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Laufberichte

...eines Tages komme ich zurück, frisch, mit zwei Armen

26.08.07
Lieber Bovine, eines Tages komme ich zurück, bei Tag, frisch, mit zwei Armen, und dann kannst du dich warm anziehen!

 

Langsam, gaaanz langsam tippe ich diesen Bericht und zwar mit links, weil der rechte Arm geschient und damit stillgelegt ist. Doch dazu später.

 

Ich bin immer noch überwältigt von diesem "brutal schönen" Abenteuer. Schön was die Aussicht und die technischen Parts angeht, brutal was die Müdigkeit nach 40 und mehr Stunden Nonstop-Lauf mit einem macht.

 

Langsam, gaaanz langsam komme ich von diesem Trip wieder runter.

Der UTMB


Der Ultra Trail du Mont Blanc (UTMB) ist ein 163 Kilometer langer Trail-Lauf mit +/-8.900 Höhenmetern. Es handelt sich bei diesem größten und längsten Ultra-Bergrennen Europas (einige sagen sogar der Welt) um einen Rundkurs um das Mont Blanc Massiv. Gestartet wird in Chamonix in Frankreich, danach geht es über 9 Berge durch Frankreich, Italien und die Schweiz bis zurück nach Chamonix.

 

Die Wege haben überwiegend Trail-Character, d.h. unwegsames Gelände oder steinige Pfade sind die Regel. Kilometerlange Anstiege und Bergabpassagen mit Steigungen und Gefälle zwischen 25-35% zeichnen die Strecke aus.

 

Es gilt ein Zeitlimit von insgesam 46 Stunden, wobei in einzelnen Ortschaften Zwischenzielzeiten gelten, sog. "Barrieres horaires" oder "Cut off's", die bei Zeitüberschreitung zum vorzeitigen Ausscheiden führen.

 

Die Läufer müssen über eine Pflichtausrüstung bzgl. Kleidung, Nahrung und Notfallequipment verfügen - ein Rucksack ist also obligatorisch.

 

Gestartet wird Freitag abends um 18:30 Uhr, was für das Gros der rund 2000 Teilnehmer bedeutet: 1 Nacht, 1 Tag, 1 Nacht und je nach Leistungsvermögen dann noch einige Stunden durchlaufen.

 

Im vergangenen Jahr (2006) lag die Ausfallquote bei 62%. In diesem Jahr musste man zur Qualifikation erstmalig Erfahrung bei anderen Trail-Rennen nachweisen; ein medizinisches Untersuchungszeugnis ist ebenfalls vorzulegen. Die Startplätze waren in diesem Jahr (2007) nach 10 Stunden ausverkauft!

 

Anfahrt


Die Anreise mit dem Auto ist kurzweilig und angenehm. Wir sind zu dritt: Martin, Mattias und ich - alles UTMB-Ersttäter. Jeder erzählt, was er bislang über den Lauf weiss und wie die Vorlieben für Ausrüstung und Kleidung sind. Die Chemie stimmt, Staus gibt es keine, also ideale Reisebedingungen um Deutschland hinter uns zu lassen, die Schweiz zu durchqueren und letztendlich im französischen Chamonix am Fusse des Mont Blanc zu stoppen.

 


Rechtzeitig gegen 16:00 Uhr erreichen wir die Hallen der Organisation zur Erledigung der Formalitäten. Die Startnummernausgabe ist gekoppelt an eine Kontrolle der Pflichtausrüstung. Neben langer Kleidung und Regenjacke - im Gebirge kann das Wetter schneller umschlagen, als die Vorhersage lügen kann - gehören auch Wasser, Nahrung, Trillerpfeife, Stirnlampen, Überlebensdecke und andere Kleinigkeiten dazu.

 

Gar nicht einverstanden zeigt sich die Kontrolleurin von meiner gewichtsparenden Interpretation eines Stützverbandes. In der Ausschreibung stand "adhäsive elastische Binde für einen Notverband (minimum 80cm x 3cm)" und ich präsentiere eine kleine, genau abgemessene grüne Mullbinde.

 

Ich bekomme die Zulassung erst, nachdem ich 1000 Eide schwöre zur Pharmacie zu gehen und dort eine Variante zu kaufen, die sie mir auf einem Zettel vermerkt. Sie persönlich will an der Strecke stehen und unterwegs Stichproben der Ausrüstung nehmen. Mein Gesicht würde sie sich merken. Wenn die gute Frau wüsste, mit wieviel Dankbarkeit ich mich später noch an ihre Sturheit erinnern sollte.

 

Meine fehlende Kappe, die im Auto liegt, lassen sie so durchgehen und wir erhalten Leih-Chips zur Zeiterfassung, Kleiderbeutel und ein Funktionsshirt zum posen.

 

Gesagt getan lasse ich mich von Martin an der Fußgängerzone von Chamonix absetzen und kaufe nach Vorlage des Einkaufzettels in einer Apotheke selbstklebenden Verband, wie ihn die Doc Trotters bei Wüstenläufen verwenden; teuer und gut.

 

Ein Telefonat später treffe ich wie verabredet Eric, und nach einem ausgiebigen Nudelgericht fahren wir gemeinsam zu unserem Quartier, der "Hütte" in Emosson auf der Schweizer Seite des Tals.

 

Emosson (CH), 2000HM, Freitag 07:00 Uhr


  
Die Sonne taucht den Mont Blanc in orangenes Licht. Dahinter blauer Himmel - Kaiserwetter. Es bleibt reichlich Zeit zum frühstücken, Postkarten schreiben und Ausrüstung vorbereiten. Die 30L Drop Bags werden für die Etappenstationen Courmayeur (I) und Champex (CH) gepackt. Dort ist ein Kleiderwechsel und das Nachfüllen der Riegelvorräte angesagt.

