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Laufberichte

Einmal muss es sein

06.09.08

Erst 15 Jahre ist es her, dass in Interlaken die Idee geboren wurde, einen Marathon durch die Bergwelt des Berner Oberlandes im Angesichte des berühmten Dreigestirns Eiger – Mönch - Jungfrau zu initiieren. Und doch hat der Jungfrau Marathon schon heute erreicht, was kaum ein Marathon schafft: Er ist „Kult“, fast schon ein Mythos, der „New York Marathon“ der Berge.

Die Anmeldezahlen stellen jeden anderen Bergmarathon in den Schatten. Kein Bergmarathon ist so begehrt wie dieser, was auch die Top-Platzierung im alljährlichen marathon4you-Ranking belegt. Schon bis Februar muss man die Anmeldeentscheidung treffen und dann, wenn (wie üblich) die Zahl der Anmelder das Teilnehmerlimit überschreitet, hoffen, dass einem das Losglück hold ist.

2008 sah das dann so aus, dass für 5.500 Anmelder Ende Februar 4.000 Startplätze zur Verfügung standen. Ich hatte Glück und bekam eine Startplatzzusage. Nicht so recht vorstellen konnte ich mir da zwar noch, wie bei einem solch großen Teilnehmerfeld ein Berglauf funktionieren kann, der immerhin 1.839 Höhenmeter aufwärts für die Läufer bereit hält und in hochalpines Gelände bis auf über 2.200 m üNN hinauf führt. Aber aus der Tatsache, dass sich alle Jahre wieder Menschen aus aller Welt um ein Startticket zu diesem Spektakel reißen, schloss ich einfach, dass es funktionieren musste.

Bereits am Freitag vor dem Lauf reise ich mit Gudrun an. Interlaken, die „Metropole“ des Berner Oberlandes, ist von München aus mit dem Auto gut erreichbar – sei es etwas länger, dafür schneller über Bern, oder etwas kürzer, aber kurviger über Luzern. Privilegiert ist schon die Lage des Ortes auf dem „Bödeli“, dem Talgrund zwischen Thunersee und Brienzersee. Kein Wunder, dass dieses Fleckchen Erde schon Mitte des 19. Jahrhunderts vom Fremdenverkehr entdeckt wurde, was dem Ort eine ganze Reihe nostalgischer, prachtvoller Luxushotels beschert hat, allen voran die 5-Sterne-Grand Hotels Victoria-Jungfrau und Beau Rivage.


Ganz so edel steigen wir nicht ab. Wie begnügen uns mit einem einfachen Quartier im einige Kilometer entfernten, dafür - was ich bei der Buchung nicht bedacht hatte - 650 Meter höher gelegenen Dorf Beatenberg. Entschädigt werden wir dort zumindest durch einen fantastischen Panoramablick auf die 4000er-Kette von Eiger, Mönch und Jungfrau, einen Blick, den man in Interlaken vom Tal aus so nicht bekommen kann, denn dort stehen die unmittelbar angrenzenden kleineren Hausberge zumeist blickmäßig im Weg.

Viel los schon vor dem Marathon

Dreh- und Angelpunkt des Laufs ist das große Festzelt auf der Höhematte, einem weitläufigen Wiesengelände mitten in der Stadt, direkt gegenüber dem majestätischen Grand-Hotel Jungfrau-Victoria. Durch das steilwandige, im Süden die umliegende Bergekette durchbrechende Lütschinental reicht der Blick von hier aus bis zum weiß am Horizont schimmernden 4.158 m hohen Jungfrau-Massiv. Verlockend und gleichzeitig unerreichbar erscheint mir von hier aus der Gebirgsstock, dessen Gipfel immerhin 3.600 m höher liegt als Interlaken. Und in die Vorfreude auf den morgigen Lauf mischt sich eine gehörige Portion Respekt.

