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Laufberichte

Kultlauf am Kultberg

 

Berühmte Berge gibt es so einige. Man kennt ihre Namen, man weiß, wo sie liegen, doch fragt man, wie die steinernen Celebrities eigentlich aussehen, wird man häufig hören: ...äähm, wie ein Berg eben! Bei diesem einen Berg wird das nicht passieren: Den Monolithen mit der schlanken, krummen Spitze kennt und identifiziert jeder. Er ist der Inbegriff schweizerischen Bergkults, Sehnsuchtsziel selbst fernöstlicher Touristenscharen. Und tatsächlich: Wenn man diesem Berg in seiner ganzen Pracht zum ersten Mal live gegenüber steht, kommt man nicht umhin zu sagen: Wow! Vorausgesetzt, der Berg lüftet seinen Wolkenschleier. Denn in dieser Beziehung ist der Berg gleich einer Diva.

Das Matterhorn ist mit seinen 4.478 m nicht einmal der höchste Gipfel im Berner Oberland, dem 4000er-Revier der Schweiz, doch an Imposanz kaum zu überbieten. Fast 3.000 Meter überragt er, ganz für sich allein, Zermatt (1.616 m üNN), welches selbst wiederum fast schon klischeehaft als „das“ schweizerische Bergdorf gilt. Homogen schmiegen sich die vielen dunklen Holzhäuser in die Landschaft, benzingetriebene Autos hat man gleich ganz aus dem Ortsbild verbannt. Das pure Idyll.

Kein Wunder ist also, dass auch eine Marathonveranstaltung in diesem Umfeld zum Erfolg fast schon verdammt ist. Genau zehn Jahre ist es her, dass ich den Parcours, von St. Niklaus durch das Mattertal über Zermatt bis hinauf zum Riffelberg führend, erstmals erleben durfte. Dieser Kurs hat auch heute noch Bestand, wird aber seit 2013 regelmäßig durch die Ultravariante mit 3,4 km und 514 HM „on top“ bis zum Gornergrat auf 3.089 m üNN ergänzt. Zunächst nur als Special zum zehnjährigen Jubiläum 2011 gedacht, ist der 45,6 km-Ultra trotz aller Wetterrisiken zum festen Bestandteil des Laufprogramms geworden. Zugegeben: Auch für mich ist die Aussicht eines Zieleinlaufs auf dem Gornergrat, umgeben von der spektakulären Gletscherwelt des Monte Rosa-Massivs, der zentrale Motivator, ein längst überfälliges Wiedersehen mit Zermatt zu feiern.

 

Start in St. Niklaus

 

Das Matterhorn-Panorama bekommt man bei diesem Marathon nicht geschenkt. Sondern man muss es sich erlaufen. Von Zermatt aus hat man zwar einen fantastischen Bergblick, ohne sich auch nur im Geringsten anzustrengen. Aber um als Teilnehmer nach Zermatt zu kommen, muss man erst einmal einen halben Marathon bewältigen. Gestartet wird nämlich im 20 km entfernt und einen halben Kilometer tiefer gelegenen St. Niklaus.

 

 

Aus allen Himmelsrichtungen strömen die Läufer am Samstag durch das noch morgendlich verschlafene Zermatt dem Bahnhof entgegen und füllen die beiden Sonderzüge der roten Matterhorn-Gotthard-Bahn, die um 6:50 und 7:10 Uhr einen Großteil der Marathonis und Ultraläufer von Zermatt durch das Mattertal hinab zum Start nach St. Niklaus und damit von 1.606 m auf 1.058 m üNN bringt. Bei jeder Station vor St. Niklaus drängen weitere Läufer in den Zug, sodass er schließlich so gefüllt wie eine S-Bahn zur rush hour ist.

In St. Niklaus ist man bestens gewappnet auf den Läuferansturm. Vom Bahnhof wird der Strom auf die zentrale Dorfstraße gelotst, vorbei am Schulhaus, dem logistischen Zentrum. Hier bekam ich schon gestern die Startunterlagen und auch heute Morgen ist der Andrang beachtlich. Mit Wasser und warmem Tee werden wir selbst am Start versorgt, nur eine von vielen Kleinigkeiten, die das Bild einer perfekten Organisation abrunden. Unser aller Ziel: Der Startkanal auf der Talstraße. Ein imposantes Bild vor der umgebenden wolkenverhangenen Bergkulisse bieten die etwa 1.500 Starter, höchst international aus 50 Ländern angereist.

