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Laufberichte

Hitzelauf durch die Weinberge

29.05.05

"Wir geben doch nicht auf, oder?"

 

Tage vor dem Wettbewerb wusste ich schon,  es soll am Wettkampftag 30° heiß werden. Samstags holte ich die Startunterlagen ab und war schon gespannt auf die Shirt/Hose-Kombination. Im Gegensatz zum Jahr davor war das Shirt in weiß und nicht in schwarz. Sieht toll aus, sehr gelungen. Sogar an der Seite der Hose war ein kleines Logo angenäht.

 

Ich hatte zuvor lange mit mir gekämpft, laufe ich den HM oder den ganzen? Bei der Anmeldung war mir klar, ich laufe den Marathon. Ein Fehler, es war gerade mal 8 Wochen seit meinem letzten Ultramarathon (56 km) in Kapstadt her.


Letztendlich habe ich es versäumt, einmal mindestens 30 oder sogar 40 km zu laufen. Aber im Kopf hat sich alles dagegen gewehrt. Der Abstand zum Ultramarathon war doch etwas knapp und ich hatte in den ersten vier Wochen nach dem Ultra nur 1-2 Läufe je Woche hinter mich gebracht. Den Samstag zuvor war ich im ersten Südzuckerlauf über 10 Kilometer deutlich unter 60 Minuten geblieben, eine recht gute Zeit für meine Verhältnisse, aber gegen Ende hatten mich dann doch die Kräfte etwas verlassen. Mittwochs vor dem Wettkampf hatte ich nochmals 10 Kilometer unter 60 Minuten, es sah eigentlich gut aus.

 

Die Nacht zuvor war es sehr schwül, ich schwitzte und schlief sehr unruhig. Als ich endlich tief schlafen konnte, war die Nacht um. Ich hatte Null Hunger und trank etwas Wasser, suchte meine Sachen zusammen, füllte den Trinkgurt und zog mich an. Andrea hatte mich zum Start gebracht und blieb gleich da, denn in 90 Minuten war der HM Start.

 

Ich lief bewusst langsam los. Bei der Hitze wäre ein zu hohes Tempo tödlich.  Trotzdem hatte ich nach 3 Kilometern einen Kilometerschnitt von 5:30 Minuten und war trotzdem bereits von sehr vielen Leuten überholt worden. Ich dachte mir aber immer noch nichts dabei, außer: "...ach, den ein oder anderen sehe ich bestimmt wieder".

 

Bereits in Sontheim genoss ich einen Wassersprinkler und füllte meinen Wasserbedarf an der Getränkestelle mit einem Becher in den Nacken und einen in den Magen auf. Dass es mir schwerer fiel als sonst, merkte ich beim Anstieg zum Haigern, denn hier bin ich (km 9) bereits zum Kräfteschonen für später gegangen. 29° C hatte es beim Start, 35° C im Maximum und im Schnitt über den ganzen Lauf 32° C. Ich bin noch nie, auch bei keinem der vielen Trainingsläufe auf diesem Stück gegangen!

 

In Talheim (km 11) hat mich eine ältere Dame ("0h, Entschuldigung") mit einem Schlauch so nass gespritzt, dass ich von da ab mit Wasser in beiden Schuhen lief. Es hat gequatscht bei jedem Schritt. Anfangs dachte ich, durch die Hitze werden die Schuhe wieder trocken. Ab km 13 habe ich dann aber festgestellt, dass die Hornhaut beider Füße an Zehen und Fußballen aufweicht. Ein kontinuierliches Laufen war nicht mehr möglich, also ging ich bergauf (Oberkörper vorgebeugt, Vorderfuß stärker gefordert) und lief bergab (Oberkörper hinten, also Ballen stärker gefordert) im Wechsel.

 

In der Altstadt von Lauffen erkannte ich an der Kleidung eine Frau wieder, die mich vor 2-3 Kilometern recht flott überholt hatte. Sie ging jetzt und als ich näher kam sah ich, dass sie einen Schal mehrmals dick um den Hals geschlungen und einen hochroten Kopf hatte. Ich sagte zu ihr,  sie soll bergauf gehen und bergab laufen und bei nächster Gelegenheit einen Becher Wasser in den Nacken kippen. Sie konnte allerdings nicht mehr richtig reden, nickte nur leicht und schaute mich etwas irritiert an.