 

Ein paar letzte Fotos in voller Montur, dahinter das Bergmassiv; der Blick ist frei und lässt die Weite und die Entfernungen erahnen. Eine Mischung aus Respekt, Schiss und Galgenhumor kommt auf. Letzte Telefonate.

 

Schliesslich fahren Eric und ich gegen Mittag ins Tal nach Chamonix zurück. Hier geben wir die Drop Bags in einer Turnhalle ab und schwenken hinüber zur Nudelparty im Festzelt. Die Franzosen wissen, wie man 2000 Leute abspeist, und trotzdem Stil bewahrt: Vom flambierten Nachtisch bis zum Rotwein ist alles da.

 

Wir treffen Hugh und Tom (mit letzterem habe ich beim Deutschlandlauf 2006 viele Kilometer verbracht), essen gemeinsam und tauschen die Laufgeschichten des Jahres aus. Tom ist einer von 11 Teilnehmern, die alle 4 bisherigen UTMBs gefinished haben. Für jeden Zieleinlauf hat er jeweils ein UTMB-Logo auf dem Oberarm tätowiert, der Tätowierer soll also wieder seinen Terminkalender zücken.

  

Danach geht es zum ausruhen auf eine nahegelegene Wiese. 1h vor Startbeginn schlendern wir Drei schliesslich zum Startplatz vor der Kirche, der bereits jetzt überfüllt ist.


Chamonix (F), 0km, 1035HM, Freitag 18:30 Uhr, Laufzeit: 00h00min

    
Ausnahmezustand! Kein anderer Begriff umschreibt die Stimmung besser für das, was sich hier abspielt. Franzosen, Italiener, Deutsche mit durchtrainierten Waden und abenteuerlichen Ausrüstungskomponenten bevölkern den Platz vor dem Startbogen, der aus allen Nähten zu platzen droht. Trinksysteme, gefährlich am Rucksack montierte Stöcke, ja ein Italiener trägt sogar einen DVD-Recorder vor der Brust und hat eine Mini-Camera an der Schirmmützte festgeklebt. Er will das ganze (!) Rennen mitfilmen.

 

Rechter Hand der Mont Blanc, dessen Gletscher bis zu uns ins Tal hinunterreicht, vor uns Videoleinwände mit Einspielungen vergangener UTMBs und Werbung. Mitten im Chaos findet uns Klaus von marathon4you.de und auch Bernhard, der bereits mehrfach Reunion gefinished hat.

 

Es ist soweit. Nachdem die letzten Grussworte von Irgendwem abgelesen sind (gähn) geht es endlich, endlich los. Vangelis ertönt aus den Lautsprechern und ab dafür!

 

Der Gedanke, dass ich tagsüber vielleicht doch besser noch ein Stündchen mehr Schlaf genommen hätte, verfliegt. Adrenalin pur - Chamonix, seine Einwohner, Verwandte, Helfer, Schaulustige ... sie alle peitschen uns aus dem Ort und tatsächlich findet man hinter dem Ortsausgang genügend Platz um vom Gehen in den Laufschritt zu wechseln.

 

Die Passage ist wenig aufregend und verläuft - mal auf, mal ab - in Wellen aber stetig leicht bergab. Einlaufen und vorsortieren für den ersten Aufstieg.

 

Les Houches, 8km, 1012HM, keine Stunde nach dem Start


Der erste Verpflegungsstand. Wie befürchtet ist hier die Hölle los, denn noch ist das Läuferfeld zu dicht beieinander. Vorsorglich habe ich 0.5L Wasser extra eingepackt, um hier vorbei zu laufen. Das Ziel: Möglichst weit vorne im Stau am ersten Anstieg sein. Die wahrscheinlich einzige Asphaltpassage während des gesamten UTMB verleitet mich am Rucksack zu nesteln, statt auf die Strasse zu schauen, und - zack bumm - liege ich der Länge nach auf der Strasse.

 

Na toll! Noch kein einziger Berg unter den Schuhen, aber Arm und Handgelenk im Eimer. Schmerzen! Ich rappel' mich wieder auf, versichere den besorgten Mitläufern, dass alles "ca va!" ist und ärgere mich über mich selbst. Verstaucht? Geprellt? Na irgendwie wird es schon gehen... hier darf es auf keinen Fall enden, soviel ist klar!

 

Bei Kilometer 9 dann der Aufstieg zum Col de Voza - der erste Berg. 800 Höhenmeter verteilt auf 5 Kilometer, erster Stockeinsatz. Nur mit zusammen gebissenen Zähnen lassen sich die Haltegummis am Rucksack lösen um an die Leichtmetallstäbe zu kommen. In den Fingern der rechten Hand habe ich keine Kraft, kann aber den Stock gerade halten und zum Vortrieb nutzen. Drehbewegungen hingegen werden sofort mit Schmerzen abgestraft. Tja Prellungen sind nunmal schmerzhaft.

 

Apropos Stöcke: Wie jemand im weiteren Verlauf den UTMB finished, ohne Stöcke - besonders bei den Bergabpassagen - wird mir immer schleierhaft bleiben! Ohne Piekser habe ich maximal 1-2 % der "coureurs" gesehen.