„Ready for countdown ...“ dröhnt es aus den Lautsprecherboxen. Elite- und Staffelläufer werden zuerst verabschiedet, ehe es auch für den Rest des Feldes um 8:38 Uhr heißt: „Go!“. Acht Stunden habe ich nun Zeit, den Gornergrat zu erreichen.

 

Im Galopp durch das Mattertal

 

Ein kurzes Stück weit folgen wir der Talstraße, dann dreht der Kurs gen Altstadt und begleitet von der Anfeuerungsrufen der Anwohner trappeln wir durch die engen Gassen, hinter dem Bahnhof aus dem Ort hinaus und hinein ins Grün. Damit wir gleich wissen, worum des geht, geht es ein paar Zickzackschleifen steil den Wald hinauf. Aber das Intro ist nur ein kurzes.

Für einen Berglauf überaus moderat geht es auf den ersten Kilometern dahin. Sie führen über den Asphalt eines schmalen Bergsträßchen nur leicht bergan. Vorbei an pittoresken Holzhäusern, durch Wiesen und Weiden geht es flott dahin. Die das Tal begrenzenden Bergwände, unten meist bewaldet, oben schroff und felsig, lassen aus unserer Perspektive noch nicht erahnen, zu welchen Höhen sie sich türmen. Auch wenn unten im Tal zunehmend die Sonne lacht, bleibt uns der Fernblick auf die schneeweißen Gipfel des Kleinen Matterhorns und des Breithorns am Horizont versagt. Zu tief hängt eine kompakte Wolkendecke über den Bergkämmen.

 

 

Wir passieren einen kleinen Stausee und schnell ist nach etwa 5 km der nächste Ort im Tal, Herbriggen, erreicht. Allerdings bekommen wir von dem Ort nicht viel mit. Aus dem Asphalt- wird ein Schotterweg und dieser mutiert wenig später zum Naturpfad, der durch kleine Waldstücke und am milchig dahin rauschenden Gletscherflüsschen Vispa entlang führt. Kurz vor km 7 hält eine längere Steigung eine erste echte konditionelle Herausforderung für uns bereit. Ab km 9 können wir uns auf einer langen, flachen Asphaltpassage aber schon wieder erholen. Rechts von mir sehe ich die gewaltige Gerölllawine, die ein Bergsturz vor etwa 25 Jahren hinterlassen hat.

Mit Randa kurz hinter der 10 km-Marke erreichen wir den nächsten Ort. Postkartencharme habenden die hübschen Häuschen dieses idyllischen Weilers mit der kleinen Kirche mittendrin Durch üppig grüne Wiesen und kleine Waldstücke folgt die Strecke zeitweise dem Verlauf der Hauptstraße durch das Tal. Ab und zu nähern wir uns der Bahntrasse an und ich entdecke die „Fahrende Tribüne“, einen langsam dahin zockelnden Sonderzug für Begleitpersonen, die aus den Fenstern heraus gelehnt den Läuferstrom beobachten und eifrig herüberwinken.

Täsch, der letzte mit dem Auto erreichbare Ort vor Zermatt bei km 15, ist unsere nächste Station. Von den großen Parkplätzen und dem modernen, gemessen an der Ortsgröße fast schon monumentalen Bahnterminal im Ortszentrum, bekommen wir allerdings nichts mit. Wir durchlaufen nur den locker bebauten, beschaulichen Ortsrand. Gespannt bin ich schon auf den folgenden Streckenabschnitt, denn die Bahntrasse zwischen Täsch und Zermatt ist zum großen Teil eingehaust. Und tatsächlich hält dieser Streckenabschnitt Überraschungen bereit.

