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Laufberichte

Tiefenwirkung

03.12.11

Ein Stück vom Start entfernt wirkt die Wärme der Tiefe in den Stollen im vollen Ausmaß, was sich unter dem Fahrradhelm besonders bemerkbar macht. Der Schweiß kommt jedoch nicht dazu, in die Augen zu rinnen. Er verdunstet zuvor in der Trockenheit untertage. Ich lecke die Lippen und spüre Enttäuschung – darüber, dass ich nicht Salz spüre. Zudem ist der Sand und Staub unter den Füßen leicht pappig, das blanke Salzgestein darunter dafür rutschiger. Ich vermute, dass der Boden befeuchtet wurde, um den Fahrzeugen eine bessere Haftung zu ermöglichen – und vielleicht auch, um die Staubkonzentration in der Luft zu minimieren.

Ohne Uhr ist es nicht einfach, die gelaufene Strecke einzuschätzen. Das Gefühl für Zeit und Distanz schwindet. Es gibt jedoch zwei Anhaltspunkte, welche die 5km-Runde halbieren. Es sind dies der Verpflegungsstand und das Ende der Anstiege. Rund 110 Meter sind es immerhin pro Runde.

Nach der ersten Runde gibt ein Blick auf die Leinwand im Start-und Zielbereich das Zeitgefühl für einen Moment zurück. Die gemessene Durchgangszeit und die noch verbleibenden Runden werden vom Zeitmesssystem darauf projiziert und geben Auskunft über die Verlässlichkeit des Gefühls.

Mit einem ausgiebigen Halt am Verpflegungsposten beginne ich meine zweite Runde, auf welcher die Abstände zu den Läufern vor und hinter mir schon deutlich größer sind als auf der ersten. Mit diesem zusätzlichen Platz ist automatisch mehr Raum da für alle möglichen Gedanken. Mit jedem nicht alltäglichen Anblick – und davon gibt es im Zusammenspiel mit dem Stein, seinen Musterungen und den in ihn hineingefrästen Konturen viele – werden neue Gedanken und Überlegungen generiert.

Ist das eine Schnur oder ein Kabel, was da am Boden liegt? Welchen Zweck hat oder hatte sie oder es? Ist es eine Zündschnur und erwartet mich am Ende gar eine höllisch krachende Überraschung? In dem Fall komme ich gerne zu spät. Für einmal wäre dann das verspätete Eintreffen mit einem eklatanten Vorteil statt Nachteil verbunden. Oder sind das die restlichen Zeugnisse des Kampfes einer armen Seele, aus diesem Labyrinth zu finden, ein Versuch, dessen Ausgang weniger glückvoll war als derjenige des Theseus im Labyrinth des Minotaurus?

Gut, der hatte es insofern einfacher, als jener Höhlen-Steinbruch auf Kreta mit seinen ebenfalls kurvigen und in unregelmäßigen Winkeln aufeinanderstoßenden Gängen, welche vielerorts in Sackgassen enden, nur zweieinhalb Kilometer messen. Das ist doch immerhin ein Unterschied zu den 500km, die das ganze Geflecht hier einmal aufwies. Mittlerweile ist zwar über die Hälfte davon verfüllt, mit dem neu aufgenommenen Abbau von Steinsalz für den Winterdienst wächst die Ausdehnung aber wieder. Ersteres ist der Grund, weshalb die ursprüngliche Strecke mit vier Viertelmarathonrunden nicht mehr gelaufen werden wird, und die neue Abbautätigkeit macht eine Vorverschiebung des Marathons  in den November notwendig, da die Arbeiten für den Rest des Winters nicht wegen eines Sportanlasses ruhen gelassen werden können. Die lange Runde habe ich verpasst, den Marathon am Tag der Heiligen Barbara habe ich letztes Jahr erlebt und dies wird der letzte sein, der sich mit dem Besuch eines Weihnachtsmarktes in Thüringen kombinieren lässt. Einmal mehr zeigt es sich, dass man die Gelegenheit beim Schopf packen muss. Wer zu spät kommt …

In der dritten Runde ist es so weit, dass ich ein Gefühl dafür bekomme, wie schnell die Schnellsten unterwegs sind. Ich mag ihnen ihre Kondition und den guten Trainingsstand gönnen, doch ich zweifle daran, dass sie die Details der Tiefe so intensiv wahrnehmen und diese auf sie wirken können. Zum Beispiel die ausgedienten, von Salzstaub bedeckten Grubenfahrzeuge. So zufällig ihre Anordnung und Ausrichtung auch sein mag, es ist der Anblick eines sorgfältig in Szene gesetzten Kunstwerks. Zufall oder nicht, dass ich mich beim Abschreiten dieser Galerie von Wracks plötzlich frage, wo mein Autoschlüssel ist? Ich kann mich nicht mit Sicherheit erinnern und vermute, dass er in der Tasche meiner Überziehhose im Zielbereich ist.