 

La Charme, 14km, 1800HM, Freitag 20:50, 02h16min


Die Abendsonne taucht die Berge ringsum in ein warmes Orange und verabschiedet sich gleich. Die Strecke ist nicht zu verfehlen. Zum einen zeigen insgesamt ca. 5000 gelb reflektierende Markierungen den richtigen Weg an, zum anderen reißt die Kette der Teilnehmer nicht ab, die mittlerweile alle ihre Stirnlampen aktiviert haben und so eine Glühwürmchen-Kette bilden. Bergauf interessant, weil's den weiteren Verlauf in den bewaldeten Hängen anzeigt, bergab befriedigend, weil die ewig lange Leuchtschlange den Vorsprung zu den Cut Off Zeiten anzeigt. Eric und Tom hatten recht: Ein atemberaubendes Schauspiel.

 

Es wird kühl und still. Die Gespräche ebben ab und weichen ringsum keuchendem Atem. Vor mir sehe ich nur Waden und Trailschuhe, die den richtigen Tritt suchen; ich folge ihnen blind.

 

Der erste von 9 Bergen ist geschafft. Doch was nun folgt ist erst der Vorgeschmack auf eine Neudefinition von Steil und Abstieg. Die Zehen rutschen in den noch zu grossen Schuhen (die passen erst ab Kilometer 50-60 richtig) nach vorne; leichte Blasenbildung zischen "Dickem Onkel" und "Zeigezeh". Die Oberschenkel wandeln Fallgeschwindigkeit in Bremswärme um.

 

Verdammt - in 4 Kilometern 800 Höhenmeter verlieren. Bloss nicht stolpern oder umknicken jetzt. In der Dunkelheit fliegen bestimmt 2-300 Franzosen an mir vorbei. Entweder sind sie schmerzbefreit oder einfach wahnsinnig. Immer waghalsiger werden die Schrittfolgen talwärts, durch ausgewaschene Wege, über glatte Wiesen und schlussendlich auch noch Treppenstufen.

 

Saint-Gervais, 20km, 807HM, Freitag 21:46 Uhr, 03h12min

 
Vorbei an der Zeiterfassung, mit dem Leihchip auslösen und dann durch den Verpflegungskanal. Getränke, endlich. Die 1.5L Wasservorräte sind alle und Nachschub dringend nötig! Wie die Wilden langen wir nach den Wasserflaschen und bevorraten uns. Ich grabsche ein paar Stücke feinsten französischen Käses, Wurst und Weissbrot, da treffe ich Tom. Es geht ihm super, mir bis auf den Arm auch, und so rauschen wir ohne langen Aufenthalt weiter. Die Stimmung im Ort 1a, schon fast eine Spur zu laut.

 

Damit das folgende Flachstück nicht zu langweilig wird, müssen wir zum überqueren der Hauptstrasse sogar eine eigens für den Lauf konstruierte Fussgängerbrücke erklimmen. Flach können die hier wohl gar nicht. Im Laufschritt gehts hinaus Richtung Les Contamines.

 

Wenn nötig gehen, wenn möglich laufen - so unser Motto. Tom und ich überholen recht ordentlich, aber der Arm wird immer schlimmer. "So eine Prellung kann echt übel weh tun!" alle weiteren Ursachen schliesse ich kategorisch aus. Im Licht eines Bauernhauseingangs bitte ich Tom, mir beim anlegen eines Klebe-Verbandes zu helfen. Dieser unterbindet die unangenehmen Drehbewegungen - fühlt sich schon besser an. Gesegnet sei die Kontrolle der Pflichtausrüstung!

 

Les Contamines, 30km, 1150HM, Freitag 23:38 Uhr, 05h04min


Die nächste Verpflegung. Wer hier nach 00:45 Uhr ankommt fliegt raus (Barrieres horaires - Cut off), also gut eine Stunde Puffer. Luft holen vor dem zweiten ernsten Anstieg zum Zweieinhalbtausender Croix de Bonhomme - Kreuz des guten Mannes?!?

 

Im Grunde treffe ich immer auf die gleichen Teilnehmer, durch Zufall auch wieder auf Tom, der bergan stets mit längeren Schritten davonzieht. Ich dagegen spare an den Verpflegungen Zeit ein, da meine Wasser-Flaschen schneller befüllt werden, als die sehr verbreiteten Trinkblasen. Außerdem raste ich nicht, sondern stopfe im Gehen ein paar Brote mit Käse in mich hinein, schlürfe etwas Suppe und eile dann weiter.

 

Eine Strasse führt hinaus aus dem Örtchen, so steil, dass viele Läufer ihre Stöcke einsetzen und mit hundertfachem "tacktacktack" die Stille durchlöchern. Dank fehlender Beleuchtung in den Bergen kann man den Sternenhimmel bewundern. Ein Blick zurück auf die Stirnlampen-Kette - Schauer jagen über den Rücken. Leider bekomme ich dieses Spektakel nicht fotografiert.

 

Die Steigung nimmt mächtig zu bis schliesslich Lichterketten die nächste Berghütte ankündigen.

La Balme, 38km, 1706HM, Samstag 01:05 Uhr, 06h31min


1h45min Puffer auf die Cut off Zeit - Super! Trotzdem melden sich erstmalig die Oberschenkel und sagen mir: "Die 3 Wochen Regeneration seit dem 6-Tage-Lauf in Erkrath waren doch etwas knapp."

 

Suppe, Cola, Flaschen auffüllen, Tom treffen, Jacke anziehen weil's kälter wird. Gleich nach der Hütte lädt ein Lagerfeuer zum aufwärmen ein, doch ich kann mich beherrschen und eile weiter hinauf zum ...

 

Croix du Bonhomme, 43km, 2479HM


In 5 Kilometern fast 800 Höhenmeter bergauf. Hier und da muss man schon konzentriert auf den Weg, die Felsen und einige Bachquerungen achten. Kaum jemand überholt mich, Luft und Kraft sind ausreichend vorhanden - noch. Schmerzhaft ist nur, wenn ich mit dem rechten Stock un einer Felsspalte hängen bleibe und den Arm beim herausziehen verdrehe.

