Dreimal war ich (M 35) den Rennsteigmarathon schon gelaufen. Aber zwei Rechnungen hatte ich noch offen. Der Marathon hatte mich immer schon vor dem Ziel geschafft. Das ewige Auf und Ab ging so an die Substanz, dass ich irgendwann gehen musste. Zweitens müsste mein Trainingszustand eine Zeit unter vier Stunden zulassen.
Mit Rudis (M 50) Wohnmobil reisen wir Freitag in Neuhaus an und finden einen ruhigen Parkplatz in Nähe der GutsMuths-Sporthalle. Zunächst melden wir uns an. Mit dem Startbeutel geht es dann in die Halle. Dort sind Sportartikelmesse und Kloßpartie angesagt. Wir als Flachlandbewohner hatten nicht daran gedacht, dass es auf 800 Meter Höhe einen Tick kälter ist. Rudi hat noch ein Sweatshirt vom Motocross im Wohnmobil liegen.
Anbetrachts der Wetterprognosen für Samstag kaufe ich mir ein langärmeliges Laufshirt direkt von Waldemar Cierpinski. Na ja, vom Doppelolympiasieger im Marathon kauft man halt gern ein Stück.
Klöße mit Rinderroulade und Rotkohl sind als Abendessen vor einem Marathon zwar ungewohnt, aber wir lösen die diesbezüglichen Gutscheine ein. Plötzlich klopft mir Wilhelm (M 50) auf die Schulter. Auch er will hier morgen zum vierten Mal starten. Sein Begleiter Stefan (M 30), der wie wir aus der Walsroder Ecke kommt, nimmt wie Rudi hier zum ersten Mal teil. Bei einem Bier unterhalten wir uns über Erfahrungen und Pläne. Unsere Vorstellungen sind recht verschieden. Mir wird bewusst, dass Läufer zwar dasselbe Hobby haben, sich aber hinsichtlich ihrer Ambitionen sehr unterscheiden können. Wilhelm, er hat schon über 50 Marathons hinter sich, will auf Grund einer Verletzung hier nur um die vier Stunden laufen. Das ist ja auch mein Ziel. Nur bereite ich mich ein halbes Jahr auf meinen 10. Marathon vor und müsste für die 4 Stunden alles geben. Stefan lief vor zwei Wochen den Marathon in Hannover sehr leistungsorientiert unter 3 Stunden. Hier will er zumindest unter 4 Stunden bleiben. Rudi, er hat erst vor einem Jahr mit dem Laufsport begonnen, absolviert gegenwärtig jeden Monat einen Marathon. Ohne ans Limit zu gehen, will er zwischen 4h 30 min und 5 h laufen.
Im Zielort Schmiedefeld werden auch die 21,1 km und die 72,7 km beendet. Letzterer Lauf stellt für uns eine andere Dimension dar. Aus unserer Gegend startet morgen um 6.00 Uhr der Dorfmarker Matthias (M 50) mit ca. 1 500 weiteren mutigen Läufern in Eisenach bei diesem Ultra. Wir in Neuhaus lauschen noch eine Weile der Volksmusik von und mit Hans-Peter-Müller, bevor wir uns, zurück in unseren Quartieren, früh hinlegen.
So richtig gut schlafe ich, wie meistens vor einem Marathon, nicht. Rudi steht um 5.30 Uhr auf und kocht sich Kaffee. Eine knappe Stunde später bereite ich mir meinen Matetee. Mit einem ruhigen Frühstück lassen wir den Marathon langsam näher kommen.
Dann geht es für fast sechs Kilometer auf asphaltierter Straße bergab. „So schwer wie du gesagt hast, ist der Lauf gar nicht“, rief Rudi mir übermütig zu. „Dazu schweige ich besser“, entgegnete ich. Bald biegen wir auf immer noch recht gemütlichem Profil in den Thüringer Wald. Der Weg ist nach den heftigen Regenschauern noch recht fest. Den sich auftuenden Pfützen suche ich auszuweichen. Rudi ist einer der wenigen, der dort einfach hindurchplatscht. Das Laufen im sich dicht haltenden Läuferfeld wird zum größeren Problem. Ich fange an im teilweisen Zickzack nach vorn zu laufen. Rudi fällt etwas zurück.
