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Laufberichte

Abkochen bitte!

 
Autor: Joe Kelbel

Kaum  aus dem Auto ausgestiegen heisst es: „Du musst abkochen!“ Jetzt bin ich eh schon verwirrt, weil Marburg im Vorfeld die Autofahrer nach Plaketten sortiert und ich dieses System ablehne. Und jetzt soll ich  Wasser kochen? Ich und Wasser? Ich fahr doch keine 150 km für ein Wasser!

Im Internet steht, man hätte E.Coli Bakterien im Wasser gefunden. Auf gut deutsch: Da hat jemand in die Versorgung geschissen. Der Veranstalter, der Ultra Sport Club Marburg, musste deswegen heute morgen abgefülltes Wasser für die Verpflegungsstationen kaufen. Die Schwammstationen sind gestrichen, zu groß die Gefahr einer Infektion.  Dabei hatten die ganzen Jahre eh nur die schnellen Läufer eine Chance auf einen E.Coli freien Schwamm.  

Sehr viele Läufer haben meinen Bericht vom letzten Jahr (Dong Tata) nochmals gelesen, wollen mich abklatschen. Ich halte lieber Abstand und die Hygienevorschriften ein. Das ist schwierig, der Bierwagen ist nämlich noch nicht im Stadion. Also gehe ich gleich hinauf zum  Marktplatz.

M4Y-Reporter Anton ist vor zwei Jahren mit seinem Rollkoffer auch direkt zum Schloß, dann wieder runter, zum falschen Stadion und dann erst zum Unistadion. Rollkoffer sind halt ungünstig für Spitzensportler, da hat es das Marburger Original „Christian der Kofferträger“  besser gemacht:  Der „Dienstmann Nr 4“ lungerte immer mit Schnapsfähnchen und kalter Zigarre am Bahnhof rum, zu einer Zeit, als der Rollkoffer noch nicht erfunden war. Ein Reisender bat ihn, seinen Koffer in die Stadt zu bringen. Da es „Christian“ zu heiß war, nahm er ein Taxi und präsentierte dem Kofferbesitzer dann die Rechnung. 

 

 

Also, Startnummernausgabe und Ziel des MANAMA (Marburger Nachtmarathons) ist immer im Unistadion in der Jahnstrasse und nicht in dem Stadion, bei dem die Startnummern des Lahntallaufes ausgegeben werden. Vom Bahnhof sind es etwa 2 Kilometer, immer an der Lahn entlang.  Aber Vorsicht: Wer für den Marathon mehr als 4 Stunden braucht, der kann nicht mehr mit der Bahn zurückfahren, der Bahnhof wird frühzeitig abgeschlossen. Dafür sehen wir das alte Bahnhofsgebäude heute auf der Finishermedaille. 

Wer zu früh angereist, der kann auf den Lahnterrassen direkt vor der Mensa abchillen, oder sich an der Weidenhäuser Brücke ein Ruderboot mieten, Startnummer abholen und die  750 Meter lange Prozession zum Startort angehen. 

Die beginnt an der Hirsemühle, dann geht es  über die Weidenhäuser Brücke hinauf zum Marktplatz. Der Professor für Nautische Archäologie hat mal seine Studenten zu einem „Tauchgang“ unterhalb der Brücke mitgenommen. Es wurden unglaubliche Dinge in der Lahn gefunden, sogar zerbrochene Trinkgefäße! Man vermutet nun, dass Studenten noch nie abgekochtes Wasser getrunken haben. 

Nachdem wir den Rudolfsplatz unterquert haben, gelangen wir zur alten Universitätskirche aus dem 13. Jahrhundert. Hinter der Kirche war das Dominikanerkloster. Aus dem Kloster machte man die Universität. Da geh ich jetzt mal rein. Im Kreuzgang gibt es noch die 800 Jahre alten, bunten Zellenfenster der Mönche. Durch die gibt es einen schönen Blick auf die Fachwerkhäuser.  
Das Gebäude mit den drei Giebeln beinhaltet die wunderschöne Aula (nicht geöffnet) mit den prachtvoll geschnitzten Professorenstühlen. Oben drüber, im Dachgeschoss, die schmalen Fenster gehören zum Karzer, wo man die Studenten reinsteckte, die abgekochtes Wasser verschmähten. Student Alfred war 1930 der letzte, der dort oben schlafen durfte. 

