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Laufberichte

Laufen bis es knallt

 
Autor: Joe Kelbel

An diesem Wochenende höre ich mehrfach sowas, wie: „Joe, du bist schuld, dass ich heute hier laufe“. Dagegen sagte neulich jemand zu mir, er würde die 100 Meilen von Berlin nie laufen, die Geschichte sei ihm zu deprimierend. Tatsächlich ist die Umrundung des ehemaligen West Berlins nicht nur aus historischen Gründen  bedrückend, es reicht schon der jetzigen Zustand der Stadt und die unzähligen Wahlplakate, die dann doch eine bessere Zukunft versprechen.

Wenn wir am Sonntagmorgen nach 145 Kilometern über die Oberbaumbrücke laufen werden, da sieht man dieses: „Berlin, du kannst so schön hässlich sein“, während sich zerbrochene Bierflaschen in die Schuhe bohren. Wir laufen in diesem Jahr also entgegen des Uhrzeigersinns. Die Richtung, wie die Uhr läuft, kopiert die Sonnenuhr. Es heißt, wer sich nach dem Uhrzeigersinn orientiert, der hat Hoffnung.  Deswegen laufen die Bänder im Sushi Circle im Uhrzeigersinn. Da erübrigt sich die Frage, warum sich die Bänder der Gepäckausgabe andersrum drehen. Für Rollkofferzieher, die Rechtshändler sind, ist die Rechtsdrehung schwierig, die sollten also nächstes Jahr nicht hier antreten.

Wir geben unser Gepäck in die drei nichtdrehenden, farbigen Beutel, die man bei der Startunterlagenausgabe bekommen hat, wirft sie vor dem Start in den jeweiligen Container, die für die drei Dropbag-Stationen bei km 34, 71 und 103 vorgesehen sind. Die Startunterlagen gibt es freitags im H4 Hotel am Alexanderplatz, wo im November 1989 die größte Demonstration in der Geschichte der DDR stattfand. Drei Tage später trat die DDR-Regierung zurück. Reihenweise schieden nun die SED Funktionäre „infoge seelischen Drucks freiwillig aus dem Leben“. Am 09. November dann die denkwürdige Rede von Günter Schabowski. Noch in der Nacht stürmten die DDR-Bürger die Grenze.

 Ich stürme die ehemalige Grenze vom Prenzlauer Berg aus, weil ich eine morgendliche U-Bahnfahrt zum Jahn-Sportpark (dem Startplatz)  meide, ich brauche Freiheit. Der Prenzlauer Berg ist die höchste „Erhebung“ von Berlin, einst Hochburg für Biodeutsche, jetzt Wohngegend für Latte-Macchiato-Mütter und Hipster. Amtssprache ist hier Englisch, dicht gefolgt von Französisch.

Der Prenzlauer Berg ist die Endmoräne der skandinavischen Gletscher. Die Stadt Prenzlau jedoch ist bei Templin, wo Angela Dorothea Kasner aufgewachsen ist. Deren Pfarrerseltern waren anders als die meisten Deutschen, sie zogen 1957 entgegen der allgemeinen Laufrichtung mit der Zweijährigen von Hamburg in die DDR.

Von meinem Hostel geht es gleich in die Buchholzer Straße.  Da ich niemanden deprimieren will, erzähle ich nicht von den zwei Toten, die die SED in der Buchholzer Straße zu verantworten hat, obwohl die Mauer erst 200 Metern weiter stand. Die Gründung der SED ging 1946 ganz einfach: Man sagte,  KPD und SPD sind jetzt eine Partei, besetzte die Parteiposten mit je einem KPDler und einem SPDler. Ab 1948 wurden die Ex-SPDler dann „ausgesäubert“.  Für diejenigen 800.000, die daraufhin aus der Partei austraten, wurde die Zukunft in der DDR zur Hölle. Auch wer studierte Eltern hatte, hatte keine Zukunft mehr. Ser durfte nicht mal mehr Abitur machen.

 

 

Helles Flutlicht vom kleineren der zwei Stadien im Jahn-Sportpark begrüßt mich. Es gibt Kaffee und Brötchen für die Ultraläufer. Dusch-und Wechselklamotten deponiert man im ersten Stock. Ich nehme dieses Jahr zum fünften Mal teil. Bei meiner dritten Teilnahme war mir die Achillessehne bei km 124 gerissen, ich habe aber trotzdem gefinisht. Die ganze Geschichte kann man  in meinem demnächst erscheinenden Buch nachlesen: „Laufen, bis es knallt“.

Ohne Knall erfolgt der Start. Nach der Runde im Stadion geht es an der Max Schmeling Halle vorbei, sie wurde für die Olympischen Spiele 2000 gebaut, die dann aber in Sydney ausgetragen wurden. Die Halle steht direkt an der ehemaligen Grenze auf einem Kriegstrümmerberg, der einst ein Bahngelände (West) überragte. Auf dem Trümmerberg standen noch recht lange die Wachttürme der DDR. 1992 finanzierte die Allianz Stiftung dann den Umbau des Bahngeländes zu einem Park.

Die Brache „Nasses Dreieck“ hört sich anziehend an, ist aber ein großes Hundeklo und  einst ein genialer Fluchtort. Hier zwischen drei Bahndämmen gelang mehr Ost Berlinern die Flucht, als je entlang der gesamten Mauer ermordet wurden.    

Die Gleise unter der Fußgängerbrücke, die wir nun überqueren, waren ab 1961 unterbrochen. Schon 1949 änderte die DDR die Gleise ringförmig entlang der Sektorengrenze um Westberlin, damit deren Bürger nicht durch West Berlin fahren. Deshalb führt der Mauerweg zwischen West und Ost Berlin oft entlang von deprimierenden Gleisanlagen.