Am ersten Verpflegungspunkt bei km 9 staune ich nicht schlecht. Neben Tee und Wasser gibt es auch Schleim und Bananen. Ich bediene mich davon mit kleinen Portionen.
Ich komme mit einigen Läufern ins Gespräch. Viele waren schon mehrfach beim Rennsteig dabei. Ein Mann (ca. M 55) startete zum ersten Mal den Marathon, nachdem er zuvor schon öfter den Supermarathon gelaufen war. Eine Frau (ca. W 50) läuft ihren ersten Marathon überhaupt. „Ich weiß nicht, wie schnell ich laufen soll“, wirft sie hin. „Lass es einfach locker laufen“, gebe ich zurück. „Ich lief vor elf Jahren hier auch meinen ersten Marathon und erzielte gleich mein bisher bestes Streckenergebnis von 4h 17 min.“
Recht locker geht es denn auch bergab. Doch da spüre ich, bereits nach km 10, ein leichtes Stechen in der vorderen Oberschenkelmuskulatur. Diese Muskulatur machte mir beim Rennsteig bisher stets zu schaffen. Ich ermahne mich, vor allem bergab vorsichtig zu sein. Schon glaube ich nicht mehr daran, die 4 Stunden Marke zu knacken. Ein Trainingsfehler? Vielleicht bin ich in den Vorbereitungsmonaten zu viele Halbmarathonwettkämpfe gelaufen? Mit Sicherheit habe ich das Bergablaufen zu wenig trainiert.
Bergauf klappt es besser. Die erste große Bewährungsprobe schickt uns den Eselsberg hinauf. Hier bei km 19 erreichen wir den mit 841 Metern höchsten Punkt der Marathonstrecke. Die Zwischenzeit wird genommen. Es geht an der unter dichten Wolken stehenden Turmbaude vorbei zum nächsten Verpflegungspunkt. Angesichts meiner Oberschenkel lange ich ordentlich zu: Tee, Schleim, Banane, Butterweißbrot, Fruchtschnitte. Ich kaue und schlucke im gehen. Steil geht es hinab, was mich nicht gerade zu Tempoarbeit reizt.
Bald stockt es gar auf einem engen, wurzel- und steinumsäumten Hohlweg. Es stört mich wenig. Relativ diszipliniert reihen sich die Läufer ein. Irgendwann ist der Abstieg geschafft und der Marathon wird langsam ernst.
Der Rennsteig führt parallel zur Straße mehrere Kilometer bergan. Es ist nicht sehr steil, aber die Länge der Steigung lässt das Läuferfeld auseinander reißen. Ich sehe die ersten Läufer gehen. Die meisten bewegen sich auf der Straße hinauf. Ich wähle den Naturpfad und mache beständig einige Plätze gut. Nach zwei drittel der Marathonstrecke beginnt es zu regnen. Der Sprecher am Start hatte Recht behalten, als er uns den Tipp gab, schnell zu laufen, um trocken anzukommen. Aber nur die Allerersten konnten sich daran halten. Die andern laufen von nun unter Wind und Regen. Aber wenn er bereits unterwegs ist, stört das den Läufer nicht.
Vor Neustadt geht es auf freier Straße noch mal beschwerlich bergauf. In vergangenen Jahren führte die Strecke linker Hand auf dem Rennsteig nach Neustadt. Warum es in diesem Jahr die Straße hochgeht wissen wir nicht. Nach diesem harten Stück Arbeit haben wir den Verpflegungspunkt in Neustadt bei km 30 erreicht. Ich greife soviel ich tragen kann: Schleim, Tee, Salami- und Butterweißbrot, Banane, Fruchtschnitte. Im gehen stopfe ich alles in mich hinein. Mein Magen rebelliert mit anschwellendem Druck. Zuviel des Guten? Aber mein Körper signalisiert mir, dass er die Energie braucht. Und ich weiß, wie schwer es die letzten 13 km noch wird.