Im Festzelt lädt eine kleine aber feine Marathonmesse zum „Schäppchenkauf“ ein und hier bekomme ich auch ohne jedes Warten meine Startnummer und den Zeitchip. Dass im und vor allem auch um das Zelt herum am späten Nachmittag großer Trubel herrscht, liegt aber weniger an der Messe, als am läuferischen Rahmenprogramm: In der föhnigen Nachmittagshitze werden neben einem Mini-Marathon über 4,2 km rund um die Höhematte mehrere Mini-Runs für Kinder ausgetragen; alterabhängig müssen sich diese auf Distanzen von 200 bis 1.600 Metern bewähren. Besonders heftig geht es bei den Kleinsten zu: da geraten beim Start gleich mal ein paar der Minis „unter die Beine“ – aber passiert ist niemand etwas.

Ab 18 Uhr füllt sich das Zelt zusätzlich durch die Besucher der Pasta-Party. Umsonst bzw. im Startgeld eingeschlossen ist die Pasta nicht – aber wohl nirgendwo in Interlaken kann man sich für 14 Franken an diesem Abend mit Nudeln (incl. Nachschlag), Getränk und ein Obst den Bauch füllen. Wenig später werden von einem Moderator die „Spitzenläufer“ aufgerufen und vorgestellt, darunter die Südtiroler Hermann Achmüller und Gerd Frick und die Siegerin von 2006, Simona Staicu. Ich freue mich, den marathon4you-Herausgeber Klaus Duwe und seine Frau zu treffen. Klaus muss verletzungsbedingt schweren Herzens weiterhin pausieren, aber mit schwerer Kamera bewaffnet will er es sich doch nicht entgehen lassen, zumindest den „Atem“ dieses Laufs zu spüren.

Am Start - Sonne und Stimmung

Der erste Blick auf dem Fenster am nächsten Morgen zeigt mir einen strahlend blauen Himmel. Allerdings sehe ich am südlichen Horizont schon erste Wolken um die Gipfel von Eiger, Mönch und Jungfrau ziehen. Ich hoffe, dass das Wetter hält, denn eine zunehmende Eintrübung und schließlich Regen sind für heute vorhergesagt. Von Beatenberg gelange ich mit dem Linienbus hinunter nach Interlaken, wo aus allen Himmelsrichtungen die Läufer zum Startgelände an der Höhematte strömen. Die Stimmung ist trotz des Andrangs äußerst entspannt. Eine Gruppe Alphornbläser gibt ein Ständchen, Fahnenschwinger zeigen ihre Fertigkeiten.


Erst 15 Minuten vor dem Start formiert sich langsam das Startfeld auf dem Höheweg, der Straße zwischen Höhematte und dem Hotel Jungfrau-Victoria. Je nach angepeilter Zielzeit kann man sich seinen Startblock aussuchen. Kurz vor dem Start wird die Schweizer Nationalhymne gespielt und nur kurz tritt andächtiges Schweigen ein. Dann ist es soweit: Um Punkt 9 Uhr ertönt der Startschuss und eine Serie von Böllerschüssen donnert durch das Tal.

Die ersten zehn Kilometer – flach wie eine Flunder

Die Meute stürzt sich hochmotiviert auf die Strecke. Nun ja: stürzen ist vielleicht etwas übertrieben. Denn angesichts des dichten Läuferfeldes – 4.076 Starter aus 43 Nationen sind es in diesem Jahr – ist ein freies Anlaufen nach Überquerung der Startlinie zunächst nur sehr bedingt möglich. Aber das gemütliche Traben ist im Hinblick auf die noch bevorstehenden Herausforderungen sicher kein falscher Einstieg. Und daran ändert sich auf den ersten 3 km, die in einer Schleife durch Interlaken führen, auch nicht viel. Bereits vom Start weg umgibt uns eine überaus beeindruckende Klangwolke aus knarrenden Ratschen, bimmelnden Kuhglo-cken, Geklatsche und lauten Anfeuerungsrufen. Und das setzt sich auf unserer Sightseeing-Tour durch den Ort mal mehr, mal etwas weniger fort. Wieder einmal kann ich feststellen, dass das Schweizer Laufpublikum mit das beste, sprich motivierungsfreudigste, ist, das es gibt.