 

 

Wir laufen über die Behmstraßenbrücke. Hier befand sich auf einer Brache im  Niemandsland ein Gleis, welches die Franzosen  auf der westlichen Seite der Mauer nutzten, aber rechtlich gesehen auf Ostberliner Gebiet. Niemand weiß, warum der Westbürger Lothar hier spazieren ging. Er wurde mit gezielten Schüssen der Grenzer getötet. Wenige Meter weiter wurde Silvio erschossen, die Familie erfuhr erst nach der Wende von seinem Schicksal. Sein Leichnam gilt als vermisst.

Vor uns die ehemalige Grenzstation Bornholmer Straße. Hier tat Harald Jäger am 09.11.89 seinen Dienst, als Günther Schabowski die Öffnung der Grenzübergänge nach West Berlin verkündete. Die Menschen drängten über die Grenze, die Situation drohte zu eskalieren. Harald Jäger bekam die nichtssagende Anweisung, den „größten Schreiern“ die Ausreise zu genehmigen. Doch da drängten sich schon Tausende unter den Schlagbaum durch. Ironischerweise war Harald Jäger der erste, der  sich 1961 freiwillig zu den NVA-Grenztruppen meldete, deswegen durfte er 1976 studieren.

In sämtlichen Bögen der Stadtbahn an der Wollankstraße gab es Fluchttunnel. Die hielten jedoch nicht besonders, denn der Untergrund besteht aus Sand, und jedes Mal, wenn ein Zug darüber fuhr, stürzten die Tunnel ein.

Der diesjährige Lauf ist Dorit Schmiel gewidmet. Die 20jährige wurde im Februar 1962 hier, etwa bei km 10 unseres Laufes erschossen. Für Dorle, wie sie genannt wurde, gibt es noch keine Gedenkstele. Also wird improvisiert, damit wir hier eine rote Rose für sie ablegen können. Für die meisten Maueropfer gibt es noch keine Gedenkstele. Man darf sich nicht über die Fotos der Maueropfer wundern, die Stasi räumte die Wohnung der Ermordeten leer, vernichtete persönlichen Besitz und Fotos, um deren Existenz zu leugnen. Geblieben sind bestenfalls Kinderbilder, die die Verwandtschaft im Westen noch hatte.

Der nächste Abschnitt ist landschaftlich geprägt. 23 Jahre lang hat die DDR hier ihren Müll aufgehäuft, jetzt lässt man  Drachen und Modellflugzeuge über den ehemaligen Grenzstreifen fliegen. Für mich Gelegenheit, auf der schnurgerade Strecke Gas zu geben. VP 2 (km 13) ist erreicht.

Michael Irrgang startet den weltweit erstmaligen Versuch, als 24 Stunden Pacer bei einem 100 Meilenlauf zu fungieren. Ich bin vor ihm und träume von der Gürtelschnalle, die man erhält, wenn man unter 24 Stunden finisht.

Wir kommen nach Glienicke-Nordbahn. Es gibt viele „Glienicke“ in Berlin, es ist slawisch,  bedeutet „Lehm“. Nordbahn bezieht sich auf die Bahnstrecke Berlin-Stralsund (1877). Viel Weitsicht hatte man in Berlin nie, zumindest nicht in der Namensgebung. Drei Fluchttunnel gab es hier, der Aagaard Tunnel wurde erst 2011 entdeckt, ist jetzt archäologisch bedeutsam. Familie Aagaard kam im August 1961 aus den Sommerferien zurück und hatte nun die Mauer vor der Haustür. Wenn sie aus dem Haus traten, mussten sie ihren Pass vorzeigen und erklären, warum sie hinausgehen.

Warum ich hier laufe, ist schnell erklärt: ich kann es. Allerdings stehen jetzt hier die vielen Gedenkstehlen der Mauertoten. Bei der Oranienburger Chaussee (km 18) geht es mir immer schlecht, wenn wir mit dem Uhrzeigersinn laufen. Heute läuft es sich wunderbar, optimales Wetter, glückliche Gesichter um mich rum.

Doch hier gibt es Fotos vom ekligen Grenzstreifen und mittendrin den VP 4 Naturschutzturm (km 23). Der ehemalige Grenzturm hört sich jetzt biologisch an, war damals aber nicht biologisch. Im Schatten des Turmes sind viele gelaufen bis es knallte.  Jetzt wachsen hier Bäume, voll mit Mirabellen. Die Früchte liegen zerquetscht auf dem ehemaligen Todesstreifen, so wie Willi, der sich nach misslungenem Fluchtversuch lieber selbst erschoss. Und ich stelle mir die Frage, was hätte ich gemacht?

Wo jetzt McDonalds ist, lag Michael Bittner auf der Mauerkrone. In der kurzen Zeit, in der er Luft in 4 Meter Höhe holte, trafen ihn 32 Schüsse. Es war normal, dass NVA-Soldaten aus allen Rohren  feuerten, sie standen unter enormem Druck. 2011, bei meiner ersten Teilnahme, wurde mir hier fürchterlich schlecht, als Jugendliche die Luftballons eines McDo- Kindergeburtstages mit lauten Knallen zum Platzen brachten. Das war ein schrecklicher Bogen in die Gegenwart.

Die Invalidensiedlung (1748) in Reineckendorf wurde für die Kriegsversehrten des Zweiten Schlesischen Krieges erbaut. Noch immer heißt das Motto: “Wohnfühlen trotz Handycap.” Eingeschaltetes Handy gehört zur Pflichtausrüstung dieses Laufes. Die Orga wählt tatsächlich während des Laufes stichprobenhaft Läufer an, da bei einer vorherigen Austragung ein dehydrierter Läufer erst Stunden nach Zielschluss irgendwo im Umland gefunden wurde. Die Pflicht, an roten Ampeln zu warten, wird von DLV-Kampfrichtern gnadenlos überwacht.