 

Der Aufstieg macht mir keine Sorgen, vielmehr der nun folgende Abstieg mit nahezu 1000 Höhenmetern auf 6 Kilometern. Ich bin ein grottenschlechter Bergabläufer und verfluche den Berg, die Bachbett-ähnlichen Wege mit Geröll, die schmierseifenglatten Wiesenabschnitte und meine Fußsohlen. Links und rechts stürzen todeshungrige Trailer an mir vorbei ins Tal. Entweder haben sie zuviel Raumpatroullie ("Hasso, Artan, Rücksturz zur Erde!") gesehen, oder kennen keinen Morgen.

 

Aus dem Tal erklingt Pink Floyd "Whish you where here" - passt wie die Faust auf's Auge. Eine Live-Band beschallt die Berge mit Musik aus den 60er und 70er Jahren. Was für ein Einsatz mitten in der Nacht; die Zuschauer und die Läufer freut's, und ich "whish" dieser Wiesenabhang würde endlich ein Ende finden.

 

"Bravo Jean..s! Allez! Bon Courage!" - "Merci!"

 

Les Chapieux, 49km, 1549HM, Samstag 04:06 Uhr, 09h32min


Cut Off in 2,5h - das Polster wächst. Läuft doch! Der Stirnlampenhersteller Petzl hat einen besonderen Service neben der Verpflegung, den ich nutze: Kostenloser Batteriewechsel mit freundlicher Bedienung. Während ich die Vorräte auffülle und etwas esse, fallen mir all die bemühten Helfer auf, die auch zu dieser Nachtzeit noch freundlich sind, wissen wo was steht, beim B11:42 05.09.2007 efüllen mit anpacken. Sagenhaft. Hier steht eine Region hinter der Sache, wie ich es noch nirgenwo erlebt habe.

 

Den folgenden, dritten Berg - wieder ein Zweieinhalbtausender - lasse ich ruhig angehen. Schritt für Schritt, kleine Schrittweite dafür keine Pausen - so wie ich es damals in den Bergen als Kind von meinem Vater gelernt habe - geht es bergauf Richtung italienischer Grenze. Es dämmert.

 

Col de la Seigne, 59km, 2516HM, Samstag 07:19 Uhr, 12h45min


Schon von weitem sind die gelben Expeditionzelte des Hauptsponsors zu erkennen. Nach gut 3 Stunden gehören weitere 10 Kilometer und gut 1000 Höhenmeter der Vergangenheit an. Wie sich diese Kilometerschnitte wohl im Internet lesen. Ein paar Bekannte aus den Foren verfolgen die Zwischenzeiten, die online abrufbar sind, rund um die Uhr.

 

Der Arm hat sich beruhigt, solange ich ihn nicht drehe. Umziehen oder pinkeln wird jedoch zur Qual. Bergab kann ich mich nur mit dem Stock der linken Hand abstützen. Kurzerhand entferne ich sogar den Schlamm/Schneeteller rechts, weil er immer wieder in irgendwelchen Felsspalten hängen bleibt.

 

Die Sonne erhellt das vor uns liegende Tal und malt die verschneiten Bergspitzen rundum wieder orange an. Ich könnte heulen, so schön ist das! Etwas sanfter als bisher folgt der Abstieg zum Refuge Elisabetta. Für ein paar Fotos muss mir ein Kameramann, der hier filmt helfen. Für die rechte Hand ist das Rucksackfach ein Tresor. 

 

Elisabetta Ravitaillement, 63km, 2200HM, Samstag 07:28 Uhr, 12h54min


Zeitmessung, essen, trinken, Nachschub laden, das Übliche - die Handgriffe sitzen. Kurze Umziehpause, dann geht es sehr flach und leicht bergab durch das Tal. Linke Hand eine Moräne, ein wie mit der Wasserwaage ausgerichteter Wall aus Schutt und Stein, auf dem einst ein Gletscher talwärts fuhr; er ist mittlerweile abgeschmolzen.

 

Der Trail folgt einem Weg scharf recht hoch in den Hang. Ein Wegweiser mit "Camping" steht daneben. Wer hier wohl zeltet?

 

Bergsteigerschritt, ein Fuß vor den anderen - so geht es Höhenmeter um Höhenmeter bergan, Stunde um Stunde, im Bremslauf mit mächtigem Druck auf die Oberschenkel dann wieder bergab. Zwischendrin umziehen, es wird wieder mächtig warm und die lange Kleidung der Nacht verschwindet im Rucksack. 

 

Col Chécrouit - Maison Vieille, 72km, 1953HM, Samstag 09:44 Uhr, 15h10min


Kurzer Stop, Wasserflaschen auffüllen ist dringend nötig. Dazu 3 Becher Cola, etwas Käse und Weissbrot. Zur Belustigung der Teilnehmer und Zuschauer sind hier Jongleure am Werk. Auch mehrere Schlangen liegen auf einem Tisch; sie sollen zu einer Bauchtänzerin gehören.

 

Noch 5 Kilometer bis zum ersehnten 1. grossen Stop mit Kleiderwechsel. Bis dahin gehe es lt. freundlichen Helferpersonals "Sssssst" - mit einer flachen Hand nach unten zeigend - mächtig talabwärts.

 

Was dann folgt ist schlichtweg Fußsohlen-feindlich. Bergab zieht der Weg in Serpentinen über eine Skiwiese; im Winter sicher eine "schwarze Piste". Zur Verwunderung seiner Landsleute rast ein Franzose fast wie im freien Fall an allen vorbei. "Quelle Santé." was ich mit "Was für eine Gesundheit" übersetze. Endlos, endlos, der Abstieg nach ...