Die Hälfte der Distanz liegt hinter mir und mit jeder Runde verlagert sich die Wahrnehmung mehr von der Umgebung zu mir, dem Herzschlag, dem Atem und den Muskelfasern. Diese Erinnern mich im Wadenansatz daran, dass ich immer noch in der Umgewöhnungsphase bin. Mit dem flachen Berglauf-Schuh mit seiner geringen Sprengung laufe ich eigentlich ganz locker Vorfuß, doch eben diese Muskelpartie hat noch nicht ganz umgestellt.

Je nach Beschaffenheit des Stollens hallen die Schritte von den Wänden oder wird das Knirschen des Sandes unter den Sohlen nur dumpf zurückgeworfen, dazu kommt das Geräusch der tiefen Atemzüge, welches sich nicht einfach in der Weite einer offenen Landschaft verflüchtigen kann. Was spüre ich, was denke ich? Wenig und gleichzeitig ganz viel: ich laufe. Mit allem was dazugehört.

Obwohl das Zeitgefühl fehlt, weiß ich, dass ich die Rundenzeiten langsamer werden. Spätestens der Blick auf die Leinwand vor Beginn einer neuen bestätigt mir das. Die Abschlussrunde täuscht mich allerdings gewaltig. Ich laufe sie mit Elke. Sie will nichts mehr reißen, ich auch nicht, trotzdem empfinde ich unser Tempo als flott und ich bin überzeugt, dass wir zum Schluss noch eine schnelle Rundenzeit abliefern. Der Eindruck täuscht. Typisch Tiefenwirkung eben. Es scheint so, obwohl es ganz anders ist.

Ins Ziel komme ich mit einem langgezogenen Endspurt und zwar erstaunlich lockeren Beinen, doch auch mit einem Rundenschnitt, der über zwei Minuten höher liegt als beim letzten Mal. Das ändert aber nichts an der überreichten Medaille. Die ist so schön wie die letzte und wird mir ebenso freundlich und anerkennend überreicht. Den Flüssigkeitspegel habe ich bei den netten Freiwilligen auf der Strecke jeweils so gut ausgeglichen, dass ich nach dem Zieleinlauf nur gerade einen Becher trinken muss. Für das umfangreichere Verwöhn-Programm will ich nachher noch das Gastronomieangebot nutzen, zuerst aber noch die Klamotten wechseln – und schauen, wo mein Autoschlüssel nun tatsächlich ist. Dort, wo ich ihn vermute, ist er nicht aufzufinden und auch in keiner anderen Tasche oder irgendeinem Fach des Rucksacks. Ich hoffe, dass ich ihn in der Sporttasche in der Kaue gelassen und bleibe halbwegs gelassen.

Ich gestehe, die Siegerehrung in der zu einem eindrucksvollen Konzertsaal gestalteten Kaverne geht ohne mich über die Bühne. Auf der Bühne sowieso, aber auch auf den Zuschauerrängen. Dafür sitze ich mit meinem Vater und Gerhard und Marion gemütlich bei einer der zu gnädigsten Preisen angebotenen Mahlzeiten. Diese Gelegenheit ergibt schließlich nicht alle Tage.

Nur zu schnell geht das besondere Marathonerlebnis mit all dem ihm eigenen Drum und Dran zu Ende. Bei Gerhard und Marion und bei uns stehen die nächsten Programmpunkte dieses Ausflugswochenendes an. Vorher muss ich noch den Schlüssel zu meiner nicht rostenden Plastiklaube finden. Bei meinem ersten Schritt in die Kaue kann ich diesen Punkt abhaken. Ich sehe den Schlüssel am Boden  liegen, dort wo ich mich am Morgen hingelegt habe, um einen guten Blickwinkel für die Aufnahme der unter der Decke hängenden Kleiderkörbe zu bekommen.

Auf dem Weg von der Schwarz- zur Weißkaue geht der Bergmann zur Dusche. Eine solche, angenehm heiße, genehmige ich mir auch, bevor wir uns auf den Weg zurück nach Erfurt machen. „Glück auf“ grüßt es vom blau beleuchteten Förderturm herunter und voller Eindrücke, die wir aus der Tiefe mit hinauf genommen und die noch lange ihre Wirkung haben werden, treten wir den Heimweg an.

Das war mein zweiter Untertage Marathon in Sondershausen aber bekanntlich sind aller guten Dinge drei. Mindestens. 

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