Wir kommen zum Ruderclub Oberhavel (km 34), ein sehr großzügiger Verpflegungspunkt. Gereizte Stimmung hier, eine Staffel wurde wegen Rotlichtverstoßes disqualifiziert. Eine andere, weil ein Läufer in der Stadt mit Ohrstöpseln gelaufen ist. Rigoroses Durchgreifen der Orga ist wichtig, es soll nicht noch mehr Mauertote geben!   

Vor einigen Stunden hat ein fieser Nieselregen eingesetzt, die Kleidung reibt jetzt, in meinen Schuhen melden sich Schwachstellen an geschrumpelter Haut.

In Nieder Neuendorf (km 39) steht noch ein Grenzturm (1987). Ich war nie drinnen, der Eintritt ist frei. Hier bedient das Team „Berliner Vollmondmarathon“. Zweimal im Jahr wird der ausgetragen, das nächste Mal am 31.03.2018.

Die Grenze war inmitten der Havel. Todesstele neben Todesstele an dieser Strecke, deren Grenzen für den Normalbürger undurchschaubar waren. Die Sektoren wurden 1945 gemäß der Grenzen von Groß Berlin aufgeteilt. Die Bildung von Groß Berlin 1920 fußt auf der Landvermessung der Preußen von 1865-68, und die ordneten Grundstücke jener Gemeinde zu, in dem der Besitzer oder Pächter seine Steuern zahlte. Daran dachten die Siegermächte nicht, als sie die Potsdamer Konferenz abhielten, Deutschland aufteilen und die Vertreibung der Deutschen aus den östlichen Gebieten beschlossen.

Wir kommen zu den ehemaligen Exklaven Erlengrund und Fichtewiese. Dies waren Kleingartenkolonien, deren Grundstücke vor ´45 von einem West-Berliner Bootsclub gepachtet wurden. Um zu ihren Grundstücken zu gelangen, mussten die Kleingärtner nun an der Mauer klingeln und dann mit Schubkarre und Picknickkörbchen durch eine regelrechte Gefängnisschleuse, dann über einen abgezäunten Weg durch den Grenzstreifen laufen. Die Grenze (sie ist immer noch die Grenze zwischen Brandenburg und Berlin) verlässt hier die Mitte der Havel und führt nordwestlich um Spandau herum. Kurzer Blick auf die „Bürgerablage“ in West Berlin, die ihren Namen nicht deswegen hat, weil sich die Bürger hier am Strand ablegen, sondern weil dies ein Ablageplatz für Holz war, dessen Erlös der Bürgerkasse zukam.

Verpflegungspunkt Schönwalde (km 46), die „Peace Runner“ betreuen den VP. Bereits im Mai 1989 liefen sie mit einer Staffel die damals noch existierende Mauer entlang. Ich muss meine wunden Füße abkleben, aber auf der nassen Haut will nichts halten.  Wenn ich die nassen Strümpfe wieder anziehe, rutscht das Klebeband nach oben. Das sieht nicht gut aus für heute.

Direkt nach dem Verpflegungspunkt biegen wir auf den Eiskellerweg ein. Er führte zur West-Berliner Exklave „Eiskeller“. Einst wurde hier für eine Brauerei Eis gelagert, daher der Name. 20 West-Einwohner lebten hier auf ihren Höfen, umschlossen von DDR Gebiet, nur mit dieser 800 Meter langen, durch Mauern kanalisierten Straße mit Westberlin verbunden. Im Gebiet Eiskeller wiederum lagen zig DDR-Enklaven, Grundstücke mit Häusern, die zu Brandenburg gehörten. Berühmt die Story des Schülers, der blau gemacht hatte und als Begründung angab, er wäre von den Russen angehalten worden. Fortan wurde er von einem britischen Spähpanzer zur Schule geleitet.

 

 

Die Exklave “Große Kuhlake” und „Wüste Mark“  wurden vom West-Berliner Landwirt Hans Wendt bewirtschaftet.  Dazu musste er mit seinem Traktor über die Transitstrecke zu seinen gepachteten Exklaven. 1970 fand er auf seinem Acker Käse: 254 DDR-Chester, von Unbekannten vergraben. Den Käse gab es mit Kümmel, Kräutern, Champignons, Salami, Schinken, Pfeffer, Pfeffer und Gurke, Pfeffer und Tomatenmark, Tomatenmark und Senf (Marke „Party“), mit gerösteten Zwiebeln, mit Paprika, aber ohne Bier. Wenn die DDR in der Angebotsvielfalt irgendwo Weltspitze war, dann beim Chester.

Wir überqueren die Bahngleise der Eichholzbahn, die einst direkt vor der Mauer endeten.  Am 5. Dezember 1961 brach von Brandenburger Seite ein Zugführer mit seiner Dampflok und acht Wagons durch die am 13. August 1961 errichtete Mauer. 25 Personen gelang so die Flucht nach Staaken.

In Staaken sind auf West-Berliner Seite kasernenartige Häuser, auf dem ehemaligen Todesstreifen stehen jetzt schicke Einfamilienhäuser.  Wir laufen über hässliches, westliches Kopfsteinpflaster. Ich möchte in das „Grenzeck“, eine Kneipe, in dessen Inneren schaurige Originalaufnahmen zu sehen sind. 1902 wurde das Haus gebaut, seit 1920 existiert die Kneipe, ab 1961 mit der zwei Meter entfernten, vier Meter hohen Mauer (Nennhauser Damm 39). Sehenswert, eiskaltes Bier, doch leider wegen Renovierung geschlossen.