Erst als wir nach 3,5 km den Bahnhof Interlaken Ost passieren, wird es ruhiger. Aber nicht lange: Die Böninger am Westufer des Brienzersees erwarten uns, zudem dürfen wir, wenn auch nur für wenige Momente, einen herrlichen weiten Blick über den von steilen Bergen umrahmten, in der Morgensonne glänzenden See werfen. Dann wendet sich die Strecke jäh nach Westen, der Öffnung des Lütschinentales entgegen, das vom Bödeli aus in Richtung des Jungfraumassivs führt. Aber bis dorthin sind es noch einige Kilometer, die wir in völliger Ruhe auf einem schnurgeraden, brettebenen Asphaltweg durch leuchtend grüne Wiesen zurücklegen.


Zumindest gefühlsmäßig noch so gut wie keinen Höhenmeter bewältigt haben wir, als wir nach 10 km das malerische Dorf Wilderswil erreichen. Und auch hier scheinen alle Dorfbewohner auf den Beinen zu sein, um uns einen lautstarken Empfang zu bereiten. Besonders gefällt mir eine buntgekleidete Truppe, die mit „Samba a la Schwyz“ einheizt, d.h. rhythmisch ihre unterschiedlich großen Kuhglocken schwingt. Die Glocken sind teilweise so groß, dass ich das Gefühl habe, dass selbst eine Kuh auf Dauer ein Haltungsproblem gekommen könnte.

Bis Kilometer 25 – weiterhin Berglauf „soft“

Wilderswil markiert das südliche Ende des „Bödeli“ und gleichzeitig den Eingang ins Lütschinental. Die wildschäumende Weiße Lütschine überqueren wir in Wilderswil über eine uralte, überdachte Holzbrücke. Der breite Wildbach mit seinen namensgebenden milchigweißen Fluten wird auf den nächsten Kilometern immer wieder unser Begleiter sein. Hinter der Brücke erwartet uns die erste konditionelle Herausforderung in Form eines langgezogenen Anstiegs. Wirklich hart ist er aber nicht und alle Mitläufer um mich herum bewältigen diesen noch im Laufschritt. Durch dichten Wald traben wir etwa 2 km gleichmäßig bergan in das Tal hinein, dann flacht die Strecke schon wieder ab und es geht in leichtem Auf und Ab dahin. Der Asphaltweg wird zum Naturweg und noch immer hat man eher das Gefühl, sich auf einen gemütlichen Landschaftslauf zu befinden.

Bei km 15 erreichen wir den Ort Zweilütschinen. Kurz vor dem Ortseingang müssen wir die Gleise der Berner Oberland Bahn (BOB) passieren, die von Interlaken aus über mehrere Stationen, die auch wir als Läufer passieren, bis zum Ziel, der Kleinen Scheidegg, führt, und daher ein ideales Fortbewegungsmittel für die mitreisenden Laufbegleiter ist.

Kurz bevor ich die Gleise erreiche, wird die Strecke von einem Ordner gesperrt, was bei einigen Mitläufern Unmutsäußerungen hervorruft, und wir müssen eine der Bahnen passieren lassen. Einer der Läufer lässt sich von der Sperrung nicht abhalten und rast kurz vor der Vorbeifahrt des Zuges am protestierenden Ordner vorbei über die Gleise. Wie sehr sich das für ihn gelohnt hat, kann ich wenige Minuten später feststellen – da hat das Läuferfeld ihn schon wieder eingeholt.