 

Courmayeur, 77km, 1190HM, Samstag 10:58 Uhr, 16h24min


Ein sonniger Vormittag. Die Füße brennen. Durch kleine Gassen laufen wir auf eine Art Sportzentrum oder Stadthalle zu. Knapp die Hälfte ist geschafft - gut so. Von hier aus ist Gestern Mittag der Bambinilauf (CCC) gestartet.

 

Etwas erschrocken blicke ich auf die Schlange (!) die sich vor der Kleiderbeutelausgabe bildet. Im Vergleich mit ihren französischen Helfern sind die Italiener zwar nicht so gut organisiert, kompensieren das aber mit körperlichem Einsatz: Im Laufschritt rennen selbst Feuerwehrleute in voller Montour mit um die Helfer zu unterstützen. Entlang tausender Beutel fischen sie den Richtigen heraus, Laufschritt zurück, vielen Dank.

 

Vor der Halle liegen viele Teilnehmer auf den Wiesen, ziehen sich um oder versorgen ihre Wehwehchen. Ich rufe Julia an - hätte den Sonnenaufgang am Col de la Seigne gerne mit ihr geteilt.

 

Den Spanier gleich nebenan bitte ich mir beim ausziehen des langärmligen Hemdes zu helfen - keine Kraft im Arm. Die Füsse sehen noch gut aus. Ein paar kleine Blasen werden aufgeschnitten; auf Tape und Compeed kann ich jedoch verzichten.

 

Nach einigen Metern rund um und quer durch die Halle, Treppen hoch und Fluren entlang - "Spiele ohne Grenzen" muss in Courmayeur erfunden worden sein - das Buffet. 5 Minuten Auszeit für eine Schale Nudeln mit Sauce und einen Pudding. Zum Glück bedarf es am Tisch keiner Konversation unter den Teilnehmern. Anerkennendes nicken ist international verständlich. Ab und zu fällt ein "très dificile" ("schwer") oder "fatigue" ("müde"). Schätzungsweise 80% sind Franzosen hier, der Rest versteht es auch so.

 

Gemeinsam mit einem Basken verlassen ich kurz darauf die Location, durchquere das Örtchen und werde von einem Streckensprecher namentlich aufgerufen. Teilnehmer aus 5 Kontinenten (so schallt es aus dem Lautspecher), Spanier, Italiener, Kanadier, Deutsche werden begrüßt. Gut einen Kilometer später frage ich mich, seit wann ich Italienisch verstehe? Die Gedanken hinken dem Erlebten etwas hinterher.

 

Es folgen 800HM Aufstieg durch bewaldetes Gebiet, hinauf zum ...

 

Refuge Bertone, 82km, 1989HM, Samstag 12:41 Uhr, 18h07min


Mittagshitze. Niemand überholt. Ich dagegen lasse viele Erschöpfte links und rechts stehen obwohl mir mein eigenes Tempo schon sehr Schneckenmäßig erscheint. Riegel rein, Wasser hinterher. Wieder mal 600HM auf den letzten 2 Kilometern, d.h. 30% Steigung. Diese Wege sind teilweise mit Steinen gepflastert, aber sie wirken schon Jahrhunderte alt. Also waren hier nicht immer Touristen und Sportler unterwegs, vielleicht gar Händler? Aber wer transportiert hier Waren hoch? Gedankenspiele, typisch für einen übernächtigten Krieger.

 

Ab und zu kommen auch Touristen den Weg entlang. Sie machen höflich Platz obwohl der UTMB bestimmt ihr ganzes Wochenende auf den Kopf stellt. Die italienischen Wanderer sind etwas zurückhaltender mit ihrem Beifall, mag aber auch sein, dass sie selbst erschöpft sind.

 

Am Refuge Bertone angekommen wird die Anstrengung durch ein sagenhaftes Panorama belohnt. Endlich wieder laufen. In leichten Wellen (100-200HM) geht es auf und ab entlang der Süd-Ost-Seite des Mont-Blanc-Massives. Eine herrliche Aussicht über zig zig Kilometer. Habe ich tatsächlich 40 Jahre gebraucht, um die Liebe meines Vaters zu den Bergen zu verstehen? Ein Klos im Hals - für Rückfragen ist es ein paar Monate zu spät ...

 

Refuge Bonatti, 89km, 2020HM, Samstag 14:23 Uhr, 19h49min


Die Gletscher sind abgeschmolzen - "sont passé". Zerklüftete Bergwelt. Linker Hand steht eine Art Gewächshaus mit Notfallausrüstung, wie Sauerstoffgerät u.ä. Nur ein Hubschrauber kann es hergebracht haben.

 

Irgend ein Deutscher steckt mir an der Verpflegung, das Bernhard ausgestiegen sei, Tom gut drauf ist, und Eric geschwächt vor 5 Minuten hier durch sei. Ausserdem treffe ich Martin (die Welt ist klein) der keine Nahrung mehr zu sich nehmen kann. "Leg' dich eine halbe Stunde hin, wir haben 3-4 Stunden bis zum Cut off!" beruhige ich. Wenigstens bis La Peule soll er doch laufen, damit es knapp mehr als 100km sind. "Diskutieren kannst du später, sonst ärgerst du dich morgen!"

 

Die Beine sind immer noch gut, also Suppe schlürfen, Wassertanks füllen und ... weiter.

Arnuva, 94km, 1769HM, Samstag 15:39 Uhr, 21h05min


Der Abstieg nach Arnuva ist mir gleichgültig. Entweder habe ich mich in mein Schicksal gefügt, oder den Beinen ist es nun wirklich egal. Unten angekommen treffe ich Eric, der gerade Luft für den kommenden Berg sammelt: Der Col Ferret ist mit 2537m die höchste Erhebung des ganzen Trails. Eric ist schlapp und hat sich ein paar Stellen wund gelaufen.