VP 9 Falkenseer Chaussee (km 52)ist erreicht. 22 Tonnen Verpflegung für 1000 Läufer musste die Orga entlang des Mauerweges deponieren, dazu kommt noch die Verpflegung, die die 27 Helferclubs selbst anbieten. Eine gewaltige Aufgabe. Die Verpflegungstische sind genial sortiert, damit man in seinem Läufertran nicht lange suchen muss. Das Ingwerwasser wird gerne genommen, viele haben Magenprobleme.

1888 wurde auf dem Hahneberg das Fort gebaut, um die Rüstungsindustrie von Spandau zu schützen. Seit 1945 liegt es brach, Zugang hatten nur DDR Grenzer, denn hier war einst die Grenzübergangsstelle Heerstraße.

Am VP 10 Karolinenhöhe (km 58) rechne ich mir aus, dass ich nur noch 103 Kilometer zu laufen habe. Fünf Kilometer bis zum Verpflegungspunkt Pagel & Friends (km 63). Der Bauunternehmer Bernd Pagel feiert nicht nur mit Freunden im Vorgarten, sondern regelmäßig auch mit den 100 Meilen Läufern. Sogar ein DJ heizt den Läufern ein. An den Pellkartoffeln ist Petersilie. Ein Highlight!

Die Grenze verlief nun durch den Groß-Glieniker See, die Mauer stand am Ufer, das von DDR-Seite nicht zugänglich war. Wir laufen durch das Potsdamer Tor des  im Krieg zerstörten Rittergutes Groß Glienicke(1375), das durch die DDR-Grenze geteilt wurde. Otto Wollank erwarb das Gut 1890. Er war berühmt für seine großzügigen sozialen Leistungen, die ihn aber in die Pleite trieben. Wir laufen an der ehemaligen von ihm gestifteten Schule und dem Kindergarten vorbei.

Fontane schrieb über die Familie von Ribbek, die gegenüber des Kindergartens  in der Gruft liegt: „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, ein Birnbaum in seinem Garten stand, und kam die goldene Herbsteszeit, und die Birnen leuchteten weit und breit, da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl, der von Ribbeck sich beide Taschen voll, und kam in Pantinen ein Junge daher, so rief er: Junge, willste 'ne Beer?“

Bier, auch Malz- und alkfreies gibt es fast an jedem VP, wo nicht, habe ich Privatverpflegung. Man kennt mich. Ich bin froh, dass ich Wechselpantinen beim Schloss Sacrow (km 71)  deponiert habe. Allerdings braucht es viel Zeit, die frischen Socken über die nassen Füße zu ziehen. Auch der Wechsel der Hose, die mich wund gerieben hat, gestaltet sich nicht einfach, schon gar nicht bei den vielen Zuschauern. Ultralaufen ist endwürdigend.

 

 

Das Schloss Sacrow wurde von einem schwedischen General 1773 gebaut, der in der Preußischen Armee diente. Zu DDR-Zeiten war hier das Trainingslager des Zolls. In den Parkanlagen  wurden die Spürhunde für das Auffinden von Flüchtlingen scharf gemacht. Cut off  Zeit hier ist 19:30 Uhr, kein Problem für mich, ich bin immer noch auf 24 Stunden-Kurs. Ich bin absolut fit, doch dann zieht Michael, der Pacemaker vorbei.  

Stefan driftet vor mir vom Weg ab. „Alles klar?“ „Bin nur kurz eingeschlafen.“ Auch mir fallen die Augen zu, konnte letzte Nacht vor Aufregung nicht schlafen. Ist normal vor so einem Horrorlauf. Normal sind nicht die wunden Stellen, die die regennasse Hose gerissen hat, auch ein Profi vergisst mal wichtige Vorkehrungen.  

Die Havel, der Grenzfluss, führt uns über den Jungfernsee nun weit hinauf nach Nordwesten. Gegenüber ist das Brauhaus Meierei zu sehen, doch bis dahin sind es noch ewige 10 Kilometer.

Am westlichsten Ende unserer Laufstrecke, in Krampnitz, war die Heeresreitschule der Hannoveraner Kavallerie (1939). Es sind tolle, teure Pferde, die ich jetzt sehe, dennoch beschleicht mich hier ein eigenartiges Gefühl, das vom fiesen Kopfsteinpflaster am ehemaligen Ende des westlichen Berlins, der Abgeschiedenheit, der Sinnlosigkeit und weiteren 83 Kilometern geprägt wird. Bei der  Revierförsterei Krampnitz (km 77) organisiert Mücke mit seinem verrückten Stammteam seit 2011 den VP. Es ist kein einfacher Weg dorthin, doch das Team kann mich aufheitern. „Wann fangen eigentlich die Halluzinationen bei einem 100 Meilen Lauf an?“

Der Turm der ehemaligen preußischen Kaserne ist mit Mobilfunkantennen garniert, wir gelangen nach Neu Fahrland, das liegt auf einer der Inseln im Durcheinander von Havel, fünf Seen und Kanälen, und war zur Kaiserzeit sehr beliebt bei Adel und Großindustriellen, wie dem Hotelier Adlon und Carl Friedrich von  Siemens, der im prächtigen Heinenhof wohnte. Wegen seiner Heirat mit der Tochter des Zoodirektors entstanden hier alsbald Tiergehege mit spielerischer Wegeführung, der wir nun leider auch folgen müssen. Der Heinenhof wurde nach der Wiedervereinigung zurück an die Siemensfamilie gegeben, die aber das Anwesen schnell an die Investorenfamilie Jagdfeld veräußerte. Wer will, kann den maroden Palast mit 6300 Quadratmetern Wohnfläche für einen symbolischen Preis erwerben.