Wie Wilderswil ist auch Zweilütschinen ein hübsches Dorf, fast nur aus dunklen, reich mit Blumen geschmückten Holzhäusern im typischen Baustil des Berner Oberlandes bestehend. Weiter geht es auf Naturwegen durch Wald und Wiesen, immer wieder auf Tuchfühlung zur parallel rauschenden Weißen Lütschine und den Gleisen der Bahn, durch das immer enger werdende Tal. Kaum merklich gewinnen wir an Höhe, zumal es auch immer wieder mal leicht bergab geht. Zunehmend näher rücken die Talwände aneinander und entsprechend eingeengt ist auch das Blickfeld. Die zunehmende Nähe der hohen Berge kann man allenfalls erahnen. Aber es macht großen Spaß, sich durch die Kühle der Wälder immer weiter in das Tal vorzutasten. Ein großes Hallo gibt es, als uns einer der mit Laufbegleitern voll besetzen BOB-Züge langsam überholt und wir heftig aus den Fenstern winkend angefeuert werden.


Etwa bei km 20 taucht über uns ein riesiger, vielstöckiger Betonklotz, voll mit parkenden Autos, auf. Auch wenn dies nicht der schönste optische Empfang ist – wir haben Lauterbrunnen erreicht. Damit ist zumindest kilometermäßig Halbzeit angesagt. Ein Weg führt uns an der Parkgarage vorbei zur verkehrsgesperrten Hauptstraße des Ortes hinauf. Und was uns erwartet, geht weit über das hinaus, was ich mich vorgestellt hatte.

Der Lauf durch Lauterbrunnen wird für uns Läufer fast schon so etwas wie ein Triumphzug. Wahre Menschenmassen drängen sich auf beiden Straßenseiten und empfangen uns mit frenetischem Beifall – und das geht so über viele hundert Meter. Ich frage mich, wo all die Menschen hergekommen sind, denn der Ort hat nur gut 300 Einwohner. Es herrscht geradezu Volksfeststimmung. Musik wird gespielt, Kuhglocken werden geschwungen. Dazu eröffnet sich ein grandioser Ausblick, zum einen entlang der langgezogenen Hauptstraße mit ihren pittoresken Holzhäusern und den die Straße überspannenden Fahnenbändern, zum anderen auf die rechterhand gleich hinter den Häusern jäh ansteigenden Felswände, von denen in freiem Fall fast 300 Meter tief der Staubbachfall hinunterstürzt, und schließlich in die Ferne, wo sich das durch eiszeitliche Gletscher tief eingeschnittene Trogtal weitet und am Horizont die nun schon näher gerückten Felsentürme der 4.000er in den Himmel ragen. Was für eine Kulisse! Ich bin begeistert und verbringe die Zeit mehr mit Fotografieren als mit Laufen.

Hinter Lauterbrunnen führt ein gut ausgebauter, absolut ebener Asphaltweg weiter in das Hochtal hinein, mitten durch die sattgrünen Almen hindurch. Das hier einige hundert Meter breite Tal wird links und rechts von schroff ansteigenden Festwänden begrenzt, nur in Laufrichtung ist ein Ende nicht abzusehen. Immer mehr wird vom schneebedeckten Jungfrau-Massiv sichtbar, nur wird es leider auch zunehmend von Dunst und Wolken eingetrübt. In einem Bogen führt der Weg schließlich entlang der Weißen Lütschine wieder nach Lauterbrunnen zurück, allerdings in einen anderen Ortsteil. Das km 25-Schild markiert gleichzeitig das Ende der Lauterbrunner Hochtalschleife und ich bin gespannt, was uns erwartet.