Bei km 17 wechseln wir plötzlich vom Asphalt auf einen schmalen Pfad, der uns in waldiges, stark profiliertes Gelände und - eine Holzbrücke querend - über eine wunderschöne Schlucht führt, die die wild rauschende Vispa tief ins Gestein gegraben hat. In kurzen Serpentinen geht es durch dichte Natur recht steil bergauf und schließlich über einen wurzeligen Trail parallel und oberhalb der eingehausten Gleise der Matterhorn-Gotthard-Bahn die bewaldete Bergflanke entlang. Gar nicht mehr weit weg erspähe ich die ersten Ausläufer Zermatts. Quasi durch die Hintertür führt uns der Pfad mitten in den Ort hinein, und zwar direkt ins Gelände des Güterbahnhofs.

 

Halbzeit in Zermatt

 

Fast die Hälfte der Strecke ist geschafft, aber erst etwa ein Viertel der insgesamt etwa 2.400 Höhenmeter bis zum Ziel auf dem Gornergrat. Gerade einmal gut zwei Stunden bin ich unterwegs und die Neigung übermütig zu werden, wird gefördert durch den tosenden Empfang am Bahnhofsausgang. So international das Läuferfeld ist, so international ist auch das Publikum. Eine Skandinaviergruppe kann sich schier gar nicht beruhigen.

Dennoch gönne ich mir eine etwas ausgiebigere Rast an der hier besonders üppig ausgestatteten Verpflegungsstation, weiß ich doch, dass das erst der Prolog war. Alle 5 km auf der ersten Hälfte und dann mit zunehmender Streckenlänge alle 4 bzw. 3 bzw. 2 km auf der zweiten Hälfte werden wir von einem Helferheer umsorgt. Wasser und Iso-Getränke gibt es überall, Cola, Bananen und Energie-Riegel an den meisten Stationen, daneben Gels und Bouillon. Einfach perfekt.

 

 

Via Bahnhofsstraße, der Flanier-, Ausgeh-  und Shoppingmeile der Stadt, queren wir Zermatt in voller Länge. Der Zuschauerrummel verebbt schon bald und nur zweihundert Meter weiter erregt der Marathon kaum noch Aufsehen. Wir passieren einige der altehrwürdigen, edlen Hotelpaläste Zermatts wie das Mont Cervin Palace und das Grand-Hotel Zermatterhof, kurz darauf eines der pittoresken alten Viertel mit seinen typisch dunklen, auf Pfeilern und Steinplatten gelagerten Holzhäuschen.

Wir erreichen wieder die Vispa, den uns schon bekannten Gletscherfluss, der Zermatt an seiner tiefsten Stelle durchströmt. Ein Wanderweg führt uns nahe der Vispa aus Zermatt heraus. Und hier  sollte uns eigentlich der Berg der Berge erstmals optisch begrüßen. Eigentlich. Vor zehn Jahren war es so, aber heute ist im Wolkendickicht nicht einmal im Ansatz erkennbar, wo sich die Flanken des Matterhons ab hier noch weitere 2.880 HM in die Lüfte erheben. Vielleicht später, denke und hoffe ich. Von Zermatt verabschieden müssen wir uns noch nicht, denn der Weg führt uns nach einer etwa zwei Kilometer langen Schleife über Almen und durch schattige Wäldchen am Uferweg der Vispa entlang nach Zermatt zurück. Die letzten unbeschwerten flachen Meter dürfen wir hier genießen. Ich weiß schon: Jetzt ist die „Schonzeit“ zu Ende.

Kurz vor km 25 ist es so weit. Zunächst noch über Asphalt und vorbei an zahlreichen in den Hang gebauten Hotels, alle mit unverbautem Matterhorn-Blick, dann auf einem breiten Schotterweg durch schattige Arvenwälder geht es in vielen Kurven bergauf, gar nicht mal übermäßig steil, aber dafür permanent. Und das für die nächsten fünf Kilometer. Hier trennt sich recht schnell die Spreu vom Weizen. Schon bald muss ich mir eingestehen, wohl der Spreu anzugehören, auch wenn es nicht so weit geht, dass ich, wie eine dänische Läuferin, angesichts der Dauersteigung in einen Heulkrampf zu verfallen Immer wieder wende ich einen verstohlenen Blick zum östlichen Horizont. Aber das ist einfach nichts. Immer tiefer unter mir liegt Zermatt und das Mattertal. Und immer weiter reicht der Blick auf und über die umgebende Berglandschaft. Nur die „richtigen“ Berge, die sind einfach nicht dabei.