Die Brücke über den Sacrow-Parentzer Kanal führt uns nach Nedliz, das in DDR-Zeiten von einem wunderschönen Stützpunkt der Weißen Flotte zu einer Industriebrache mutierte. Das frühere Parkrestaurant war bis 1990 eine volkseigene HO Gaststätte, verfällt nun, wie viele Gebäude hier.  

Mein Verfall wird aufgehalten, ich nähere mich dem VP 14 ,Brauhaus“ Meierei (km 83). Hier kredenzt uns Wirt Toralf Gerstäcker, der auf Platz 611 der Berliner Halbmarathonliste steht, das beste Bier Berlins. Die Meierei war einst die Molkerei zur Versorgung der Potsdamer Hofgesellschaft, glücklicherweise wird es seit 2003 dem besseren Zweck gewidmet. Ich fülle meine Notfallflasche mit Bier auf und laufe weiter. Zwar ist eine Getränkeflasche bei dieser guten Versorgung nicht notwendig, aber manchmal doch hilfreich.

Die kaiserliche Matrosenstation Kongnaes (nor.: Kong= König, Naes= Nase, Landzunge) war einst die Anlegestation des preußischen Königshauses für Lustfahrten mit der wunderschönen Dampfjacht „Alexandria“ auf der Havel. Ein Schmuckhändler erwarb 2009 die Reste der Station. Anscheinend ging ihm das Geld aus, denn die Renovierungsarbeiten nehmen keinen Fortschritt. Gegenüber auf der Pfaueninsel waren ein Dreimaster und die Fregatte „Royal Louise“ stationiert.

Rechter Hand Schloss Cecilienhof, 1917 für die Gemahlin von Kronprinz Wilhelm erbaut. Kronprinz Wilhelm von Preußen war der erste der sechs Söhne des 99 Tage Kaisers Friedrich Wilhelm III. Er wurde 1945 durch marokkanische Truppen im Voralberg  gefangen genommen. Marokkaner unterstützen die französische Besatzungsmacht. Der Chef der Hohenzollern, ein extremer Raucher, starb 1951 an Herzversagen.

An Herzversagen soll niemand bei diesem Lauf sterben, deswegen ist ein ärztliches Attest Voraussetzung für die Teilnahme an den 100 Meilen. Zwar ist dieses Attest keine Garantie fürs Überleben, aber zumindest der Sinusrhythmus wurde überprüft. Der rastet bei Extremläufern nämlich schon mal aus, weil Ultraherzen dazu neigen,  zusätzliche Sinuspunkte zu generieren.

Auf der gusseisernen Glienicker Brücke wurden zwar nur dreimal Agenten ausgetauscht, doch seit dem Film „Der Spion, der aus der Kälte kam“ ist sie weltberühmt. Wir müssen wegen Verkehrssicherheit einen nervigen Umweg nehmen, um hinauf zur Brücke zu kommen.

Klein-Glienecke war eine DDR-Exklave auf West-Berliner Gebiet, „Blinddarm“ genannt, jetzt UNESCO-Welterbestätte, wegen der Schweizerhäuser, die Carl von Preußen 1863 bauen ließ. Die Backsteinkapelle (1881) ist ein Traum von Bauwerk. Sie wurde 1979 geschlossen, nachdem Handwerkern von hier aus die Flucht gelang. Der Bürgershof (1873) war einst der größte Biergarten der Welt.  Vor zwei Jahren, als wir 35 Grad bei den 100 Meilen hatten, habe ich hier zwei herrliche Bierchen genossen. Bei dem Wetter heute ist das nicht nötig. US Präsident Truman wohnte während der Potsdamer Konferenz nebenan. Das Havelschlösschen war das edelste der Ausflugslokale für die Oberschicht des 20. Jahrhunderts. Die Aufschrift „ Konsum“ auf einem der schmucken Häuser klingt niedlich im Verhältnis zu der großartigen Zeit von Klein-Glienecke. Begeistert bin ich auch über die Ampelregelung, die den seltenen Autoverkehr über die Brücke des Griebnitzsees regelt. Wunderschöne Ecke hier.

Wunderschön auch die Häuser oberhalb des Griebnitzsees, die von wohlhabenden Bürgern restauriert wurden. Doch der Bürgersteig, auf dem wir laufen, ist auch für einen Trailläufer eine Zumutung. Mein vorrübergehender Mitläufer sagt dazu: „ Die, die hier wohnen, könnten doch den Bürgersteig locker selbst finanzieren!“ Recht hat er, aber bekommt die Landeshauptstadt etwa keine  Steuern von diesen Bürgern hier, oder warum kommen die ihrer Pflicht nicht nach?

Am VP 15 Gedenkstätte Griebnitzsee (km 90) sind theoretisch die letzten erhaltenen Originalmauerstücke: „ Sie erheben als stumme Zeugen Anklage gegen das SED-Unrechtssystem, halten die Erinnerung an die Maueropfer wach, und machen den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie (be-)greifbar.“

Ich biege in den Königsweg ein. Die preußischen Könige bauten diese „Straße“ als Schnellweg zwischen Berlin und ihrer Residenz in Potsdam. Von hier geht rechts die Stichstraße in die ehemalige Exklave Steinstücken, wo damals 200 Menschen wohnten, die symbolisch von drei amerikanischen Soldaten gesichert wurden. 1972 zahlte die Bundesrepublik eine Summe X, um die Exklave mit einer Straße an West Berlin anzuschließen. Wir laufen nicht nach Steinstücken hinein, denn die Mauer kesselte mit einer Ost-Nord-Ost-Nord Schleife das Gebiet ein. Erst 300 Meter weiter folgen wir der ehemaligen Mauer schnurgerade Richtung Osten, immer auf dem einsamen, dunklen Königsweg.

