Ich lasse sie alle vorbeiziehen, setze mich hin und verklebe mir die dreckstrotzenden alten Pflaster an schmutzigen Füssen mit frischen Tapes, ziehe mir weniger nasse Socken an. Ich mag zwar leiden, aber ich bin glücklich, weiß , dass es Dörfer gibt, so ab km 30, und Dörfer bedeuten Bier, auch hier am Arsch der Welt, der so wund ist.
Dann bin ich wieder Platoon. Vor allem der Ruf der Wildtaube erinnert mich an diesen Film, denn wenn dieser Ruf ertönte, dann erfolgte der Angriff des Vietkong. Viele, viele Gedanken an diesen Krieg, es ist dieselbe Landschaft, dieselbe Qual. Viel Respekt für jene, die ähnliche Wege gehen mussten. Unverständnis dafür, dass man Menschen in diese Hölle der Natur schicken kann. Ich bin ja freiwillig hier.
Warum? Weil ich es kann. Ein Tag vor der Glotze bei Tatort und Bundesliga ist morgen schon aus deiner Lebenslinie getilgt, vergessen. 24 Stunden deines Lebens sind vernichtet. Deine Enkel werden dich nie fragen, wer der Mörder bei welchem Tatort war, wer das Supertalent 2012 war, oder wer das Tor gegen Werder geschossen hat. Aus, weg, vorbei. Du vernichtest dein eigenes Leben auf dem Sofa, oder beim Sonntagsbrunch mit deinen Schwiegereltern, bist Mörder deiner eigenen Dreamline, weil dir dein Fettarsch lieber ist als die Eroberung einer Zeitlinie.
Nur besondere Erinnerungen und Erlebnisse bilden die Zeitachse, die in deinem Hirn für immer bleibt, dir das Gefühl geben, gelebt zu haben. Es macht keinen Sinn auf Erlebnisse zu warten, man muss sie sich erarbeiten. Der Tag, an dem ich die Spinne fraß, der Tag, an dem ich völlig auf mich allein gestellt durch den Urwald robbte, der Tag, an dem mir Florian den Stachel aus dem Fuß zog, der von der Sohle bis zum Fußrücken durchgeht (“Joe, was ist das denn?“), all diese Augenblicke bilden einen einmaligen, untilgbaren Lebenslauf. Deswegen bin ich hier.
Panik! Panik! Panik! Ich mag zwar Spinnen essen, aber bei Ameisen ist Schluss. Wie ich so unter einem Bambusstrauch durchlaufe, bin ich augenblicklich von tausenden hellgelber Blattschneiderameisen übersät. Nun schneiden die Biester nicht nur Blätter, sondern alles, insbesondere mich. Auf Ameisensäure reagiere ich ziemlich ungehalten, allergisch sozusagen, tanze Schuhplattler. Holzfäller helfen mir, die verbissenen, 2 cm großen Monster aus meiner Haut zu zupfen. Man kann sie nicht abschütteln. Mein Puls überschlägt sich, als unter einer Brücke eine langhaarige Schöne sich die …äh… wäscht. Minutenlanges gegenseitiges, breites Grinsen mit ameisensäureerhöhtem Testosteronspiegel. Kambodscha ist ja so genial.
Drei Markierungsfahnen hat der kleine Junge schon gesammelt. Als ich mir ein Bier kaufe, mache ich ein Foto mit Derek aus Hongkong, ohne zu ahnen, dass neben mir Chuck (Norris) Walker grinsend sitzt. Nein, es ist auch nicht zu glauben, dass das Phantom der Nacht, Racedirektor der weltweit größten Extremläufe, Spezialist in Sachen Wegemarkierung, hier vor mir sitzt und mich beim Biertrinken erwischt.
Mit seinem blauen Hut sieht er aus wie ein Glücksritter vom Klondike, dabei ist er Nacht für Nacht für uns im Dschungel unterwegs. So ein Wesen der Nacht kann sehr breit grinsen wenn es entdeckt wird!
Zwiebelwurst und Pumpernickel. Ich werde 13 Stunden lang kämpfen, andere jetzt schon um ihr Leben, …..ich bin nicht besser, ich hatte Glück und Muße, Geduld und Ehrfurcht vor der Strecke, vielleicht bin ich auch eine Kampfsau.
Als ich bei km 40 ankomme, hat Tina der Schar Kinder, die unter der uralten Khmerbrücke baden, die La Ola-Welle beigebracht. Es sind die letzten glücklichen Bilder, denn in einer 8stündigen Rettungsaktion wird Jean-Pietro mit gebrochener Rippe aus dem Dschungel transportiert, bindet Helferkräfte, die später im Ziel dringend benötigt werden.
Zunächst ist mir klar, dass dies heute noch ein langer Lauf wird. Die Füße sind absoluter Schrumpel-Weichschrott. Habe mir Zinksalbe an den wunden Arsch geschmiert. Mein schwarze Hose leuchtet nun im Dämmerlicht, zieht eine lachende Kinderschar an, die hinter mir her dackelt.