 

Via Sunnegga durchs Gletschertal

 

Bei km 30 enden die Serpentinen und der Weg mündet in eine lange, endlich wieder flachere Gerade, die zunehmend in offenes Gelände und über blühende Almwiesen weg vom Mattertal und hinein ins Skigebiet Sunnegga führt. Einsame Gehöfte und romantische Berggasthöfe fügen sich harmonisch in die uns umgebende alpine Landschaft. Ein besonders schönes Rundumpanorama bietet uns der Versorgungsposten nach 32 km, in luftiger Höhe auf einem felsigen Pass (2.300 m üNN) gelegen. Auch wenn das Wolkengebälk nach wie vor alle Riesen verdeckt, so hat das Licht-Schattenspiel, das Sonne und Wolken auf den sichtbaren Teilen der Berghänge zaubern, seinen ganz eigenen Reiz.

 

 

Jenseits des Passes ändert sich das Umgebungsbild ebenso wie das Streckenprofil. Weite Wiesenteppiche überziehen die Berghänge, dazwischen ist nur noch spärlich Baumbewuchs auszumachen. Die Laufstrecke führt über einen schmalen, aber gut zu belaufenden Bergpfad, bergab in Richtung eines kleinen Sees. Der Grünsee ist bekannt für sein Matterhornpanorama im spiegelnden Wasser. Aber lassen wir das Thema. Bis nahe ans Ufer geht es im Sauseschritt hinab, endlich habe ich mal wieder das Gefühl von Tempo. Lange währt der Geschwindigkeitsrausch aber nicht und die nächste saftige Steigung lässt mich in den alten Trott verfallen. Aber da bin ich nicht allein.

Das Steilstück währt gerade mal einen Kilometer. Dann werden wir erlöst und dürfen wieder Gas geben und über Stock und Stein den Windungen des Pfades bergab folgen. Überrascht bin ich, nicht nur einmal japanischen Wandergruppen zu begegnen, die in Reih und Glied entlang des Weges Spalier stehen und freundlich lächelnd die Läufer wild beklatschen. Und noch mehr freuen Sie sich, als ich den Spieß umdrehe und sie fotografiere.

Besonders eindrucksvoll ist der Blick in den fast vegetationslosen, mondlandschaftartigen Talschluss, in dem sich der graue Felsschutt vor den Resten des in den Talgrund fließenden Findelgletschers türmt. Allerdings leidet der Eindruck ein wenig unter der breiten Schotterstraße, die uns schließlich hinab in den Talgrund und vorbei an einem Steinbruch im einsamen Talschluss führt.

Auf der anderen Talseite, in umgekehrter Richtung, wird die Landschaft schnell wieder lieblicher: Grüner, waldiger - und felsiger. Lichter, hoher Nadelwald und viel Geröll mit großen Felsbrocken prägen die unmittelbare Umgebung, entsprechend steinig ist der vielgewundene Pfad. Bäche kreuzen den Weg und wir müssen von Stein zu Stein springen. Immer wieder eröffnen sich weite Panoramablicke auf die vergleichsweise kahle gegenüber liegende Talseite. Soweit man nach 37 km in den Beinen davon überhaupt noch sprechen kann, darf man hier echtes Genusslaufen in wundervoller Umgebung genießen, wozu natürlich auch beiträgt, dass es kaum Steigungen gibt.