 

 

Die Königswegbrücke führt über die A 115. Besonderes Interesse an dieser Brücke entstand, als sie aufgrund ihrer Lage im Bereich der Mauerführung zum Beobachtungspunkt für Ost und West wurde.  Infotafel zeigen mehrere Fotos, um die historische Situation in Erinnerung zu rufen. Blick auf die ehemalige Transitkontrollstelle Dreilinden, an der viele ältere Bürger während der strengen Kontrolle an Herzversagen starben. Mich hatte man in meinem Eisverkäufer-VW-Bus ohne Kontrolle durchgelassen, hatte mich auch strikt an die Geschwindigkeitsbegrenzung gehalten und auf der Transitstrecke hinter Lastwagen versteckt.  

Es wird schnell dunkel, manchmal sieht man das Blinken irgendwelcher Reflektoren der Laufkleidung. Am Königsweg, bei km 97 wohnt Familie Thiel. Stets gibt es hier heiße Kartoffeln, Kaffee und Bier. Wichtig sind die Liegestühle, denn niemand von uns ist hier noch königlich. Immer mehr Läufer steigen aus, haben dann aber noch einen kalten Weg zur nächsten S-Bahn Station vor sich.

Entlang des Teltowkanals ist es stockdunkel. Gut, dass ich bei km 71 Sicherheitsweste und Stirnlampe mitgenommen habe, allerdings hat die Stirnlampe einen Wasserschaden und macht Probleme. Die  nervige Straße zum Sportplatz Teltow (km 103) ist hell erleuchtet.  Auf der Gegenseite kommen mir die Läufer entgegen, die sich schon erfrischt haben. Cut off Zeit wäre 00:30 Uhr, es ist 21 Uhr, eine sehr gute 100 km Zeit für mich. Hier gibt´s Duschen, Nudelsuppe, Radler und Matten, um sich hinzulegen. Diejenigen, die sich hier ablegen, werden nicht mehr finishen, denn ich komme rein, als es bei 12 Grad anfängt zu regnen. Werde Stefan und René nicht wiedersehen. Aber auch für mich bedeutet Kleidungswechsel und Abkleben der Blasen eine große Anstrengung und nimmt viel Zeit in Anspruch. Mit heißer Brühe versuche ich meinen Kreislauf zu stabilisieren.

Vor dem Olsdorfer Damm ist die einzige rein private Verpflegungsstation auf 100 Meilen. Ich habe den Kerl letztes Jahr kennengelernt, als er drei Becher Wasser auf seinem Gartenpfosten angeboten und sein Hund mir das Salz von der Hand geleckt hatte. Jetzt ist hier eine kleine Party, die ich mit Conny und Jörg zusammen genieße. Klasse Leute hier!

Nach der Verpflegungsstation Lichtenrade ist mir 2013 die Achillessehne gerissen, als ich über eine Bodenwelle gestolpert bin. Jetzt ist der Weg gut asphaltiert, doch das kleine Karree durch Lichtenrade bietet immer noch schmerzhaftes Kopfsteinpflaster.

Am Kirchhainer Damm (km 120) bei Familie Blisse gibt es selbst gemachten Leckereien. Kuchen, Kekse, Brot, Bouletten, Pasta und Suppe. Ich lasse mich auf einer der Liege nieder und schließe die Augen.

In Buckow  laute Musik und gute Stimmung.  Ich erinnere mich,  wie ich 2013 wegen der gerissenen Achillessehne hier sterben wollte.  Auch davon werde ich in meinem zweiten Buch („Laufen bis es knallt“) berichten. Im Mittelalter hatte man den Gefangenen die Achillessehnen durchschnitten, damit sie nicht fliehen. Naja, man kann mit durchtrennten Sehnen durchaus noch gehen, aber wegen der Schmerzen wirft der Körper nicht nur über die Tränendrüsen Ballast ab.

Wir sind jetzt etwa 300 Meter entfernt vom eigentlichen Mauerweg, der verläuft entlang der A 113, genauer gesagt dort, wo die Autobahn unterirdisch geführt wird.  Kein schöner Ort zum Laufen. Aber deswegen wurde der sumpfige Ort 1954 ausgesucht, um einen Spionagetunnel zu bauen. Die Amerikaner bestachen Postangestellte der DDR, um die Telefonknotenpunkte zu finden, über die die Kommunikation der russischen Streitkräfte lief. Dann wurde der Tunnel gegraben und heimlich 3000 Tonnen Erde beiseite geschafft. 600 Arbeiter waren damit beschäftigt, 125 Tonnen Stahl im 400 Meter langen Tunnel zu verarbeiten. 6 Millionen Dollar, damals viel Geld, kostete der Bau. Die Sowjets wussten durch ihren Topspion George Blake von Anfang an Bescheid, konnten aber keine Falschmeldungen ins Telefonnetz einspeisen, um ihn nicht auffliegen zu lassen. So erfuhren die Amerikaner, dass die Sowjets keine militärischen Pläne, sondern nur Probleme hatten.

 Probleme hatten die Amerikaner im April 56, denn es regnete und regnete und die maroden Kabel lösten sich auf, die Kommunikation war unterbrochen. Das war die Gelegenheit für die Sowjets, das Projekt auffliegen zu lassen. George Blake wurde erst 1959 enttarnt und zu 42 Jahren Gefängnis verurteilt. Aus der Haftanstalt in England floh er mit einer Strickleiter über die Mauer, flüchtete dann über den Tunnel an der Friedrichstrasse in die DDR. Er lebt jetzt in Moskau. Über die Friedrichstrasse floh auch mein Großvater… dazu mehr in 6 Stunden.

