961 bekannt, als die Menschen noch im letzten Augenblick aus den Fenstern sprangen, bevor diese zugemauert wurden. Der Bürgersteig war schon West-Berliner Boden. Hier befindet sich die „Gedenkstätte Berliner Mauer“ und VP 22.

1963 wurden die Häuser an der Bernauer Straße gesprengt. Die erhaltenen Grundrisse der Gebäude lassen das Ausmaß erkennen. Es gibt noch  4 Fluchttunnel (Eingänge nicht erkennbar), durch die über 200 Menschen flüchteten. Reinhard Furrer, der erste westdeutsche Astronaut floh durch einen dieser Tunnel. Auch die Stasi hatte hier ein Tunnelsystem. 10 Mauertote sind hier zu beklagen.

Ich hatte hier in den frühen Morgenstunden eine ganz, ganz  blöde Konversation mit einer überaus fähigen, netten, lieben und sympathischen  Fotografin. Berlin hat sehr extreme politische Meinungen und ich würde niemals missionieren, schon gar nicht nach 150 km! Ich muss nicht alles verstehen, ich bin hier um zu erinnern, aber was sie sagte ging nicht in mein mauerloses Hirn hinein.

Berlin Nordbahnhof war ein sogenannter unterirdischer Geisterbahnhof. Die unterirdisch verkehrenden S-Bahnzüge fuhren ohne Halt durch den vermauerten Nahnhof. Grenzsoldaten patrollierten stundenlang durch die dunkle Anlage. Die Bahnhofsmauer an der Gartenstraße fungierte als vordere Sperrmauer. An der Ecke Gartenstraße noch die Betonwand im Originalzustand  sichtbar. Der Friedhof wurde größenteils durch den Grenzstreifen zerstört. Zugang gab es durch ein Wohnhaus.

Über die Liesenstraße gelangen wir zum ehemaligen Grenzübergang Chausseestraße.  Am Spandauer Schifffahrtskanal starb Günter Litfin, der erste Tote nach dem Bau der Mauer.

Hinter dem Bundeswehrkrankenhaus durchbricht der Kolonnenweg den Invalidenfriedhof (1.WK). Für freie Sicht wurde der Friedhof beim Mauerbau abgeräumt. Rund 90 Tonnen Grabsteine wurden dafür entfernt. Im Mai 1962 flüchtete ein Schüler, sprang in den Kanal und schwamm unter den Schüssen der Grenzsoldaten ans andere Ufer. Mehrere Menschen, die dem Jungen helfen wollten, gerieten dabei auch unter Beschuss, woraufhin die Westberliner Polizei ihrerseits zurückschoss und einen DDR-Soldaten tötete.

Leute! Meine Fußsohlen haben sich abgelöst, meine Haut brennt in unangenehmen Bereichen, ich wackele durch die Mitte der Republik in den frühen Morgenstunden und habe keine Lust auf Deutschland.

Am Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie vorbei gelangen wir ins Regierungsviertel.

Ehemaliger Grenzübergang Invalidenstraße. Links die Charité, rechts der Hauptbahnhof. In einem geparktem, wackelndem  Auto entsteht zwar auf dieser Art Sex kein neues Berliner Leben, aber es ist eindeutig, das Leben geht weiter.
Parlament der Bäume, Mauermahnmal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Gedenkort Weiße Kreuze - drei Gedenkorte, die wir passieren.

Bei km 155 erreichen wir die Konrad-Adenauer Straße, rechts das Bundeskanzleramt, über uns der Bundestag mit seinen pompösen Dach. Dann der Reichstag. Nö. Kein Runner’s Hight, kein Deutschlandgefühl. Es ist sehr früh, nur Polizisten und Absperrungen, keine Mauer mehr, aber wir dürfen nicht zum Brandenburger Tor, die Polizei macht dort Party, seit Tagen...

Ich habe Frust, ich habe Schmerzen. Mag ja sein, dass die Polizei gegen Anschläge schützen soll. Die französische, amerikanische und erst recht die britische Botschaft müssen geschützt werden. Aber wenn die Wilhelmstrasse verriegelt wird, um die britische Botschaft zu schützen, weil  Politiker Entscheidungen getroffen haben, die so unhaltbar sind, dass sie sich mitten von  Deutschland  mit Panzersperren verteidigen muss... So fing es 1961 am Brandenburger Tor an. Neue Mauer, alter Platz.

VP 23 Wilhelmstrasse, rechts der Potsdamer Platz, den wir wegen Bauarbeiten nicht queren können. Es gibt Suppe und gebratenen Reis vom VP-Betreuer „Peking Ente“. Ein Beispiel der Mithilfe für diesen Lauf: Die Jungs stehen seit Samstag 17 Uhr hier. Suppe kalt, Reis matschig. Logisch, ich bin 20 Stunden zu spät. Danke Jungs!

An der Kreuzung Niederkirchner-/Zimmerstraße stehen 200 Meter Originalmauer. Eine doppelte Kopfsteinpflasterreihe markiert die vordere Sperrmauer. Deutlich erkennbar die Tätigkeiten der „Mauerspechte“ und Souvenierjäger aus der Zeit 1989/90.