 

Ein Jubelschrei geht durch den Verpflegungsstand: Der Organisator des UTMB, Michel Poletti, läuft gerade ein. Er nimmt selbst am Lauf teil - das nenne ich Organisationstalent. Stellt sich die Frage, warum er als guter Läufer in meinem Zeitfenster umherirrt!?! Sein Arm ist verbunden, ach so ...

 

Gemeinsam verlassen Eric und ich den VP und suchen den gegenüber liegenden Berg nach Läufern ab - als winzige Punkte sind sie hoch oben zu erkennen. Nach meiner Erfahrung mit ca. 1-1.5 Stunden Vorsprung.

 

Grand Col Ferret, 98km, 2537HM, Samstag 17:24 Uhr, 22h50min


Ein gnadenlos steiler Aufstieg. Der sechste von neun ernsthaften Bergen, wieder mit über 25% auf den letzten beiden Kilometern. Es macht Spaß.

 

Oben stehen wieder North Face Expeditionszelte für die medizinische Betreuung. Den Helfern sage ich wahrheits gemäß "ca va?" - "ca va!" Der Arm ist nicht schlimmer geworden und an die Einschränkung habe ich mich bereits gewöhnt. Eric, Martin (inzwischen zu uns aufgeschlossen) und ich kleiden uns um, essen Riegel und gehen gemeinsam den Abstieg an. Wir betreten die Schweiz.

 
La Peule, 102km, 2071HM


Martin ist vorgelaufen und schlürft nun langsam seine Suppe. Er denkt an's Aufhören. "Mensch Martin - 4h bis Cutt off - du hast genügend Zeit, selbst wenn du dich bis ins Ziel an jedem VP eine viertel Stunde hinlegst.". Er verspricht sich von Station zu Station zu hangeln, aber nicht unüberlegt aufzugeben. Brav!

 

Kinozitat: "Der Verlust von Körperteilen ist keine Entschuldigung Mr. Potter!" und so wollen wir es halten.


Hinab nach La Fouly überholt mich ein Franzose im Sturzflug drei mal, wartet dann aber immer wieder auf seinen Companion. "Tu est tres vite, mais tu reste plus!" ("Du bist sauschnell, aber du machst zu viel Pause") - "Oui, ca me plaisir!" ("Ja, das gefällt mir!"). Wir lachen und wünschen uns "bon chance". Spaß, genau deswegen sind wir hier. Ich bleibe bei meiner Taktik: Immer in Bewegung bleiben, keine langen Pausen.

 

Auf der Alm gegenüber werden die Kühe zusammengetrieben. Die Kuhglocken läuten. Was für eine Idylle.

 

La Fouly, 107km, 1593HM, Samstag 19:28 Uhr, 24h54min


Mehr als ein 24h-Lauf, 36h auf den Beinen. Zur Erholung geht es mal leicht und gut laufbar bergab. Autobahn für die Beine.

 

In La Fouly klebt sich Eric die Innenseiten der Oberschenkel ab. Mein Tape kommt zum zweiten grossen Einsatz. Der Ausrüstungs-Kontrolle ein Lobgesang und euch die Mahnung:

 

Lauft nie, nie ohne Tape! Es hilft bei Verletzungen aller Art. Notfalls kann man damit bestimmt auch Wasser gewinnen oder Hunger stillen; schlimmstenfalls die Kontrollposten beim Cut Off knebeln und fesseln!

 


Doch bis zum Cut Off haben wir 3 Stunden Vorsprung. Martin hat sich wieder erholt und läuft nun vor. Eric und ich beschliessen für die kommende Nacht zusammen zu bleiben, und wir passieren die Stelle am Praz de Fort, wo Eric im vergangenen Jahr aufgeben musste.

 

Der Weg hangelt sich an einem bewaldeten Hang entlang. Einmal gibt es sogar Ketten als Handlauf zur Sicherung des schmalen Trails. Es wird wieder dunkel. Gut so, dann sieht man nicht, wie tief man recht ins Tal abstürzen könnte. Flatterband am Abgrund, nicht hinunter schauen.

 

In Deutschland wäre das ein absolut undenkbarer Lauf! Entweder müssten die Berge abgetragen, oder die Täler aufgeschüttet werden. Unter Höchststrafe würde das markieren mit Farbe auf Steinen gestellt, und die Förster würden laut aufschreien, wenn nachts jemand ihre Jagdreviere durchquerte. Von Abstimmungsschwierigkeiten zwischen 30 Gemeinden und 3 Ländern mal ganz zu schweigen.

 

Wir machen Meter, durchqueren Issert, ein Dörfchen mit uralten Holzhäusern und Scheunen - malerisch. Dahinter bereits die vertrauten Stirnlampen im Anstieg nach Champex. Der Weg hinauf will kein Ende nehmen und kreuzt irgendwann eine Strasse, wo Reisbusse auf dem Weg talwärts anhalten um uns die Strasse queren zu lassen.

 

Ich drehe mich um und sehe, dass sie mit müden und erschöpften Läufern gefüllt sind, die sich nach Chamonix bringen lassen. "Eric, was hälst du von einer 1-stündigen Lebensversicherung?". Der Körper schreit nach Schlaf. Wir entscheiden uns dagegen, weil aus einer Stunde Schlaf schell 2 Stunden Pause werden, wir aber nur 4 Stunden auf die Cut Off Zeit haben.