Der Mond ist aufgegangen und beleuchtet die Felder bei Groß-Ziehten und Schönefeld. Eine S-Bahn, original DDR,  rauscht am schummrigen Horizont durch die Ortschaften. Ich höre das Anfahren und Bremsen an jeder Station, während mir die Spitzen der Goldähren entgegenklatschen. Es hat aufgehört zu regnen, doch mir ist kalt. Plattgelaufene Nacktschnecken liegen auf dem Weg, lebende Nacktschnecken laben sich an den Leichen. Als ich in so einen grauenvollen Haufen aus etwa 10 Schleimkörpern hineintrete, glitschen mir die Schleimwürste unter dem Schuh weg und klatschen mir mit ekelhaftem Sound hinten gegen die Oberschenkel. Ich gelange zu der Erkenntnis, dass eine 24-Stunden-Gürtelschnalle ein Hindernis wäre, falls man sich mal nach unten begeben muss, um Schneckenleiber von den Schuhen zu kratzen.  Also lasse ich mich ab jetzt stark zurückfallen.  

Mir geht mein eigenes Tapp-Tapp und das der anderen Läufer auf den Sack. Aus der Ferne bellen Hunde. Viele. Dazwischen Saufgeräusche aus irgendwelchen Gärten entlang der Laufstrecke. Die Hunde auf dem Todesstreifen bekamen nur 200 Gramm Fleisch am Tag, damit sie scharf blieben. Das ständige Bellen und Rasseln der Ketten muss fürchterlich gewesen sein. Manchmal liefen die Hunde gegen den Signalzaun, dann gab es Alarm und die ekligen Peitschenlampen sprangen geräuschvoll an, raubten die Sicht. Ich wäre geflüchtet! 100%ig!  

Mich kotzt es an, wenn Leute „ Presseberichte“ über Pietro Lombardi verfolgen, aber niemals das Wahlprogramm einer Partei gelesen haben. Belangloses und geiles wie  „Bauer sucht Frau“ und „Big Brother“  unterdrücken den Willen nach Information. Ich frage einen Mitläufer, ob er jetzt im Dunkeln fühlt, welche politische Scheiße hier einst abging.  Da erzählt er mir was von Trump und dass das wohl auch Scheiße wäre. Ich entziehe mich dem Gespräch.  Er hat nix kapiert. Ich verschwinde in die Büsche.

Ist jetzt keine schöne Gegend hier am ewiglangen Teltowkanal. Endlich, unterhalb der Autobahnbrücke (A113) biegen wir nach Osten ab, folgen nun dem deprimierenden Britzer Verbindungskanal, bis zu dem Kaffeehersteller, wo die Gedenkstehle vom letzten Mauertoten…. wer, außer uns Mauerwegläufer weiß das noch?   Ach, ich will nicht mehr, Kampf gegen Windmühlenflügel. Seine Mutter wird mir in wenigen Stunden die Finishermedaille überreichen. Der Kaffeehersteller verbreitet kilometerweiten Röstduft, das weckt die Lebensgeister.  

Die Sonnenallee, km 140, wurde erst 1947 so genannt.  Vorher hieß sie Braunauer Straße (warum wohl?), ist aber Filmkennern unter „Sonnenallee“ bekannt. Hier verlief die Sektorengrenze. Im November 1989 wurden zwar die Straßenbarrikaden abgeräumt, die Kontrollstelle jedoch war noch Monate in Betrieb, obwohl die anderen schon längst offen waren. Die Grenzer stempelten die DDR-Pässe schräg, was bedeutete, dass diese Bürger nicht mehr zurück in den sozialistischen Musterstaat dürfen.

Ein Ultralauf ist entwürdigend, grad in den frühen Morgenstunden am Heidekampgraben, wenn sich die Läufer die wenigen deckungsgebenden Zonen mit neugierigen Hunden teilen müssen. Da muss ich wieder lachen. Doch der ewiglange Lauf entlang der Häuser der Wohnungsbaugenossenschaft ist nicht mein Ding, hier wohnt nicht die Upperclass. Der Heidekampgraben teilt wenig weiter die Kleingartenanlagen, die ihre Namen aus einer anderen  Zeit haben: Westlich KGA Freiheit, Südpol, Stolz von Rixdorf. Östlich: Einsamkeit, Mississippi und Sorgenfrei. Ein Kleingärtner schleppt einen Bierkasten.  Er ist begeistert, dass ich mit meinem Fotoapparat die Bierflasche öffnen kann und erzählt von den Problemen hier: „Zur Zeiten der Mauer schlichen Menschen durch die Kolonie, in der Hoffnung, irgendwie über die Mauer zu kommen.  Nach dem Mauerfall kamen die Ostbanden, die alles mitnahmen, was sie finden konnten. Jetzt sind es die Migranten, die in unseren Hütten hausen“. Direkte Entwicklungshilfe nennt er das schwach grinsend, stößt mit mir an und wünscht mir noch „glückliche Heimreise“.

Die ist nicht so einfach, die Kiefholzstraße mit Blick auf den Funkturm zieht sich. Hier gab es eine Gartenlaube mit Tür durch die Mauer. So konnten die DDR-Bonzen schnell rüber zum Einkaufen. Es gab viele Türen in der Mauer, denn die Mauer stand auf DDR-Gebiet und wurde von den DDR-Grenzern auch von der anderen Seite kontrolliert. Hatte jemand sein Auto auf der „freien Seite“ geparkt, wurde es von der DDR abgeschleppt und erst gegen Westmark freigegeben. Schon kurz nach Mauerbau wurde die Mauer mit Graffiti verschönert, anfangs wehrten sich die Grenzer noch dagegen, dann gaben sie auf.