 

Über der Neckarbrücke vor mir fiel mir ein farbiger Läufer auf, der am Start hinter mir gestanden hatte (außer den beiden Kenianern war er wohl der einzige Farbige. Er ließ sich Rotwein einschenken und trank ihn genüsslich. Als ich zu meinem Laufnachbarn in dem Moment sage: "Den haut der Alkohol doch bei der Hitze zusammen." Kommt spontan: "Der hat bessere Gene als wir und verträgt das." Und so war es.

 

500 m weiter gibt es Traubenzucker. Ich nehme zwei und höre: "Der ist von der SPD, von denen nehme ich nichts." Darauf ein anderer: "Ich arbeite beim GKN", das ist das Kernkraftwerk Neckarwestheim. Mir ist beides so was von egal und  vertilge die zwei gereichten Traubenzucker auf einmal.

 

Jetzt kommt ein Streckenabschnitt, den ich überhaupt nicht mag. Es geht ewig in Lauffen am Bahngleis und später an der Bundesstraße entlang nach Haussen. Dort ist der HM-Zeitnahme: 2:20 Stunden, etwas schlechter als erwartet (letztes Jahr war ich hier bei 1:59), aber immerhin - bei der Hitze! Am Ende von Hausen fällt mir das Laufen immer schwerer und ich gehe. Ich zwinge mich unter Aufbietung aller Reserven, auf der Kuppe nach Brackenheim hinunter wieder zu laufen.

In der Altstadt ist im Vergleich zum Vorjahr fast nichts los. Wo letztes Jahr noch eine Kapelle gespielt hat, stehen ein paar wenige Leute, ein Vater spielt quer über den Weg mit seinem Sohn Fußball. 500 Meter weiter, nahe dem Ortsende, hat die Feuerwehr eine Wasserwand aufgebaut. Mein Bedarf ist allerdings gedeckt und ich laufe drum herum.

 

Jetzt geht es gleich durch die Weingärtnergenossenschaft, 90 Grad nach rechts und gleich wieder 90 Grad nach links. Am liebsten würde ich 100 Meter geradeaus laufen, dann wäre ich wieder auf der Strecke. Da ein Ordner an der Abzweigung steht, verkneife ich es mir. Im Innenhof, der so gut wie keinen Schatten bietet, ist dieses Jahr auch sehr wenig los, die Freibäder dagegen sind heute brechend voll.

 

Zum ersten Mal überhole ich bei einem Marathon nicht ständig Leute, eigentlich gar niemand! Die Kilometer fließen sehr zäh dahin, wie die Zeit in Salvador Dali's Gemälde. Der Zweifelsberg bei km 27, wo letztes Jahr noch am linken Rand Menschen standen und uns mit La-Ola-Wellen hochtrieben, niemand! Oben steht verlassen ein Wasserwagen, aus dem Brausekopf tropft das Wasser nur noch spärlich. Ich will nicht mehr. Ist überhaupt noch jemand hinter mir? Ein paar wenige LäuferInnen überhole ich berauf doch noch. Letzter bin ich nicht, ein schwacher Trost.

Direkt nach dem Zweifelsberg auf dem Weg bergab zwei Ordner auf einer Wohnzimmercouch! Darüber spannt sich ein Sonnenschirm. Beide sehen sehr zufrieden aus. In Neipperg wieder ein paar Menschen an der Straße und in der Folge ab und zu in den Weinbergen ein oder zwei Ordner in der sengenden Sonne, sichtlich fertig.

 

Der Schild 30 km erinnert mich daran, wie weit es noch bis ins Ziel ist. Ich mag nicht mehr und ich kann nicht mehr. Der Puls geht selbst beim Gehen nicht mehr unter 140 Schläge. Normalerweise sinkt er innerhalb einer Minute um 5-15 Schläge. Beim Ausdauertraining laufe ich mit 141 Schlägen. Bis zum HM war ich bei 163 Schlägen, den Berg hinauf auch mal bei 169 - das ist eben mein Wettkampfpuls.

 

In den Weinbergen (normalerweise ein wunderbare Strecke) auf Höhe von Dürrenzimmern ein paar Biergarnituren und Menschen, die mich anfeuern. Ich laufe und als ich außer Sichtweite bin, gehe ich wieder. Ich mag nicht mehr, ich würde mich am liebsten irgendwo dazu setzen und mich lang strecken. Wenn - wie jetzt am Sportplatz in Nordhausen - Schatten kommt, laufe ich wieder, diesmal ein längeres Stück. An der Wasserstelle redet mich eine hübsche, blonde Mittzwanzigerin mit Pferdeschwanz an und meint: "Wir geben doch nicht auf, oder?" "Nein, ganz bestimmt nicht!" antworte ich, fülle meine 3 Trinkflaschen auf und lasse sie hinter mir zurück, ich habe eh seit km 18 den MP3 Player an. Keine Rede von Singen, Tanzen, Schnippen oder Unterhaltung...

