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Laufberichte

Es steht ein Baum im Odenwald

 

„Hast du Lust und Zeit Heidelberg zu übernehmen?“ Das war keine Frage aus einer Parteizentrale. Auch nicht das Angebot eines im Multilevel-Marketing tätigen Kollegen. Der Chefredakteur fragte mich und ich war froh darum, denn ich muss gestehen, dass in der Fülle der tollen Laufanlässe diese Veranstaltung aus meinem Gesichtsfeld gerutscht war. (Dabei muss ich gleich noch etwas gestehen, nämlich dass ich noch nie in meinem Leben in Heidelberg war.)

Vielleicht war das deswegen passiert, weil ich mir unter einem Stadt-Trailmarathon nichts Konkretes vorstellen konnte. Ist ein Traillauf in einer Stadt nicht so unvereinbar wie eine Abendmahlsfeier nach evangelischem Ritus im Petersdom? Am besten ist, so dachte ich mir, dass ich dem Ruf des Chefs folge.  Die Zeit dafür nehme ich mir gerne und die Lust auf Laufveranstaltungen hat nach meinen vergangenen drei erfolgreichen Finishs wieder deutlich zugenommen.

Nach zwei Läufen an bekannten Orten, bei welchen ich nur für mich und meinen läuferischen Aufbau unterwegs war und nicht darüber berichtet habe, kommt im Vorfeld die spannende Arbeit der Recherche. Ich bin erschlagen über die Fülle des Quellenmaterials und überwinde erst einmal diese Berge. Die auf der Strecke werden jedoch nicht geringer sein. Höher und härter sei er, der GELITA Heidelberg Trailmarathon; aber auch herrlich. 1500 Höhenmeter bei einem Stadtmarathon zeigen schon auf dem Papier, dass die ersten beiden Attribute nicht aus der Luft gegriffen sind. Für das dritte gehe ich auf die Strecke.

Ich kann mir den Luxus erlauben, nicht nur für den Lauf anzureisen und bin schon am Vortag in Heidelberg. Der Feiertag ergibt zwar ein anderes Bild der Stadt als ein normaler Samstag, doch so bekomme ich auch Teile der Stadt zu Gesicht, welche nicht durchlaufen werden. Zudem kann ich in aller Ruhe die Startunterlagen abholen und an der Nudelparty Kohlenhydrate bunkern. Dies alles an und in den Örtlichkeiten, wo Start und Ziel sein werden, beim Heidelberger Schloss. Dass diese imposante Anlage – von französischen Truppen 1689 abgefackelt und seither mehr Ruine als Schloss - so berühmt ist, haben die Heidelberger den romantischen Schwärmern und einem Amerikaner zu verdanken: Mark Twain. In seinem Reisebericht „A Tramp Abroad“ berichtet er:

„Um gut zu wirken, muss eine Ruine den richtigen Standort haben. Diese hier hätte nicht günstiger gelegen sein können. Sie steht auf einer die Umgebung beherrschenden Höhe, sie ist in grünen Wäldern verborgen, um sie herum gibt es keinen ebenen Grund, sondern im Gegenteil bewaldete Terrassen, man blickt durch glänzende Blätter in tiefe Klüfte und Abgründe hinab, wo Dämmer herrscht und die Sonne nicht eindringen kann. Die Natur versteht es, eine Ruine zu schmücken, um die beste Wirkung zu erzielen.“

Genannte, die Umgebung beherrschende Höhe, erklimme ich zu Fuß, was nicht am Fahrpreis der Bergbahn liegt, der für die Teilnehmer einen beschiedenen Euro beträgt.

Eine Stunde vor dem Start habe ich mit Günter Kromer abgemacht. Wir sind heute im Zweierpack unterwegs - dachte ich. Noch bevor ich ihn sehe, treffe ich einen anderen unserer Farbenträger: Wolfram Brunnmeier. Welcher Bericht in welchem Portal erscheint, wissen wir nicht und überlassen die Entscheidung Klaus. Es hat etwas Beruhigendes, nicht als einziger Berichterstatter am Start zu sein. Wenn es mal nicht so gut läuft und einer nicht über die ganze Strecke berichten kann, ist der andere das Netz und der doppelte Boden.

Mit diesem beruhigenden Wissen machen wir uns Im Regen auf zum Startplatz. Welch ein Unterschied zu dem gestrigen, herrlich sonnigen Tag. Aber zur Herrlichkeit braucht es nicht nur Wetter. Ob die anderen Zutaten dabei sind, werde ich bald erfahren.

In Intervallen werden wir losgeschickt, erst durch den Schlossgarten und dann auf einem Weg steil hinunter in die Altstadt. Im vierten und letzten Startblock kann ich ganz entspannt loslaufen. Durch die Hauptstraße geht es an Karlsplatz, Kornmarkt, Marktplatz, Heiliggeistkirche und dann am Fischmarkt und am Brückenaffe vorbei, einem beliebten Fotomotiv.