Checkpoint Charlie, Friedrichstraße, der Grenzübergang für Ausländer mit dem Mauermuseum. Hier hielt mal ein US-Soldat ein Aktfoto hoch, um die DDR-Grenzler zu provozieren. Die Besatzung eines Getränkewagens bot Bier an,  „wenn ihr rüberkommt“.

Dahinter die Stele, die den Sterbeort von Peter Fecher anzeigt. Während seinem Kollegen die Flucht gelang, starb der 18jährige Fechter  hier am 17.August 1962, nachdem er fast eine Stunde hilfeschreiend im Stacheldraht liegen geblieben war.

Leute! Wenn ich diesen Bericht für einen persönlichen anatomischen Grenzzustandsbericht geplant hätte, dann würde ich Euch berichten über mich, meine Problem und Wunden. Ich würde berichten über die Hinterlassenschaften meiner Vorläufer, die mit halbverdauten Essensrückständen und verschmierten Tempotüchern den Mauerweg markierten. Aber das ist alles Pipifax gegenüber  politischen Lügen.

Am ehem. Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße starb Lasterfahrer Klaus Brueske bei einem Fluchtversuch. Er verlor die Kontrolle über den mit Sand beladenen Wagen, als er beim Durchbruch angeschossen wurde. Der Sand ergoß sich ins Führerhaus. Er erstickte qualvoll.

Nach der deutschen Wiedervereinigung erhob die Staatsanwaltschaft Berlin Anklage gegen den Grenzsoldaten, der die Schüsse abgegeben hatte. Das Gericht verurteilte ihn 1998 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten auf Bewährung, ein übliches Strafmaß in den Mauerschützenprozessen.

Von den 106 Kilometern Betonwand, 66,5 Kilometern Gitterzaun und 302 Beobachtungstürmen ist nicht mehr viel übrig geblieben. Für die Gedenkstätte Bernauer Straße wurde ein Stück Mauer sogar wieder neu errichtet.

Bis zum 13.08.1961 verließen knapp 2,7 Millionen offiziell registrierte Menschen die DDR. Danach sprechen offizielle Seiten von 5075 gelungenen Fluchten nach West-Berlin bzw. Westdeutschland. Der letzte tödliche Zwischenfall an der Grenze ereignete sich am 08.März 1989, als Winfried Freudenberg bei einem Fluchtversuch mit einem defekten Ballon in den Tod stürzte.

Ich habe mich verdammt gequält, ich habe einen Grenzweg und meine Grenzen erfahren. So wie alle, die diesen Lauf organisiert haben. Alexander von Uleniecki hat verdammt noch mal die Politiker mobilisiert. Es ging hier nicht um irgendeinen Marathonlauf, hier ging es um ein gewaltiges Gedächtniswerk, von der Politik unterstützt, von Sponsoren ignoriert.

Ein ganz, ganz herzliches Dankeschön an alle Helfer! Ein ganz herzliches Dankeschön an den Innensenator, der mir die Medaille überreicht hat und sich eindeutig zu der  Aussage seiner linken Koalitionspartnerin bezüglich der Mauer distanziert hat. Ein ganz herzliches Dankeschön an den „Westen“-tragenden Eppelmann,  der in seiner Rauheit mein Bruder sein könnte, an Karin Gueffroy, die ihren 20jährigen Sohn durch politische Scheiße verlor, an den Innensenator,  an den Bezirksbürgermeister, an Michael Cramer, und an die zahlreichen, wirklich verdammt herzlichen Helfer, die begriffen haben , dass dies kein Spaßlauf war.

Ich ignoriere meine Leistung, bin stolz. dass dieser Bericht in Wikipedia für alle Zeit der Welt verankert bleibt. Gegen das Vergessen, für die Demokratie, gegen die Lügen der Politiker und für die Freiheit. Der Dank geht an alle Mitwirkenden, insbesondere an die demokratischen Politiker von Berlin, die diesen Lauf unterstützt haben, an all die kleinen Leute und meine Laufkamerden, die keine Mitläufer sind.

Der nächste 100 Meilen- Mauerweglauf findet 2013 statt, gegen das Vergessen, für die Demokratie und gegen die Lügen der Politiker.

Ich halte die Medaille in der Hand, die mir vom Innensenator überreicht wurde, gehe zu Karin Gueffroy,  Mutter des toten Chris, drücke ihr die Medaille in die Hand für ein Foto. Tourihaft blöd. Ihr Sohn ist auf der Medaille abgebildet. Ich fühle mich dabei verdammt dreckig, ganz scheiße. Aber sie vermittelt mütterliches Gefühl. Ich mag sie, ich mag sie sehr, Liebe auf den ersten  Blick. Ich möchte, dass sie die Mutter dieses Laufes wird. 26:05 Stunden, sie ist die  Mutter der Nation.

Niemand hatte (!!) die Absicht 100 Meilen zu laufen!

 

 
 

Informationen: 100 Meilen Berlin (Mauerweglauf)
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