 

Auch hier in Nordhausen stehen, wie schon die ganze Strecke zuvor, Wassereimer von den Anwohnern, ohne die an diesem Tag wohl nichts gegangen wäre. Ich tauche meine Schildmütze wieder einmal in einen Eimer Wasser ein und setzte sie triefend wieder auf. Ah, das tut gut!

Es geht hinunter nach Nordheim, Rolf Willy vom gleichnamigen Weingut ist mit einem seiner Söhne am Straßenrand. Man sieht ihnen an, dass sie für heute auch geschafft sind. Einer der Läufer, der sich wie ich auch schon die ganze Zeit voran quält, läuft mit dem schwarzen Trikot von Rolf Willy vor mir her. Schwarz heizt ja bei der sengenden Sonne die Temperatur im Oberkörper noch mehr an. Er tut mir richtig leid. Ab und zu höre ich, wie er (ich übrigens auch) angefeuert wird: "Los, gleich habt ihr es geschafft!" Dumm's Gebabbel! Das ist schwäbisch und heißt soviel wie = unkluges Gerede.

 

Es ist bei unserem Tempo noch gut 1 Stunde bis ins Ziel. Nach der Kurve Richtung Rathaus sitzt rechts im Schatten alles voll. Alle feuern mich ernsthaft an, ich schaue hin und sage: "Jetzt muss ich wegen Euch noch laufen!" Alle lachen, ich grinse und als ich loslaufe, johlen sie und feuern mich erst recht an.
 
Am Ende von Nordheim, am letzten schweren Anstieg, sehe ich einen Mitläufer, der mich schon mehrmals überholt hatte. Leute am Rand feuern ihn an, aber es geht nichts mehr. Er meint, es sei zu heiß, dreht den Kopf zu mir und sagt: "Isse zu heiße - Isse Scheiße." Sagt’s, schaut wieder nach vorne und geht mit mir zusammen bis oben hin. Der Ortsanfang von Klingenberg liegt unendlich weit weg..... Plötzlich läuft mein ebenso kaputter Vordermann los. Was, wie? Jetzt sehe ich unter einem Sonnenschirm am Wegrand ein Teleobjektiv mit Fotograf daran. Also gut, bis das Bild gemacht ist, laufe ich dann eben auch.

 

Am Ortsanfang von Klingenberg laufe ich wieder. Die Häuserschlucht bietet etwas Schatten und es geht bergab. Das letzte lange, gerade Stück liegt vor mir. Wie oft bin ich diese Strecke schon gelaufen, 8 mal, 10 mal? Die Strecke ist mir vertraut, hier treffen die HM und die Marathonläufer aufeinander, aber aus der Unterführung unter der Eisenbahn strömt nichts, niemand, kein Mensch. Innerlich gibt mir das den Rest. Ich gehe wieder. Wasser, Mütze rein, Mütze auf, Trinkflaschen auffüllen. Vor mir werden bereits die Becher zusammengekehrt, es herrscht Aufräumstimmung.

Ich muss an eine der Teilnehmerinnen aus dem Film von 0 auf 42 denken, die kurz hinter dem Besenwagen herging. Ich fühle mich beschissen.... 300 Meter weiter rechts auf einer Mauer in Klingenberg plötzlich eine Frau, die mich anfeuert: "Sie haben es aber auch lange ausgehalten, toll!" rufe ich ihr zu. "Wenn Ihr nicht aufgebt, geben wir auch nicht auf!" kommt es zurück. Das ist das Salz in der Suppe. Immer dann, wenn man nicht damit rechnet, ist jemand da, der nicht nur die Ersten laufen sehen will, sondern Leute wie mich, die nie als Erster durchs Ziel laufen werden, unterstützen.