Durch das mittelalterliche Brückentor geht es auf die Alte Brücke, eine der letzten Brücken in der klassischen Baukunst in Stein, die Kurfürst Karl Theodor gegen Ende des 18. Jahrhunderts errichten ließ. Auf der Brücke selbst sind Skulpturen  des Bauherrn der Brücke, und - weil diesem Kunst und Wissenschaft sehr am Herzen lag - der Göttin der Weisheit. Am Nordufer macht dann noch der Brückenpatron Johannes Nepomuk seine Aufwartung.  

Auf dieser Seite, in Neuenheim, geht es erst ein kurzes Stück flussaufwärts und dann in nördlicher Richtung weg vom Neckar richtig aufwärts. Auf der Hirschgasse geht es hoch zum Philosophenweg, auf welchem sich trefflich philosophieren ließe. Ich mache es nonverbal; Laufen selbst ist eine Philosophie.

Von hier  gibt es einen wunderbaren Ausblick auf die Heidelberger Altstadt und den Ausgangspunkt unserer Runde. Dieser Sonnen-, heute leider Nebelhang, bietet exotischen Pflanzen ideale Bedingungen zum Gedeihen. Und was für das Grünzeug gilt, hat erst recht auch Gültigkeit für uns, die Marathontrailläufer, Exoten der besonderen Art.

Gut sieben Kilometer sind schon verflogen, da folgen im Aufstieg zum Heiligenberg  an der Thingstätte knackige Stufen. Das Thing diente den alten Germanen als Zusammenkunft für politische Beratung, Gerichtsverhandlungen und auch zu kultischen Zwecken. Die Thingbewegung innerhalb der Jugendbewegung des frühen 20. Jahrhundert gestaltete in nostalgischer Verklärung ihre Verbands- und Jahresversammlungen in dieser Art mit Tanz, Gesang, Dichtung und Theater. Nach der Weltwirtschaftskrise wurden auch außerhalb der Jugendverbände nach diesem Vorbild solche Großereignisse durchgeführt. Der „Reichsbund der deutschen Freilicht- und Volksschauspiele e.V.“ kümmerte sich darum und wurde schon bald vom NS-Regime vereinnahmt. Über 400  Thingstätten hätten übers ganze Land verteilt errichtet werden sollen, nur ein Bruchteil davon wurde gebaut. Statt das Volk zur Propaganda kommen zu lassen, kam die Propaganda zum Volk. Der technische Fortschritt in Form des Volkempfängers ließ fortan die braune Soße im trauten Heim aus dem Lautsprecher triefen. Heute haben wir dazu die sozialen Medien…

Nach knapp zehn Kilometern kommt die erste Verpflegungsstelle. „Was, erst jetzt?“, höre ich fragen. Ja, so ist das. Wie bei einem Ultra Trail. Wer in Heidelberg davon überrascht ist, hatte Bohnen in den Ohren und Tomaten auf den Augen. Bei der Startnummernausgabe erhielten alle Teilnehmer der Langdistanz einen Trinkrucksack und vor dem Start die Möglichkeit, diesen aufzufüllen. Noch Fragen?

Wer jetzt in flottem Tempo überholt, trägt in der Regel eine grüne Startnummer der Staffelläufer. Grün ist auch weiterhin die vorherrschende Farbe um uns herum. Nur wer hoffnungslos verliebt ist, sieht nur einen Baum; so, wie der Bursche in dem Volkslied:

Es steht ein Baum im Odenwald
der hat viel grüne Äst´
da bin ich schon viel tausend mal
bei meinem Schatz gewest

Erstaunlich, dass der Kerl diesen Baum immer wieder gefunden hat, denn ich habe mittlerweile die Orientierung verloren. Das ist weiter kein Problem, da die Streckenmarkierung keinen Anlass zu Unsicherheiten gibt. Es geht rauf und runter, vor allem aber hoch. In einem der Anstiege geht mir plötzlich alle Energie flöten und ich muss es gemütlich nehmen und mir ein Gel reinziehen. Nach dieser Stärkung geht es wieder ordentlich flott hoch zum Weißen Stein, dem nördlichen Kulminationspunkt der Strecke.

Offensichtlich habe ich die Karte nicht sorgfältig genug studiert. Die hier erwartete Verpflegung kommt erst in gut zwei Kilometern. Auf dem Forstweg muss ich längere Gehpausen einschalten, weil die gebunkerte Energie des üppigen Frühstücksbuffets schon längst verflogen ist.