Nach einem kurzen bergab führenden Wiesenabschnitt geht es bald wieder in den Wald hinauf. Der Anstieg zum Großen Burgberg auf 818 Meter Höhe ist mir als das schwerste steile Teilstück in Erinnerung. Im Vorfeld sagte ich mir: „Wenn du vernünftig bist, gehst du hier.“ Doch nun ruft mich der Ehrgeiz. Ziel zwei ist wohl nicht mehr drin, Ziel eins aber noch. Ich jogge hinauf. Alle um mich herum sehe ich gehen. Im Zickzack setze ich an den Gehenden vorbei. Der Anstieg wird von einer Trommlergruppe auf dem Gipfel musikalisch begleitet. Das motiviert mich noch. Ich schaffe es und bringe kämpferisch die Faust nach vorn. Na ja, bergab werde ich dann wieder von vielen überholt, aber das juckt mich nicht.
Nein, der Marathon ist noch nicht zu Ende. Auf Waldwegen geht es mehr hinab als hinauf. Das ist in der Regel einfacher, aber die Sorge um meine Oberschenkel und die bereits zurückgelegten Kilometer drücken mich. Bei einer der bergab Passagen überholt mich die Marathondebütantin, mit der ich bei km 10 zusammenlief. Mit leichtem Schritt entschwebt sie, uneinholbar.
Am letzten Verpflegungspunkt in Frauenwald bei km 38 verschmähe ich das angebotene Köstritzer Schwarzbier. Neben Tee, Fruchtschnitte und Banane nehme ich auch Cola und erhoffe mir einen Energieschub dadurch. Denn die letzten 5 km können lang werden. Doch ich merke keinen Schub. Bei km 40 breitet sich dennoch Optimismus aus: Ich werde durchlaufen können. Als einzige Selbstverpflegung trage ich ein Stück Traubenzucker bei mir. Unbedingt brauche ich es nicht. Doch ich lege es mir auf die Zunge und hoffe einen ordentlichen Schluss hinzulegen.
Ich spüre wirklich einen Kick. Die Anstiege bewältige ich souverän. Und sogar nach Schmiedefeld hinab presche ich voran. Die normale Marathondistanz (42,195 km) ist geschafft, aber es geht noch ein gutes Stück vom tiefsten Streckenpunkt in Schmiedefeld (622 m) bis zum Sportplatz (711 m) bergan. In Schlusssprintmanie setze ich hinauf. Dem Regen trotzend applaudieren Zuschauer unter Schirmen und Capes. Ich beende die halbe Stadionrunde und habe mein Minimalziel erreicht: Streckenbestzeit in 4h 15.59 min und bis auf die Verpflegungspunkte durchgelaufen. Rudi kommt nach 4h 49.15min ins Ziel und ist mit sich und der Strecke zufrieden. Bergan musste er mehrmals gehen, bergab lief es bei ihm gut. Auch Stefan (3h 52.28min) und Wilhelm (3h 59.39min) blieben eindrucksvoll in den von ihnen im Vorfeld abgesteckten Zeitrahmen.
Durch die Veränderung der Strecke vor Neuhaus scheint die Distanz zudem von 43,1 km auf 43,5 km gewachsen zu sein. Von Supermarathon sprechen wir deswegen aber noch nicht. Der Dorfmarker Matthias lief die 72,7 km in 8h 26.31 min.
Vom anhaltenden Regen nach dem Lauf nochmals ordentlich durchnässt, nutzen wir bei Zeiten den Rücktransport per Bus. Abends fahren Rudi und ich mit dem Wohnmobil von Neuhaus nach Schmiedefeld. Im dortigen Festzelt genießen wir die gastliche Wärme. Wie die meisten anderen Gäste trinken wir reichlich Köstritzer Schwarzbier. Wir werden den Eindruck nicht los, dass eine Vielzahl von Lauffreunden vor allem deswegen am Rennsteiglauf teilnimmt, um am Abend deftig feiernd bei Schlager- und Volksmusik auf den Bänken zu tanzen.