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Laufberichte

Standard Chartered Nairobi Marathon

30.10.11

In Kenia


Am Jomo Kenyatta Flughafen in Nairobi an. Die Ausstellung eines Visums (das ich mir auch in Deutschland über die Botschaft hätte besorgen können) geht erfreulicherweise zügig vonstatten und schon bald kann ich meine ersten Worte Kiswahili loswerden: „Jambo Rafiki!“ Hallo Freunde!



Einige Basisinformationen zu Kenia in aller Kürze: In Ostafrika gelegen, grenzt es an den Südsudan, Äthiopien, Somalia, Tansania, Uganda und mit langer (536 km) Küste an den Indischen Ozean. 1,6 mal so groß wie das heutige Deutschland hat es aber nur die Hälfte der Einwohner. Es gibt statt unserer vier Jahreszeiten zwei Regenzeiten (April bis Juni, lange Regenperioden, und Oktober bis Dezember, kurze Regenperioden) und angenehmes Klima:

ahresdurchschnittstemperatur in Nairobi (2,8 Mio. Einwohner) auf ca. 1.600 m ü. NN bei 15° – 18°, an der Küste 27°. Währung: Kenianische Schillinge (KES), 1 € entspricht derzeit 135 KES. Die meisten Kenianer sind Christen. Das Bruttosozialprodukt ist in den letzten Jahren ordentlich gestiegen, wegen des starken Bevölkerungswachstums (42% sind unter 14 Jahre alt) ist das aber nicht „angekommen“. Die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Kenia ist der weltgrößte Blumenexporteur.

Klasse sind morgendliche Trainingsrunden rund um Henrys Zuhause. Das ist, wie alles andere auch, Afrika pur und ich bin mir sicher, hier verirrt sich kein Touri hin. So kann ich sehen, auf welchen Pisten trainiert wird. Stellt Euch einen üblen Feldweg vor und dann noch einmal schlimmer, dann habt Ihr eine vage Vorstellung davon, wie eine innerörtliche Straße aussieht. Kein Belag, tiefste Löcher, daß nicht alle Autos völlig kaputt sind, grenzt an ein Wunder. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie die Pisten nach einem Regen aussehen (nach zwei Tagen kann ich es, eine Katastrophe). Das sind die normalen Trainingsbedingungen für viele kenianischen Athleten.

Und, oh Wunder, auch ich kann da laufen! Hier lernt man sehr schnell demütig zu sein und sich über bereits Weniges zu freuen. Ich komme in den Genuß, Kinder auf dem Schulweg zu beobachten, die, je jünger, superfreundlich sind und sich ein Loch in den Bauch freuen, wenn der weiße Mann stehenbleibt und ihnen „Five“ gibt. Und der „Mzungu“ freut sich nicht minder. Unterwegs treffen wir auf mehrereTrainingsgruppen, deren Zuhause wir im Folgenden auch aufsuchen werden.


Trainingscamp


Es gibt Dinge, die kann man sich schlecht vorstellen, und selbst wenn man sie gesehen hat, nicht glauben. Ich meine die Situation talentierter kenianischer Läufer, die vorhaben, Große zu werden und noch auf ihre ersten Engagements warten. Eine solche Trainingsgruppe kann ich mit Henry und Joseph besuchen und sehe Dinge, die vermutlich kaum einer kennt. Stellt Euch einen Bretterverschlag vor, ein einfachstes Gartenhäuschen aus zweifelhaften Materialien, und das in zwei gegenüberliegenden Gruppen von „Reihenhäusern“. Dazwischen natürlich die blanke Erde.

Wir werden in ein „Büro“ gebeten, daß ich als Abstell- bzw. Rumpelkammer gedeutet hätte. 4 Gartenstühle, ein klappriger Tisch, ein par einfachste Bänke und zum Schluß über zwanzig Menschen darin gestapelt. Diese tragen alte Slipper oder urälteste Laufschuhe, abgelaufen und löchrig. Bekleidet sind sie mit unterschiedlichen T-Shirts, meist aus billiger Baumwolle und einfachen Hosen.

Die Atmosphäre ist total befangen, in diesem Moment frage ich mich, was ich hier eigentlich mache. Dann schauen mich alle auch noch scheu, aber erwartungsvoll an. Was soll ich tun? Darauf war ich nicht vorbereitet. So entschließe ich mich nach einer peinlichen Pause, um ein gemeinsames Thema zu haben, mit meinem überschaubaren Wortschatz von der Marathonsituation in Deutschland zu sprechen. Wie viele es gibt, daß die Schwarzen immer vorne sind, warum die Weißen hoffnungslos hinterherlaufen (bei uns läuft man eben nur, wenn man Spaß daran hat und nicht wie hier, um wenigstens eine kleine Chance zu haben, dem Elend zu entgehen) und daß man durchaus bei einigen Veranstaltungen gutes Geld verdienen kann. Und rate ihnen, falls einer wirklich mal zu Geld kommen sollte, auf dem Teppich zu bleiben, nicht durchzudrehen und an die Zukunft nach dem Laufen zu denken.

Der Trainer fordert alle auf, sich vorzustellen. Sie nennen mit leisen Stimmen ihre Namen und für welche Distanzen sie trainieren. Einige Mädels sind dabei, die meisten Jungs um die 20 Jahre. Zwei Sprinter, wenige Mittelstreckler, die meisten Langstreckler. Ich frage nach ihren aktuellen Zeiten und erfahre, daß einige von ihnen am Sonntag beim Nairobi-Marathon über unterschiedliche Distanzen starten werden.

Ich entschuldige mich vorsorglich, daß, sollte ich einen von ihnen treffen, ihn vermutlich nicht erkennen werde, außerdem werde ich das Feld von hinten überwachen. Da huscht dann doch das eine oder andere zaghafte Lächeln über ihre Gesichter. Als ich von Biel erzähle, herrscht ungläubiges Staunen. Auch dafür, daß hier 21 Stunden Sollzeit vorgegeben sind, aber das hat ja bekanntermaßen seine Bewandtnis und auch die kann ich ihnen kurz erzählen.

Dann ergreift eine besonders Mutige das Wort. Ich merke, daß sie dazu wirklich ihren ganzen Mut zusammennehmen muß, und berichtet über ihre hiesige Situation. Es fehle an allem. An wirklich allem. Angefangen von Schuhen über Shirts und Hosen. Was mich aber am meisten schockiert ist die Tatsache, daß für jeden von ihnen ein Wochenbudget von 300 KES bereitsteht. Das sind etwa 2,40 € (zur Erinnerung: 1 € = 135 KES). Für Kost und Logis. Sie trainieren üblicherweise dreimal täglich und es kommt immer wieder vor, daß nicht ausreichend Nahrung vorhanden ist. Nach einem anstrengenden Training bleiben die Athleten also hungrig. Aufgepasst: Wir reden hier nicht von Sportlern der dritten Garnitur, sondern von Läufern (männlich), die z.B. einen Halbmarathon in 62 bis 64 Minuten laufen können. Als ich das höre, dreht es mir endgültig den Magen herum. Ich muß etwas tun, hier und jetzt.

 
 

 
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