Nach einem ausgiebigen Verpflegungshalt geht es weiter auf den vermeintlich kontinuierlichen Abstieg nach Schlierbach. Die Gegenanstiege sind sanft und doch so brutal, besonders weil in meinem rechten Unterschenkel wieder ein Muskelproblem aufgebrochen ist. (Immerhin weiß ich, dass die geschickten Hände meiner Physiotherapeutin das beim letzten Mal im Nu wegzauberte, was die ärztliche Therapie während Wochen nicht vollständig geschafft hatte). Schade, denn der Rest meines Kadavers würde noch trefflich mitmachen.

Das letzte Stück hinunter und hinein nach Schlierbach ist asphaltiert und so geht es auch nach dem nächsten Verpflegungsposten bei Kilometer 30 noch ein wenig weiter bis uns der Wald wieder hat. Ich bin erstaunt, über die hohe Dichte an Edelkastanienbäumen, welche in der Schweiz praktisch nur südlich der Alpen zu finden sind.

Nach vier weiteren Kilometern kommt eine erste Kostprobe der Himmelsleiter, das „amuse bouche“, oder in diesem Fall „amuse jambes“. Um den ersten Schock verdauen zu können und auf die notwendige Streckenlänge eines Marathons zu kommen, gibt es einen kleinen Schlenker auf Forstweg und Trail, bevor dann das Filetstück kommt: der obere Teil der Himmelsleiter.

Wie hieß es in der Ausschreibung? Herrlich, höher, härter. Spätestens in der Mitte dieser völlig unregelmäßigen Treppe in Blockstufen aus Sandstein habe ich drei weitere „H’s“ ausgemacht. Diesmal groß geschrieben, wie sich das für Substantive gehört: Himmelsleiter? Hohn! Höllenstieg…

Dieser „stairway to heaven“ ist aber nicht ein „highway to hell“, er ist die Hölle. Umso besser das Gefühl, oben anzukommen und bei mittlerweile ziemlich klarer Aussicht auf die Stadt und hinaus in die Rheinebene die Annehmlichkeiten des vierten Verpflegungspostens zu genießen.

Der höchste Punkt der Strecke ist erreicht, nun sind es keine fünf Kilometer mehr bis in den Schlossgarten. Diese habe es in sich. Wohl dem, der es auf dem verblockten Trail nicht verbockt. Nachlassende Konzentration können die müden Beine jetzt nicht gebrauchen. Für Stürze gibt es geeigneteres Terrain.  Nach dem ersten langen Teilstück gibt es eine Erholungspause auf einem Forstweg mit Gegenanstieg. Dann gibt es nochmals Singletrail, vorbei an einem alten Steinbruch mit Schießstand hinab zur Molkenkur. Sowohl die Station der Bergbahn als auch das Hotel-Restaurant trägt diesen Namen. Vor über 160 Jahren kamen die Gäste hierher, um dem Molke-Fasten, eben der Molkenkur auf der Basis von Ziegenmolke, zu frönen.

Der letzte Kilometer ist angebrochen und führt abwärts in den Schlosspark. Auf der Terrasse bis zur hintersten Ecke zu laufen ist ein mentaler Kraftakt, doch dann wird mir angekündigt, dass es nur noch vier Kurven bis ins Ziel sind. Nach der ersten sehe ich schön aufs Zielgelände hinab, nehme dann die Spitzkehre und zwei kurz aufeinander folgende rechtwinklige Biegungen, dann kann ich mich auch dazuzählen: Nur die Harten kommen in den (Schloss-)Garten. Bezeugen kann ich das mit einer schmucken Medaille und einer aus dem Internet ausdruckbaren Urkunde.

Die Stufen runter in die Altstadt sind dann bloß noch eine kleine Dreingabe, ebenso der nicht ganz kurze Weg zu den Duschen in einer Schule. Egal, Hauptsache das Wasser ist warm – und das ist es.

Herrlich, höher, härter. Das ist kein leeres Versprechen. Das Einzige, was heute noch härter wird, ist die Heimreise. Drei Seiten lang ist die Liste der Verkehrsmeldung auf dem Navi und jede der möglichen Routen ist betroffen.

Zuhause am Computer, beim Schreiben des Berichts geht es mir ein wenig wie dem Burschen aus dem Volkslied:

Der Baum der steht im Odenwald
und ich bin in der Schweiz
da liegt der Schnee und ist so kalt
mein Herz es mir zerreißt

Ein bisschen Übertreibung darf ja sein, aber ich komme gerne wieder nach Heidelberg. Bei schönem Wetter ist dieser Trailmarathon sicher noch herrlicher!

 

Einen  weiteren Laufbericht mit
vielen Bildern findet ihr hier

 

Marathonsieger

 

Männer

1 Müller, Matthias (GER)  03:14:35  
2 Abel, Kim  03:24:47  
3 Sharpe, Charlie (ENG) 03:25:41  

Frauen

1 Quigly, Aoife  03:49:52  
2 Jakob, Anja (GER) 03:59:04  
3 Kenty, Daniela (GER)  04:03:59

348 Finisher

 

 

Informationen: Trail Marathon Heidelberg
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