 

 

Fast wie aus dem Nichts stehe ich auf einmal kurz nach 38,5 km vor den Gleisen der Gornergratbahn, jener legendären wie traditionsreichen Zahnradbahn, die Zermatt mit dem 3.100 m hoch gelegenen Gornergrat verbindet. Wir müssen die Gleise überqueren und über eine Treppe zum Bahnsteig hochsteigen, wo uns der Applaus eines wartenden Zuschauerpulks empfängt. Und gemütlich geht es durch den Wald erst auch noch weiter, bis wir bei km 39,1 die auf 2.222 m üNN gelegene 5-Stern-Nobelherberge Riffelalp erreichen, wo die Hotelgäste entspannt von ihren Liegestühlen vom penibel gepflegten Garten aus das Treiben beobachten und Guggenmusik gute Laune verbreitet. Die braucht man auch. Denn hier, am Waldessaum, weitet sich der Horizont. Und das, was man zu sehen bekommt, wird dem, der unvorbereitet ankommt, ein tiefes Gefühl der Ernüchterung bescheren.

 

Aufstieg zum Riffelberg

 

Den weiteren Verlauf unserer Laufstrecke durch das offene Gelände sieht man eigentlich perfekt. Nur das Streckenprofil, das wird den wenigsten gefallen. Denn in einem überaus steilen Bogen, zum großen Teil dem Verlauf der Bahnstrecke der Gornergratbahn folgend, schwingt sich der Kurs einem Schotterweg folgend über den kahlen Hang hinauf in den Himmel. Eine kleine Ewigkeit scheint der Riffelberg von der Riffelalp aus betrachtet noch entfernt zu sein. Nicht gerade dezent sind die massiven Einhausungen, die hoch oben auf dem letzten Abschnitt der Trasse die Bahn vor Lawinen schützen, aber beeindruckend sind sie allemal.

 

 

Nüchtern in Zahlen erwarten uns: 360 Höhenmeter auf den letzten beiden Kilometern bis zum Marathonziel auf dem Riffelberg (2.582 m üNN) , 875 Höhenmeter auf 5,4 km bis zum Ultraziel auf dem Gornergrat. Aber es hilft nichts: Da muss ich durch und so füge ich mich in mein Schicksal. Im Schneckentempo tapse ich den staubigen Weg hinauf. Den anderen geht es nicht besser. So wenig attraktiv diese Passage für sich betrachtet sein mag, so imposant ist der Fernblick mit zunehmender Höhe. Doch weiterhin durch Abwesenheit glänzt das Matterhorn. Tja – die Hoffnung sinkt, das wird wohl nichts mehr.  Nach einem finalen Steilstück über eine Rampe scheint das Marathonziel zum Greifen nah.

Schon kann ich den Lärm und die Musik im Ziel auf dem Riffelberg, die Stimme des Zielmoderators hören, sehe Menschenhorden, die die Hänge rund um das Berghaus bevölkern. Aber zu früh freuen darf man sich nicht: Denn als finales „Zuckerl“ dürfen die Marathonis noch eine steile Schleife, weg vom Ziel und hinaus in die Weite der Bergwelt, auf einem wappenfähnchengesäumten Pfad absolvieren. Und die Ultraläufer mit ihnen.

42 km sind bewältigt, als ein auffallendes grün-rotes Banner vor mir auftaucht: Der Pfeil im Grünen weist nach links, verheißt „Hoffung“ für die Marathonläufer im Hinblick auf das nahe Ziel. Der Pfeil nach rechts im Roten signalisiert dagegen: Achtung, Ultras, das wird hart – wollt ich Euch das wirklich antun? Ich gebe zu, dass in mir schon ein gewisser Neid aufkommt, nicht zu denen zu gehören, die es geschafft haben. Auch der Ausblick nach oben ist wenig motivierend: Es ist nur düster, kahl, kalt und windig. Wer will, kann auch als Ultra vorzeitig ins Ziel abdriften und als Marathoni finishen. Dieser Versuchung erliege ich aber dann doch nicht.

 

Und weiter hoch zum Gornergrat

 

Wie andere Läufer nutze ich die Gunst des einsamen Versorgungsposten vor dem Banner, kleidungsmäßig aufzurüsten. Mütze statt Cap, ein langärmeliges Shirt dazu – eine gute Entscheidung. Die beste aber: Den finalen Aufstieg zum Gornergrat zu wagen. Denn was ich hier sehen und erleben darf, ist, um es vorweg zu nehmen, einfach sensationell. Auch ohne Matterhorn.