Es geht zur Sache – der Anstieg nach Wengen

Die Versorgungsstation im Lauterbrunner Ortteil Ey bei km 25,5, die bereits sechste, die wir anlaufen, ist auffällig gut ausgestattet und erfreut sich besonders großen Zuspruchs. Hundert Meter weiter weiß ich warum – denn nun ist „Schluss mit lustig“. Der erste echte Härtetest des Jungfrau-Marathons steht an. Und das heißt: In 26 Serpentinen sind auf weniger als zwei Kilometern knapp 500 Höhenmeter zu überwinden. Durch die letzten Ausläufer Lauterbrunnens geht es bereits steil bergan und fast wie auf Kommando verstummt jede Kommunikation, fallen die Läufer vom dynamischen Trab in eine gebückte Gehhaltung. Einige wenige glauben ihren Laufschritt beibehalten zu können, sehen aber dann doch schnell ein, dass das unökonomische Kraftverschwendung ohne Tempovorteil gegenüber dem Gehen ist. Zum Glück geht es am Ortsausgang gleich in den kühlen und sonnengeschützten Wald hinein. So lässt sich die auch mit schnellem Gehen verbundene Kraftanstrengung besser bewältigen. Windung um Windung reiht sich aneinander, ich zähle sie nicht. Aber schnell gewinnen wir an Höhe. Ab und an eröffnen sich wunderbare Blicke hinab nach Lauterbrunnen und in das Hochtal.

Irgendwann hat die Sepentinendreherei ein Ende und wir erreichen wieder offenes Gelände. Weiterhin geht es aufwärts, allerdings längst nicht mehr so steil und zunehmend durchsetzt von flachen Passagen. Das Laufen fällt wieder leichter, doch merke ich, dass das schnelle Bergangehen durchaus Spuren hinterlässt. Eine nette Abwechslung ist die BOB, deren Gleise sich wieder der Laufstrecke annähern, und jeder vorbeiziehende Zug hinterlässt einen Hauch von Karnevalsstimmung.

Eine gute Idee des Veranstalters ist, die zurückgelegte Distanz ab km 26 alle 250 Meter anzugeben – das wird bis zum Ziel so durchgehalten. Das verhindert gerade bei anstrengenden Passagen ein etwaiges frustrierendes Warten auf das nächste km-Schild und verheißt jeweils ein kleines Erfolgserlebnis.

Absolut hervorragend und durchdacht ist auch die Verpflegungssituation. Bereits 2 km nach dem Beginn der Steilpassage in Lauterbrunnen bekommen wir wieder Wasser, nach weiteren 1,5 km ist wieder „full service“ angesagt. Die stolze Zahl von 15 Verpflegungsstationen ist zwischen Start und Ziel eingerichtet, davon 5 auf der leichteren ersten Streckenhälfte, 10 auf der anstrengenderen zweiten. Nur drei davon sind reine Wasserausgabestellen, positioniert dort, wo Flüssigkeit aufgrund der vorangegangenen Anstrengung besonders benötigt wird. Ansonsten variiert das Angebot. Es reicht von isotonischen Getränken über Cola bis zur Bouillon, daneben gibt es Energy-Gels und -Riegel, Magnesiumtabs und Bananen. Soweit möglich sind die Stationen beiderseits der Strecke aufgebaut, die Ausgabetische stehen auch nicht allzu dicht beieinander, sodass man sich wenig ins Gehege kommt. Damit man nicht lange suchen muss, rufen die zahlreichen Helfer einem schon zu, was sie ausgeben. Ergänzt wird die Läuferbetreuung durch zahlreiche Sanitäts- und Massagestationen, vor allem auf der zweiten Streckenhälfte. Dass diese auffällig gut besucht sind, zeigt mir, dass hier wohl auch eine ganze Reihe weniger Bergerfahrene unterwegs sind.


Etwa bei km 30 erreichen wir schließlich das 1280 m üNN gelegene Dorf Wengen, international bekannt durch die Lauberhornrennen im Rahmen des Skiweltcups. Auf der Hauptstraße durchqueren wir den langgezogenen Ort. Wie in Lauterbrunnen empfängt uns auch hier ein Menschenauflauf und eine Emotion, die man bei einem Berglauf nicht erahnen würde. Beschreiben lässt sich das nur unzulänglich – man muss es einfach erleben.