 

 

Die East Side Gallery (km 148) ist ein sehr langes Graffitikunststück, wenn auch kein originales mehr. Ist aber ein wunderschönes Laufrevier mit vielen Fotomotiven. In den Morgenstunden sind Asiaten unterwegs, sie leiden am Jetlag. Die Südkoreaner („You lucky German“) machen Fotos vom  Zungenkuss von Erich und Leonid. Régis Bossu, dem Franzosen aus Darmstadt, gelang 1979 dieses Bild eines pervers-perfekten Bruderkusses anlässlich des 30. Jahrestages der DDR. Honnecker neigt seinen Kopf etwas mehr, etwas verliebter zur Seite als Breschnew.  Beide halten die Augen geschlossen, als gäben sie sich ganz dem Moment hin. Leonid Breschnew und Erich Honecker küssten sich oft, zur Begrüßung, zum Dank für eine Rede, zum Abschied, auf die Wangen, auf den Mund. Die Lippen aufeinandergedrückt, zärtlich, ineinander verschlungen, zwei graue, faltige Vollidioten.

Erich wuchs im Saarland auf. Die Familie war von den zwei Weltkriegen verschont geblieben, kein Verlust von Besitztümern oder Leben. Sie verdiente ihr Geld als Vermieter, Hausbesitzer und Verpächter von Agrarparzellen. Den Steckrübenwinter 1916/17 überlebte die Familie wohlgenährt.

„Mein Gott, hilf mir, diese tödliche Liebe zu überleben“ schrieb 1990 der Moskauer Künstler Dmitri Vrube unter das Foto, was er auf das Mauerstück der East Side Gallery malte. Der Satz war nicht politisch gemeint, er brachte seinen Liebeskummer zum Ausdruck, denn er sollte sich zwischen zwei Frauen entscheiden. Der zahnlose Künstler hat es einige Jahre später wieder gemalt, weil Schmierereien sein Bild unkenntlich gemacht hatten.  Für welche Frau er sich letztendlich entschieden hatte, wissen wir nicht.  An den Straßenlaternen kleben Wahlplakate der SED-Nachfolgepartei: „ Für bessere Arbeit und höhere Löhne“.

Vor der Bundesdruckerei ein randvoller Aschenbecher.  Die Bewacher der Bundesdruckerei sind Türken. Stefan, der Fahrradbegleiter von Patrick, erklärt den Türken, warum hier vor deren Arbeitsstelle eine 4 Meter hohe Mauer war. Das dauert. Das Hochhaus der Zentrale von Axel Springer sieht heute Morgen wunderbar aus. Sehr viel hat der Verlag für den Kampf gegen den Kommunismus getan.

Am Checkpoint Charlie (km 154) ist eine super Mannschaft, die uns verpflegt. Es ist der Verein „Danke Deutschland“.  Sie sprechen Englisch, denn es sind Vietnamesen. Der gemeinnützige Verein kümmert sich um die nicht-vietnamesische Jugend von Berlin. Vom Tanzunterricht bis zum Training für Bewerbungsgespräche reicht das Coachingprojekt. Da bleibt mir nicht nur wegen des süßen Rosés, den ich am VP Tisch entdecke, der Mund offen.

Die gelangweilte Staatspolizei vor der streng gesicherten Englischen Botschaft spricht kein Englisch und verneint, nächstes Jahr mitlaufen zu wollen.  Aber über die Abwechslung von uns sind sie schon froh. Ich überhole drei wandernde Schwedinnen vor dem Bundestag, erkläre ein bisschen und zeige zum Kanzleramt: „There is Angela sleeping“.

Am Bahnhof Friedrichstraße flüchteten 1976 die RAF-Mitglieder nach Ost Berlin. Für solche Fluchten gab es hier den Bahntunnel, der mit „Dienstübergang“ gekennzeichnet war und  „Ho-Chi-Minh-Pfad“ genannt wurde. Wer das tägliche Passwort kannte, der durfte ohne Kontrolle nach Belieben die Seiten wechseln, also auch von Ost nach West und im U-Bahn Getümmel untertauchen.

Mein Großvater floh von Ost nach West, er war Agent der Operation Gehlen. Die DDR bestellte Maschinen aus dem Westen über die UdSSR, um das Embargo (CoCom)zu umgehen. Mein Großvater teilte dem Westen mit, ob die Bestellung für die DDR oder für die UdSSR galt. Für uns hört sich das jetzt wie Kinderkram an, doch damals wurden Spione durch „unerwarteten Kopfschuss liquidiert“. Bis hierher, zum Bahnhof Friedrichstrasse wurden die Gleise 1945 auf russische Breitspur umgestellt, damit der dicke Stalin zur Potsdamer Konferenz anreisen konnte.

 

 

Jürgen Litfin kaufte nach der Wende den Wachtturm, von dem aus sein Bruder Günter 11 Tage nach dem Mauerbau erschossen wurde. Günter wollte zurück zu seiner Arbeitsstätte in West Berlin. Jetzt ist hier unsere letzte Verpflegungsstelle (km 157). Wir wollen nur zurück zu unserem Ausgangspunkt von gestern Morgen. Dafür müssen wir von der Gartenstraße abbiegen und über die Bernauer Straße den Prenzlauer Berg hinauflaufen. An der Ecke Gartenstraße/Bernauer Straße machte die Mauer einen rechtwinkligen Knick. Das nutzten westliche Lebensmüde, um mit hoher Geschwindigkeit gegen die Mauer zu brettern. Anklagender Selbstmord nannte man das.

Wir laufen auf dem linken Bürgersteig der Bernauer Straße, auf dem rechten sind Stolpersteine eingelassen.  Sie erzählen nicht von Toten, sondern listen die Personen auf, denen hier die Flucht gelang.

351 von 424 Einzelstartern gelang heute ein Finish. Den anderen bietet sich die Möglichkeit am 11.08.2018, am 17.08.2019 oder am 15.08.2020 zu laufen, bis es knallt. Dieser Lauf öffnet so manchem die politischen Augen!

 

Informationen: 100 Meilen Berlin (Mauerweglauf)
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