 

Champex Lac, 122km, 1477HM, Samstag 23:12, 28h38min


Die 2. Nacht und die "coureurs" werden beim Einlauf zum grossen Festzelt gefeiert wie Gladiatoren beim Einlauf in die Arena. Zuschauer, wahrscheinlich doch eher Schaulustige, die das Leiden hautnah miterleben wollen.

 

Martin will gerade das Camp verlassen, ist körperlich fit und wach, hat aber keine Lust alleine durch die Nacht zu stiefeln. "Werdet ihr ankommen?" fragt er Eric und mich. Was soll man da antworten?

 

Letztes Jahr sind beim UTMB 62% ausgestiegen, nur 38% haben gefinished. Ich will unbedingt in Chamonix ankommen - laufend, nicht per Bus! Auch wenn das Wetter dieses Jahr optimale Bedingungen liefert, jeder Zweite um mich herum wird nicht durchkommen - erschreckend. Ein Spiel zwischen Cut-Off Zeiten im Nacken und der Gefahr zu über-pacen oder abzustürzen.

 

Auf einmal versetzt dich der UTMB in der Liga der potentiellen "Did not Finish"er, die doch sonst stets sooo weit weg ist. Auch einige der hochfavorisierten Topläufer, u.a. die Amis, sind ausgestiegen, so hören wir, und die können immerhin unter den ersten 5-10 mitlaufen.

 

"Nochmal tue ich mir das hier nicht an! Wir finishen, so oder so!", das ist kein Versprechen sondern eine Botschaft an uns selbst. Nach 28h Lauf und gut 40h ohne Schlaf bedarf es einfacher, klarer Anweisungen. Diskutieren können wir hinter der Ziellinie!

 

Essen, trinken, Blasen aufschneiden, gute Laune. Alles ist ok, nur beim Socken wechseln muss mir Martin helfen, weil der rechte Arm streikt. Martin nimmt's gelassen, murmelt etwas von "das kenne ich noch von meinen Kindern" aber die hatten bestimmt sauberere Füsse und nicht Schuhgröße 45.

 

Gegen kurz nach 0:00 Uhr verlassen wir Champex, laufen an einem See mit beleuchteter Pomenade vorbei hinaus aus dem Ort. Es geht ganz leicht bergab und ganz ehrlich: Was soll jetzt noch kommen? Bis nach Chamonix sind es noch gut 42km - ein schlapper Marathon - wir haben noch 16 Stunden Zeit und die Beine sind okay. Ich verbanne den Mythos über den kommenden, vorletzten und härtesten Berg "Bovine" in das Reich der Sagen vollkommen übermüdeter Heldenerzähler. Was soll jetzt noch kommen?

 

Bovine, 131km, 1987HM, Sonntag,03:21 Uhr, 32h47min


Er ist nicht besonders hoch und er kommt zu Beginn ganz schleichend. Der stark steiler werdende Anstieg ist asphaltiert, fast eine Rampe. Vor uns im Berg die Lichterkette der Stinlampen. Links und rechts liegen die ersten Teilnehmer; erschöpft und zusammengekauert schlafen sie am Wegesrand. Wie gerne würde ich mich für ein viertel Stündchen dazugesellen, aber der Boden erscheint mir zu kalt und zu feucht. Ach hätten wir in Champex doch ein Stündchen im geheizten Zelt auf einer der Pritschen geschlafen - nur ein Stündchen.

 

Den Anfang macht Eric. Er hält an. "Ich schlafe im Gehen ein. Es ist zu monoton!" "Lass uns die Führungsarbeit durchtauschen und versuchen, ohne Stöcke hier hoch zu kommen. Das ewige Geklacker der Metallspitzen macht den monotonen Klang!" lautet mein Vorschlag. Doch immer wieder müssen wir alle paar hundert Meter anhalten weil Eric's mentale Kraft aufgebraucht ist.

 

Uns geht es nicht allein so. Immer wieder halten Läufer mitten drin an und legen sich hin um zu rasten. Nicht wenige schlafen tief und fest.

 

Wir brauchen eine Aufgabe, die ablenkt, die beschäftigt. Weg von diesem eintönigen Schritt, Schritt, Schritt... und als hätte die Bestie nur auf dieses Signal gewartet - erwacht der Bovine!

 

Der Weg wird immer unwegsamer und noch steiler. Felsbrocken von 1m Höhe, aufeinander gestapelt zu wilden Treppen, ein Fluss- oder Bachbett das kein Wanderer braucht, bildet den Weg. Wer hier markiert hat verdient schon einen eigenen Preis.

 

Wurzeln, Steine, Bachquerungen. Das Licht der Stirnlampe zeigt zum Glück immer nur den einen Meter vor den Füssen. Tagsüber würde mir bestimmt schlecht, so wie es talwärts hinter mir abgeht. Wir klettern. Manchmal, wenn ich führe, verliere ich die Orientierung und muss mit der Lampe rundum leuchten, um die grobe Richtung bis zur nächsten reflektierenden Markierung auszumachen.

 

Die Aduktoren fangen an zu schmerzen. Treppensteigen über *solche* Stufen habe ich nicht geübt, und selbst wenn ...

 

Zwei Mal müssen mich Martin und Eric anschieben, weil ich im Aufschwung das Gleichgewicht nach hinten verliere. Der Kopf ist wieder hellwach - denke ich!

 

Dafür beginne ich zu halluzinieren. Schatten und Formen im Dämmerlicht: Da ein Wohnwagen, dort ein Kanninchenstall mit davor knieenden Kindern (na klar, nachts um 03:00 Uhr). Auf dem Boden liegen Brötchentüten unseres Bäckers, die sich beim hineinpieksen mit den Stöcken wieder nur als Steine entpuppen. Es ist angsteinflössend, was Schlafmangel und Erschöpfung mit einem anstellen. Den Wohnwagen hat übrigens noch wer gesehen.