Der lange Weg zur Eigermoräne

Wengen ist zugleich die letzte größere Siedlung vor dem Ziel. 800 Höhenmeter sind geschafft, 1000 liegen noch vor uns. Und so geht es hinter Wengen gleich weiter hinauf, wenn auch nicht sonderlich steil. Letztmals legen wir ein Wegstück auf Asphalt zurück, dann geht es nur noch auf Schotter- und Naturwegen dahin. Auch wenn die Berganpassagen dominieren, so bieten flache oder auch leicht abfallende Strecketeile immer wieder eine gewisse Erholung. Entsprechend bewegt sich der Läufertross mal laufend, mal gehend fort, und das – interessant zu beobachten – mit großer Einmütigkeit. Richtig in Fahrt kommt er aber nicht mehr. Die Vegetation wird zusehends offener, Almen dominieren das Landschaftsbild, ab und zu passieren wir ein Waldstück. Immer tiefer blicken wir hinab ins Tal und auch Wengen liegt immer weiter hinter und unter uns.

Es wird kühler und zugiger, was nicht nur an der größeren Höhe liegt, sondern auch daran, dass immer mehr Wolken den Himmel bedecken und wir uns dieser Wolkendecke zusehends nähern. Die Gipfelregionen der Berge in unserem Blickfeld verschwinden in den Wolken wie hinter weißen Wattebäuschen. Eiger, Mönch und Jungfrau liegen hier zwar ohnehin nicht im Blickfeld, aber mir schwant schon, dass das spätere Panorama nicht ganz ungetrübt sein könnte. So fließen die Kilometer dahin und ich kann gar nicht mal sagen, dass sie besonders beschwerlich sind. Die kühle Luft erleichtert das Laufen.


Etwa ab km 38 mutiert der bis dahin noch relativ breite Naturweg zu einem immer profilierter, winkeliger und schmaler werdenden Bergpfad. Ein steiles wurzeliges Wegstück führt durch ein letztes Stück niedrigen Wald, dann erreichen wir die Baumgrenze und um uns herum vegetieren nurmehr niedrige Büsche und Grasmatten.

Das Überholen fällt immer schwerer, ja ist teilweise fast unmöglich. Die meisten stört das aber nicht, letztlich haben sich jetzt ohnehin diejenigen Läufer mit einem vergleichbaren Tempo zusammen gefunden. Natürlich gibt es auch ein paar Dynamiker, die unangenehm dicht aufrücken und sich mit relativ großem Kraftaufwand immer wieder an einem der Voranlaufenden vorbeidrücken. Aber das bringt allenfalls Sekunden. Auch ich würde gerne ab und an ein wenig schneller vorankommen, ergebe mich aber dem Schicksal, zumal ich – wie wohl das Gros der anderen um mich herum auch – keine besonderen Zeitambitionen hege und ohnehin Fotostops einlege. Und so trotten wir schweigend einer hinter dem anderen wie auf einer Ameisenstraße dahin. So manchen merkt man allerdings an, dass sie kämpfen müssen, um den Anschluss zu halten und den Tross nicht noch mehr aufzuhalten. 

An einer Steilstufe bleibt direkt vor mir bleibt ein Läufer in dem Moment hängen, als er versucht, mit einem großen Schritt hochzusteigen. Ein plötzlicher Krampf macht ihn bewegungsunfähig und er blockiert hilflos den Weg. Mir gelingt es nicht, ihn von unten hochzuschieben. Aber sogleich sind zwei Streckenhelfer von oben zur Stelle, die ihn hoch und seitlich auf die Wiese ziehen.

Und weiter zieht unsere Karawane .... mitten hinein in die Wolken. Kurz taucht noch ein laut knatternder filmender Hubschrauber dicht neben uns aus der Tiefe des Tals auf, dann umhüllen uns die ersten Nebelschwaden und die Fernsicht geht schell gegen Null. Ein kurzes Stück dürfen wir nochmals bergab laufen, ehe uns kurz vor km 40 traditionell ein Dutzend malerisch im Wiesenabhang aufgereihter Alphornbläser musikalisch auf den letzten großen Anstieg vorbereitet. Dazu lassen Fahnenschwieger großflächige Schweizer Fahnen durch die Luft wirbeln. Ein reizvolles Bild – mit nur einen kleinen Schönheitsfehler: Der passende optische Hintergrund fehlt. Nur eine weiße Wand sieht man, wo sonst Berge sind.