Es geht weiter die Mühltreppe hinauf zum Markplatz. Wieviele Läufer, Studenten und Professoren mögen sich schon diese Treppe hochgequält haben?  Eine Gedenktafel erinnert an den „ordentlichen Professor“ Denis Papin. Es war 1690, als er die Dampfmaschine konstruierte.Was ein unordentlicher Professor konstruiert, weiss ich nicht, der Dampf von Papin jedenfalls steht schon auf dem Marktplatz, wo sich mehr als 2000 Läufer versammelt haben. 

Links von der Mühltreppe ist die Statue der Sophie von Brabant, Tochter der Heiligen Elisabeth, uneheliche Tochter von Kaiser Friedrich II, König von Jerusalem. Laut Geschichtsbuch ist Sophie die Tochter von Ludwig IV, Landgraf von Thüringen. Sophie hält den vierjährigen Heinrich I (genannt „das Kind“, welch Wunder!) in den Händen, ruft ihn zum Landgrafen von Hessen aus.  Das war 1247. 

Seit  800 Jahren läuten Marburgs Kirchenglocken immer am ersten Mai, erinnern an den Einmarsch Kaiser Friedrichs II in Marburg und an die darauffolgende Zeugung von Sophie in der Schlafkammer des Schloßes. Sophie stiftete den Marktbrunnen, um den nun die Läufer sitzen und auf den Start warten. Auf der Säule steht der Heilige Georg, der Schutzpatron des Heiligen Landes und gibt damit einen Hinweis auf Sophies biologischen Vater, den Kreuzritter, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und König von Jerusalem. 

Moderator Artur ist glücklich mich zu sehen. Jetzt hat er  jede Menge Erzählstoff, lässt seine Interwievpartner stehen und erzählt lieber von meiner Knoblauchfahne.  Und dass ich gerne bei 80 Grad in der Wüste laufe. Da geht natürlich ein Raunen durch die Läufermenge. Schnell sucht Arthur eine Umrechnungstabelle: „Natürlich Fahrenheit, natürlich am Nordpol!“ Also 80 Grad Fahrenheit sind 27 Grad Celsius, aber niemand kann so gut pausenlos schwätzen, wie Artur. Und dann bringt er den Knaller schlechthin: „Joe, denk bitte dran, das Wasser abzukochen!“ 

Ich ziehe also durch die Oberstadt auf der Suche nach einem Kochtopf, finde die  Bronzestatue von „Christian, dem Kofferträger“ und etwas Besseres als Wasser.  Rene auch -  er hat ein Eis gefunden. Dr findet jede Eisdiele.

 

 

Apropos Diele, Marco Diehl, der Deutsche Meister klopft mir auf die Schulter: „ Joe, 80 Grad ist schon ne Leistung!“ Marco ist der Leader der  Läufer der Deutschen Vermögensverwaltung, alle in auffallendem Gelb, alle für den Halbmarathon gemeldet. Es gibt 200mal mehr Halbmarathonläufer als Langsstreckler. Ein Beweis, wie gut die Aufbauarbeit des Ultra Sport Club Marburg ist. 

Um 19 Uhr ertönt das  „Dong Tata“ vom Rathausgockel und los geht’s. Ich habe Zeit genug, um mich von meinem Fotoposten vor der ersten Reihe zurück auf den Marktplatz zu begeben, um dann über die beiden Zeitmessmatten zu laufen. Der Chip ist in der Startnummer integriert, der muss auf der ersten Matte aufgeweckt werden, damit die zweite Matte Bescheid weiß.

Schnell wird der Weg hinabgelaufen. Darf jetzt nicht auf Läufer aufzulaufen, die sich von den Restaurantgästen entlang der Barfüssergasse noch schnell ein E.Coli-freies Getränk vom Tisch reißen. Ich lass mich gerne mitreißen. Martin fasst es in Worte: „ Es gibt hier mehr zu sehen, als bei einem Ultralauf“. Das Sehenswerte erwische ich fotomäßig aber nur, wenn es vorbeizieht. Dann wippen die blonden Haare schnell außer Reichweite. Es folgen zwar welche nach, aber die haben dann die Gewichtsklasse von Martin.   

 

 

Im Steinbruch des Stadtteils Wehrda wurden Steine für den Reichstag gebrochen. Grund war, dass durch das komplizierte Auwahlverfahren auch ein Architekt aus Frankfurt an der Planung beteiligt war.  Und der wollte Steine aus Wehrda für Berlin. Die Steine wurden über die Lahn transportiert, also nutzen wir auch nicht die Straße Richtung Berlin,  sondern biegen ab, die Lahn hinunter. 