 

 

Erwartungsgemäß tauchen wir zunächst ein in die Einsamkeit einer naturleeren Landschaft. Keine Bäume, keine Büsche, nur karge Matten gedeihen auf dem felsigen Boden. Grau und schroff türmen sich die Felsen dazwischen. Passend dazu ist auch das Band der Läufer, das über einen ausgesetzten Pfad mäandert, deutlich ausgedünnt. Die Gestalten verlieren sich in der Weite und bewegen sich scheinbar in Zeitlupe fort. Wir tauchen ein in die Wolken, aus den eiskalten Schwaden rieselt Schneegriesel. Und das im Juli! Aber der Wind hat auch sein gutes: Er treibt die Wolken, öffnet Blickfelder und lässt mit zunehmender Höhe auch der Sonne Raum. Gewaltig sind die Bilder, die sich am fernen Horizont öffnen: Ich blicke auf Schneefelder und Gletscherzungen, finstere Bergriesen, wolkenumwabert, in immer neuen Perspektiven.

Ein einsamer Bergsee liegt am Weg und hoch droben, am Rotenboden (2.815 m üNN) bei km 44,4, erwartet uns tatsächlich noch eine Verpflegungsstelle. Ein Hoch auf die Helfer, die hier ausharren, aber auch die vielen Bergwachtler, die immer wieder am Weg kauern und aufpassen, dass keines der „Schäflein“ vom rechten Weg abkommt.

Es klar immer mehr auf, die Sonne bricht durch, das Panorama wird immer gewaltiger. Ich weiß: Gegenüber blicke ich auf die Hänge und Gletscher des Monte Rosa Massivs. Die Dufourspitze, mit 4.634 m üNN der höchste Schweizer Berg, kann ich zwar nicht eindeutig ausmachen, Aber der Eindruck ist auch so einfach überwältigend. Grönland, Island, das sind die Landschaften, die ich mit dieser Wildnis assoziiere. Kein Wunder, dass ich mehr mit Fotografieren als mit Marschieren beschäftigt bin.

 

 

Mitten durch die Ödnis sehe ich immer wieder Züge der Gornergratbahn tingeln – die Gleise und die „Zivilisation“ sind nie wirklich weit. Hoch und höher geht es, langsam aber beständig. fangen die Wolkengebirge wieder an, über die Felsgebirge zu dominieren. Da wird am Horizont hoch oben ein burgartiger Bau mit Kuppeltürmen sichtbar: Mit 5 Sternen lockt das Kulm-Hotel Luxustouristen. Und nun die Läufer.

 

 

 

Im Ziel - in 3.069 Meter Höhe

 

Eine letzte Steigung ist zu überwinden, in der Höhe mittlerweile ein kleiner Kraftakt, dann ist es geschafft. Das Gefühl, in fast 3.100 m Höhe unter dem Zielbogen einzulaufen, ist überwältigend.

 

 

Sofort werden wir in Folie gepackt, denn im kalten Wind würden wir sofort auskühlen. Auch hier ist für alles gesorgt: Verpflegung, Getränke, Massage und vor allem warme Innenräume. Ein paar zugige Momente auf der Aussichtsplattform lasse ich mir aber nicht entgehen. Und während ich hier ausharre, schließt sich der Wolkenvorhang endgültig, ist die „Show“ beendet. Ein gutes, nein: tolles Gefühl bleibt, diese Show bis zum Ende miterlebt zu haben.

Per Lift sind es nur ein paar Meter, schon sitze ich in der Zahnradbahn, die mich entspannt zum zentralen Zielgelände auf dem Riffelberg hinunter schaukelt. Sonnig und geradezu warm ist es dort unten. Noch ganz im Eindruck der finalen Passage auf den Gornergrat stehe ich, sodass ich das weiterhin durch Abwesenheit glänzende Matterhorn fast vergesse.

Die Hoffnung habe ich schon aufgegeben, aber die Rechnung ohne die Diva gemacht. Unten im Tal, auf dem Weg zum Hotel bin ich, als eine Gruppe Chinesen ganz aufgeregt die Kameras zückt. Was ist los? Die Diva lüftet ihr Kleid. Nur für wenige Minuten. Und ich bin dabei. Was für ein Finale.

 

 

 

 


 
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