Ein Gebirge aus Wolken statt aus Fels

Die Wolken werden immer dichter. Es regnet zwar nicht, aber alles wird feucht. Je höher wir kommen, desto schlechter wird die Sicht und desto weniger Läufer kann ich in der Menschenkette vor mir erkennen. Sie sinkt bis auf wenige Meter, als ich auf einmal von weiter vorne höre, dass es nun auf die Eigermoräne ginge, das mit Abstand berühmteste Teilstück, ja das Wahrzeichen des Jungfrau-Marathons. Bilder des steilen, schmalen Grats der Eigermoräne, über den die Läufer wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht vor dem gewaltigen Hintergrund des Gebirgsstocks aus Eiger, Mönch und Jungfrau und zu Füßen des Eigergletschers empor trippeln, dazu ein tief blauer Himmel, kommen mir in den Sinn. Wie oft habe ich diese Bilder schon gesehen – in jeder Werbung, in jedem Prospekt des Jungfrau Marathons sind sie der Aufmacher. Es sind diese Bilder, die sich schon vor dem Lauf so nachhaltig in die Erinnerung einbrennen. Und jetzt? Nichts, absolut nichts.Als ich bei km 40,4 den Beginn der Eigermoräne erreiche, kann ich gerade noch erkennen, dass es links und auch rechts heftig bergab geht, aber dann kommt schon die Wolkenwand. Mir kommt es ein wenig vor, als liefe ich durch einen weißen Tunnel.


Etwa 200 Meter mögen es gewesen sein, die ich auf der Moräne unterwegs bin, da frischt auf einmal der Wind auf. Und ich kann es kaum fassen: Vor mir reißt die Wolkenwand auf und eröffnet urplötzlich ein großes Blickfenster über den gesamten Grat bis hin zu den Felsabhängen des Eigers (jedenfalls denke ich mal, dass es der Eiger ist ...). Wow!! Eine wahrlich dramatische Inszenierung. Aber so schnell wie der Vorhang aufgeht, so schnell ist er wieder zugezogen. Sind es 10, 20 oder gar 30 Sekunden gewesen? Ich weiß es im Nachhinein nicht mehr. Aber es freut mich innerlich sehr, wenigstens diese kurze Sequenz erlebt haben zu dürfen.

Schon bei km 40,8, viel schneller, als ich erwarte, kündet ein erhöht auf einem Felsblock thronende Dudelsackbläser – auch dies in alter Jungfrau-Tradition – das Ende der Moräne und gleichzeitig den mit 2.205 m üNN höchsten Punkt der Laufstrecke an. Was an einem Dudelsack schweizerisch sein soll, erschließt sich mir zwar nicht so recht, aber eine nette Idee ist es allemal. Nun geht es (fast) nur noch bergab. Bei km 41 dürfen wir als letzte Wegzehrung Schokolade naschen, die für uns auf einem Felsentisch dekorativ bereit gehalten wird, dann geht es auf dem letzten Kilometer nochmals 100 Höhenmeter hinab.

Ein rauschender Empfang im Ziel

Der letzte Kilometer wird von den Läufern höchst unterschiedlich angegangen: Die einen tasten sich vorsichtig, sei es weil sie kräftemäßig am Ende sind oder die Gelenke schonen wollen, den steinigen Pfad hinab, die anderen lassen es laufen und geben richtig Gas. Man hat das Gefühl, dass sie nach der Enge und der Gängelei der letzten Kilometer einfach nochmals Dampf ablassen wollen. Auch wenn die umgebende Bergwelt wieder im Wolkenmeer versinkt, so erspähe und höre ich doch schon bald das Ziel: Die Kleine Scheidegg.