Die Wasserstation in Wehrda gibt es dieses Mal wegen hygienischer Ängste nicht, was für mich bestimmt kein Problem ist.  Wer trinkt schon gerne Wasser! Bei km 10 kommen wir zu den Lahnterrassen und der Bierinsel, direkt vor dem Mensagebäude. „Du bist doch der, der jedes Jahr  hier Stop macht! Du bist der coolste aller Läufer! Ich zahl das!“ - Liebe Leser, der MANAMA ist klasse! 

Unten auf den Lahnterrassen glühen zwei Einweggrills, zwei Nackensteaks, zwei Bratwürste, vier Speckspieße, neun Mädchen und ein glücklicher Junge. Glücklich ist auch Rene, der schon wieder ein Eis gefunden hat. Über den Hirsefeldsteg überqueren wir die Lahn. Dahinter ist der Staffelwechselpunkt und deshalb  viel los. 

In der beginnenden Dämmerung verwischen die Bilder, dabei ist der VP des THW wirklich für lustige Fotos wie geschaffen. Dann die Lahnwiesen: Die Studenten haben keine Ahnung, wie man richtig grillt.  Ein Einkaufswagen vom Lidl  ist jedenfalls nicht gut geeigent, Einmal-Alugrillschalen auch nicht, vor allem dann nicht, wenn man Wasser abkochen soll. Studenten wissen eh nicht, wie man „Wasser“ schreibt, das macht diese Stadt sympatisch.  

Dann Gisselberg. Den VP lasse ich auf dieser Runde links liegen und begebe mich wie jedes Jahr zum Fanclub von der Blutbank. Drei Läufer haben die heute am Start und für mich wie immer ein keimfreies Getränk. Nur eine Sache ist berühmter, als der Fanclub der Blutbank. Und das ist die 22 Jahre alte Bauruine von Gisselberg. Deren Besitzerin finanziert jetzt zwei „private Helfer“ aus einem Nachbarland, in dem man die Zähne nicht mit Wasser putzt.

 

 

Dann lerne ich Sivabalan Pandian aus Mumbai kennen, der seit drei Jahren nur noch abgekochtes Wasser trinkt und so 70 kg abgenommen hat. Ein Sixpack hatte er pro Tag getrunken. Ich frage „What?“ Er sagt: „Whiskey!“ Heute ist sein 48. Marathon und der  22. in Deutschland.  Letzte Woche ist er 4 Marathons in Amerika gelaufen. Mich beeindruckt seine Lebensfreude.  Er ist heute Morgen in Frankfurt gelandet und will am Sonntag „somewhere near Kiel“ einen Marathon laufen. Ich glaube, nur bei Marathons trifft man so durchgeknallte Typen. Und an den Verpflegungsstationen in Gisselberg.

Da werde ich auf meiner zweiten Runde brutal ausgebremst: Jungfrauenabschied. Deswegen brauche ich jetzt länger, bin ja nicht mehr der Jüngste. 

3 Minuten später bin ich wieder auf der Strecke. Am VP bekomme ich die Fußballergebnisse und ein Weizen. Das Leben ist doch nicht sooo grausam. Ich habe die richtige Sportart gewählt. 

Letzte Runde. Die Runden sind nicht identisch. Aber klasse ist, dass man jeweils nach 10 Kilometern aussteigen könnte. Immer vor dem Unistadion, vor dem Hirsefeldsteg, dort, wo die Kontrollliste abhakt wird. 

Ich bin alleine mit vielen Glühwürmchen, die meine Stirnlampe bespringen wollen. Manchmal meine ich reflektierende Teile von Laufklamotten zu sehen. Aber das sind die Glühweibchen, die auf dem Rücken liegen. Also laufe ich jetzt langsamer, aber ins Ziel. Eine Stunde nach mir kommt Andreas ins Ziel. Und das finde ich ganz klasse hier beim MANAMA, er kommt mit 6:40  in die Wertung. 

Von mir jetzt ein Gruß an die älteren Laufkollegen: Kommt zurück, lauft mit der Jugend, lauft mit mir!  24 Euro der Marathon, 14 der Halbe, hier wird niemand abgekocht!

 

Informationen: Nachtmarathon Marburg
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