 

Zwei Rotkreuzwagen rasen mit Martinshorn an mir vorbei, das war knapp, durch den MP3-Player hatte ich sie nicht gleich wahrgenommen. Auf der Strecke zwischen Klingenberg und Böckingen gehe ich zwar, überhole aber 5 Läufer vor mir. Meine Leisten schmerzen vom untrainierten schnellen Walken. Vor mir sehe ich einen Läufer, dem von einer Frau und ihrer Tochter Cola gereicht wird. Das ist sicher der Ehemann. Falsch, juhhuu,  jetzt gehen sie auf mich zu, ich greife freudig nach dem Becher und bedanke mich strahlend. Endlich mal etwas anderes als Wasser und Apfelsaftschorle!

 

Auf der Straße vor mir steht ein Rotkreuzwagen quer. Zwei nackte Fußsohlen blicken mich durch die Milchglasscheibe an, ein Sanitäter springt aus der Fahrertür und eilt nach hinten. Plötzlich ist mein "Isse zu heiße" wieder vor mir und jemand mit einem regenbogenfarbigen geblümten Schlapphut. Wohlgemerkt, ohne zu humpeln! Rechts im Schatten einer Bushaltestelle eine Fotografin, sie feuert mich an: "Ich bin nicht mehr zu motivieren!" rufe ich ihr zu. Sie akzeptiert es und macht kein Foto.

Ein paar Meter weiter rennt von links ein junger Mann mit einem halb leeren Caipirinha-Glas auf uns zu und lallt: "Los, lauft, ihr habt es gleich geschafft!" Der regenbogenfarbige Hut und ich schauen uns an und denken beide: "Ich weiß, aber ich kann es nicht mehr hören!"

 

Kurz bevor die Laufstrecke rechts zum Bürgerhaus abbiegt steht ein Pavillon, davor ein Vater, der zu seinem Kind sagt: "Spritz den Mann mal an!" Ich versuche ihm zu erklären, dass ich das nicht will, weil sich meine Hornhaut schon auflöst. Da kommt es im Chor zurück: " Ohhhh," und "die muss sowieso weg.“

 

Als ich endlich im Schatten durch die Bahnunterführung laufe, weiß auch ich, dass ich es endlich geschafft habe. Aber zu welchem Preis? Ich glaube, ich wollte  sieben Mal aufhören, habe dann aber immer wieder gebissen, weil ich einfach einen weiteren Marathon in meine Liste eintragen wollte. Ich wollte die Medaille. Wann war time-out? Nach 5 oder nach 6 Stunden? Mist, wenn jetzt die ganze Schinderei umsonst war!

 

Ich gehe, laufe, gehe. Neben mir ein Mittzwanziger, wir gehen seit 1 km flott nebeneinander her. Auf der neuen Böckinger Brücke sage ich zu ihm: "Komm, wir laufen den Rest." "Mein Knie tut weh," antwortet er, läuft aber trotzdem ab jetzt mit mir ins Ziel.

 

Wenn von meinem Lauftreff jetzt niemand mehr da steht, kann ich es ihnen nicht verübeln. Wie es wohl den anderen erging? Vor der letzten Kurve sehe ich jemand mitten auf der Strecke wild gestikulierend. Andrea! Ich glaube, sie ist genau so froh wie ich, dass ich im Ziel bin. Alle hatten bis vor 10 Minuten auf mich gewartet. Meine Fußsohlen brennen wie Feuer, hoffentlich regeneriert sich das bis kommenden Freitag. Ich war nach 5:23 Stunden (Durchschnittspace trotz Gehens 7:40 Minuten) im Ziel als einer der Letzten angekommen. Ein Kätchen von Heilbronn hängt mir die Medaille um den Hals. Als ich mich umdrehe, kommt der regenbogenfarbene Hut theatralisch humpelnd ins Ziel. Er kriegt den meisten Applaus.

 

Als wir im Food Court (Biergarten am Neckar) alle zusammentreffen, erfahre ich als erstes, dass Uwes Puls nicht mehr nach unten ging und bei über 170 hängen blieb. Er hat Gott sei Dank die Konsequenzen gezogen und bei der Hälfte der Strecke aufgehört, dann aber alle im Ziel angefeuert.

 

Ich nippe an einer Apfelsaftschorle, beinahe kommt alles wieder hoch. Ich reiche sie Andrea weiter, sie wehrt sich nicht. Eben auch "kaputt zufrieden".


Der letzte Marathoni kam nach 6:06 Stunden ins Ziel, die letzte Marathonfrau nach 6:01 Stunden.

Fazit: "Isse zu heiße, isse Scheiße!"

 

Informationen: Heilbronner Trollinger Marathon
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