Ein dichtgedrängtes, applaudierendes Menschenspalier erwartet uns schon weit vor dem Zielbogen. Die Laufstrecke ist durch die Wartenden zum Schluss stark verengt, sodass die Stimmung hautnah herüberkommt. Musik spielt, ein „Speaker“ begrüßt die Ankommenden. Und schon ist die fiepende Zeiterfassungsmatte im Ziel überschritten. 3.765 LäuferInnen und damit gut 92 % der Gestarteten erreichen heute dieses Ziel und einer davon bin ich.

Wie alles Übrige sind auch die Abläufe im Ziel bestens organisiert: Erst gibt es die Medaillen, dann muss man gut 200 Meter bis zur großräumig angelegten Bergstation zurücklegen, wo sich die sonstige Infrastruktur befindet. In einer gesonderten Halle erhalte ich mein deponiertes Gepäck, ein Stück weiter gibt es das Finisher-Shirt gegen Rückgabe des Zeitchips und in einem riesigen Duschraum kann man sich schließlich mit heißem Wasser den Schweiß vom Körper schwemmen lassen. Trotz der nebeligen Kühle sitzen Hunderte Außenbereich der Berghütten. Wir ziehen es allerdings vor, mit der Bergbahn ganz langsam wieder gen Interlaken zu zockeln.

Beendet ist das „Event“ Jungfrau-Marathon damit aber noch längst nicht. Ab 17 Uhr wird im Festzelt auf der Höhematte weitergefeiert. Kulinarisch werden Pizza, Pasta, Asia geboten, es spielt Guggenmusik, man kann sich Videos vom heutigen Lauf anschauen und sich sein „Finisher-Diplom“ ausdrucken lassen. Später am Abend kommt es zur großen Siegerehrung, bevor zum Abschluss eine Schweizer Rockband für Stimmung sorgt. Und draußen erinnert uns heftiger Dauerregen daran, dass es mit dem Wetter heute noch sehr viel ärger hätte kommen können.

Mein Resümee zum Schluss

Dass der Jungfrau-Marathon als die Nr. 1 des Bergmarathons gilt, ist kein Zufall: Es stimmt einfach (fast) alles. Die Organisation einschließlich der Betreuung und Verpflegung unterwegs ist perfekt (1300 Helfer!), die Stimmung an der Strecke ist einfach fantastisch, die Strecke ist wunderschön, in ihrer Führung durchdacht und gut zu belaufen.

Wenn es überhaupt etwas zu mäkeln gäbe, so ist das letztlich eine Folge des Erfolgs der Veranstaltung. 4.000 Teilnehmer sind für einen Berglauf einfach fast eine Nummer zu groß. Die Streckenführung trägt zwar sehr zur Entzerrung des Läuferfeldes bei, verhindert aber doch nicht gewisse Staubildungen ab km 38. Die vom Veranstalter erdachte Lösung, ab km 38 eine Ausweichroute zu öffnen und so bei Bedarf den Läuferstrom zu teilen, mag zwar objektiv tauglich sein, ist aus meiner Sicht aber dennoch nicht geeignet: Denn zum Nimbus des Jungfrau-Marathons gehören auch seine vielen Traditionen – und ein Teil davon ist die „Original-Strecke“ im Schlussteil, von der sich wohl jemand „abschieben“ lassen will. Aus meiner Sicht besser wäre daher, die Zugänge zu den Startblocks strikten zu handhaben (Bestzeitnachweis, Zugangskontrolle) und einen zeitlich versetzten Blockstart – wie bei anderen großen Marathons durchaus üblich und akzeptiert - vorzusehen.

Nichtsdestotrotz: Eines weiß ich jetzt schon sicher: Ich werde wiederkommen. Nur leider sagen das auch alle anderen.

Siegerliste
Männer


1. Hermann Achmüller ITA 3:03:18,6
2. Martin Cox GB 3:05:32,1
3. Patrick Wieser CH 3:08:07,9

Frauen


1. Simona Staicu HUN 3:39:05,5
2. Jeanna Malkova RUS 3:41:15,7
3. Elena Kaledina RUS 3:43:21,1

 

Informationen: Jungfrau-Marathon
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