 

Ganze 3 Stunden dauert der Aufstieg bis wir oben auf einer Art Alm ankommen. Der Pfad schlängelt sich über eine Wiese und ist endlich wieder laufbar. Prompt schlafe ich mehrfach - im vollen Lauf - kurz ein.

 

Eine Verpflegung mit Zeitmessung, dann geht es ähnlich bergab. Zwei Stunden Pfadsuche zwischen Wurzeln, Felsspalten und Müdigkeit. Den rechten Arm kann ich kaum einsetzen, muss mich auf den restlichen dreien (Beine und linker Arm) nach unten stürzen - aua aua.

 

Der Bovine ist ein Monster. Fünf Stunden für 10km - die Vorwarnungen waren keine Übertreibung. Was sich hier in den Jahren mit Regen abgespielt haben muss, sprengt jede Vorstellungkraft. Chapeau!

 

Liebe Daheimgebliebenen, vergesst Platzierungen und Zeiten. Ab jetzt zählt nur noch finishen oder nicht finishen!


Lieber Bovine, eines Tages komme ich zurück, bei Tag, frisch, mit zwei Armen, und dann kannst du dich warm anziehen!


Trient, 137km, 1300HM, Sonntag, 05:31 Uhr, 34h57min


"Bon Chance", "CHAPEAU!", "Allez!", "Bon Courage". Der Respekt der Zuschauer ist fast grenzenlos, selbst morgens halb sechs Uhr. Überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit. Selbst Halbstarke, die sich irgenwo im Nirgendwo zu einem kleinen Saufgelage zusammen gefunden haben, geben alles. Mein Schulfranzösisch kann keine abfällige Bemerkung ausmachen. Ob Alte oder Junge, wer hier wohnt weiss wohl, was es heisst, hier einen Berg nach dem anderen zu überrennen.

 

Nach einem endlos dauernden Abstieg vom Col de la Forclaz erreichen wir den Dorfplatz und den VP in Trient. Essen, Trinken, ach hier könnte man auch prima sitzen bleiben. Der Streckensprecher und der DJ sitzen mit im Zelt, machen Stimmung. Die Ringe unter ihren Augen sagen alles. Wahrscheinlich sind sie blau, denn an gutem Käse und Wein mangelt es ihnen nicht. Martin, Eric und ich reden uns den letzten grossen Aufstieg schön und stampfen los, immer der Lichterkette am gegenüberliegenden Berg nach.

 

Schon nach wenigen Höhenmetern muss ich mich umziehen - zu warm. Es dämmert und so verschwinden auch Stirnlampe und Handschuhe für immer im Rucksack. In kleinen Serpentinen windet sich der Trail gen Himmel. Immer öfter rasten Läufer, doch wer rastet sieht sich einer Dauerbefragung mit "Ca va?" ("Wie geht's") ausgesetzt. Wir passieren Les Tseppes bei 140km, 1932HM.

 

Eine junge Frau sitzt kopfschüttelnd auf einem Stein, kann oder will nicht mehr. 5 Minuten später stürmt sie mit ihrem Freund an uns vorbei, um am Gipfel schon wieder zusammengekauert und in ihre Jacke eingemummelt zu schlafen. Wir meiden solche Vollgasorgien, machen unser langsames Tempo.

 

Bei Frontière quert der Weg ein letztes mal eine Ländergrenze und verlässt die Schweiz. Noch 19km franzosische "Hügel" - mehr darf man was jetzt kommt nicht nennen. Eric hat stark mit seiner Müdigkeit zu kämpfen, ich bin auch fertig und um jeder Abwechselung dankbar. Ein Reporter fragt nach einem Interview für eine deutschen Laufzeitung, deren Name ich vergessen habe - na klar. Nur Martin klimpert nicht mal mit den Augen und gähnt auch nie. Schichtdienst scheint eine ausgezeichnete Voraussetzung für den UTMB zu sein.

 

Über Vallorcine, Argentière und le Lavancher retten wir uns schliesslich bis nach ...

 

Chamonix, 163km, 1035HM, Sonntag, 13:51 Uhr, 43h17min42sec - Schluss für heute.


  ... um im Zielkanal mit gekreuzten Stöcken, ganz im Zeichen der Musketiere einzulaufen. Arrivée!

 

Der Zielbereich ist voll. Fotos werden geschossen - Heldentaten auf Chip festgehalten. Mit Gero, Mattias, Eric, Maya und Jens Lukas (der Gesamt 2. geworden ist!) und all den anderen werden Geschichten ausgetauscht bis die Augen zuklappen.

 

Irgendjemand hat doch tatsächlich seinen Brustgurt für die Pulsuhr getragen. Allein 32.000 Kcal sollen es bis Campex gewesen sein, also rund 35.000-40.000 Kcal bis ins Ziel. Soviel kann niemand unterwegs zu sich nehmen. Und so stehen der Abend und der darauf folgende Morgen ganz im Zeichen der Fresssucht und des Tragens der North Face Finisher-Westen. Maximaler Posing-Faktor!

 

Die Rückreise verläuft wieder problemlos, aber der Arm schmerzt immer mehr. Julia bringt mich am späten Abend noch ins Krankenhaus und 4 Röntgenbilder später ist die Sache klar: Keine Prellung sondern einen Bruch des Unterarms vor dem Ellenbogengelenk habe ich 155km durchs Gebirge geschleppt.

 

Ja wenn ich *das* gewusst hätte ... es hätte nichts geändert! Jeder Meter des UTMB war es Wert.

 

Informationen: Ultra Trail du Mont Blanc (UTMB)
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