Wie Fliegen kleben mir die grinsenden Kinder am Zinkarsch. Ich stimme “Am Strande der Donau” an. Beim Refrain “Ihr blitzblanker Busen war halb nur bedeckt..” stimmt das Schulvolk das legendäre kambodschanische Volkslied “wenn ich groß bin, heirate ich einen Falang!“ an. Oder so.
Ich kontere mit “Deutsche Panzer im Sonnenbrand..” worauf die Menge begeistert die Front übernimmt. Es ist das einzige Mal, dass ich Kambodschaner laufen sehe, wenn man das Tempo, das ich vorgebe, “Laufen” nennen kann.. Ich glaube es waren mehr als 8 Kilometer. Reis- und Bambusfelder, Dschungel. Waldboden und sandige Flächen. Bei km 50 verabschiedet sich die brennende Lampe hinter den Horizont und taucht mich in Dunkelheit.
Die Strecke bleibt mir ungut in Erinnerung. Der Scheinwerfer meiner Stirnlampe lockt Flattermänner in mein schweißgenässtes Gesicht. Es bildet sich ein feuchtwarmer Chitinpanzer um meine Nase, dessen flatternde Flügelchen ich minütlich abstreifen muss.
In der Dämmerung tuckern zunächst diese Zugmaschinen vorbei, die nicht viel schneller sind als ich. Jeder von uns überlegt in diesem Moment, dort mal drauf zu hüpfen. Glühkäfer flitzen im Höllentempo durch die Dunkelheit als seien sie Meteoriten.
Türlich war es hart, ich vergess das mal. Ich stolpere über riesige, uralte Steinblöcke, die hier die Straße bilden . Als ich beim Tempel des Todes ankomme, biege ich in das Restaurant ein, um Bier zu kaufen. Da sitzen schon die zwei schnellen, lebensfrohen indischen Kameraden.
Vor einem Berg zerwürfelter Riesensteine ist das Ziel. Manu, der einsam Führende der Läuferfamilie, macht die Zielüberwachung. 20 Uhr, etwa 13 Stunden habe ich gebraucht. Ein Zielfoto mit ihm zusammen, dann gehe ich zum Camp inmitten des Preh Kham Tempels, oder Tempel des Todes, wie er in dem hier gedrehten Film genannt wird.
Hell erleuchtet ist das Camp. Internist Florian ist aufgelöst: “Joe, bitte nicht auch noch du!” Mit zwei Bierdosen in der Hand stehe ich sprachlos und verwirrt da, betrachte das hellerleuchtete Campchaos: “ WASN??” Was meint denn Florian? Ist doch alles normal, oder?
Nein. Stefan (Schweiz) liegt zitternd am Boden, Jean Piedro wird immer noch aus dem Urwald getragen, Wolfgang steckt bei km 40 fest, und Sophie liegt im Sterben.
Im Sterben? Die Ärzte Florian und Achim rödeln die ganze Nacht. Irgendwann schaut Florian bei mir ins Zelt: “Joe, hast du was gegessen? Geht es dir gut?” Nein, ich kann nichts essen, mir geht es gut, mir geht es wirklich gut, hatte ein paar Bierchen, bin müde und versteh nicht, dass hier jemand ums Überleben kämpft: Sophie, die, die vom Kamerateam begleitet wird, hat Wasservergiftung. Das Gehirn bläht sich mangels Mineralien auf. Sie ist nicht bei uns, nicht mehr in unserer Welt. Diese hell erleuchtete Szene erinnert mich an einen Unfall vor vielen Jahren. Ich muss kotzen, in das Sumpfloch. Florian, der Internist schreit mich an: “Joe, geh nicht ins tote Wasser, bitte nicht!” Nein, ich bin klar im Kopf! Ist alles ok mit mir, musste nur kotzen!
Tatsächlich gibt es heute verwirrte Läufer, die in dieses verseuchte Wasser springen wollten. Diese Hitze! Die Haut unter meinem Laufshirt ist vereitert, ich habe Fieber. Diese Tage ohne Dusche sind grausam. Ich verkrieche mich ins Zelt, Blut tropft aus der Nase in die Bierdose. Wieder kommt Florian vorbei, leuchtet ins Zelt, fragt ob ich ok bin. Ich bin ok, nur lass mir bitte meine Ruhe, falle hinweg in eine andere Welt, zu einer wichtigen Fußpflege bin ich nicht mehr fähig. Schreckliche Albträume in einer vom Tod dominierten Nacht.
Halb 2 kommt Wolfgang ins Zelt, musste Jean Pierdro raustragen. Immer noch wird das Camp mit Generator erleuchtet. Es sieht nicht gut aus fürSophie. Die letzten Läufer kommen um drei Uhr an, ich hätte keinem helfen können, kann mich nicht bewegen, kann nichts sehen, die Kontaktlinsen sind milchig, kann nichts hören, der Generator knattert. Hier ist irgendetwas passiert, doch ich bin zu müde um zu begreifen….