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Laufberichte

14. Etappe Transeuropalauf

01.09.12

Distanz ist, was der Kopf draus macht

 

Es gibt Dinge, die kann man sich durchaus vorstellen. Obwohl ein Marathonlauf einem Gesundheits- oder gar Nichtläufer wie ein unüberwindliches Hindernis erscheinen mag. Hat man diese Distanz vielleicht gerade so im Griff, ist es oft unmöglich sich vorzustellen, an die 42,2 weitere km dranzuhängen. Schafft man auch einen Ultralauf, erscheint es vielen undenkbar, am nächsten Tag wieder loszulaufen. Und am übernächsten. Und am überübernächsten. Und am… Das aber dann nicht „nur“ für eine Handvoll Tage, sondern zwei Monate lang. Jeden Tag. Ohne Ruhetag. Jetzt kommen wir in die Region, in die ich einen Tag lang hineinschnuppern durfte.

Um für die Veranstaltung irgendeines Laufs die Verantwortung tragen zu wollen, muß man schon die Bereitschaft zum Ertragen einer gewissen Portion Masochismus mitbringen. Klappt alles, ist das für viele Teilnehmer selbstverständlich, klappt etwas nicht, kriegt man Prügel. Nämlich dafür, daß man anderen etwas Gutes tun möchte und das alles natürlich ehrenamtlich. OK, jeder muß das wegstecken können und für sich selber entscheiden, ob und wie er weitermacht. Wirklich haarig wird es aber spätestens bei der Organisation eines Laufs, der länger als einen Tag dauert und/oder mehrere Etappen beinhaltet.

Einer dieser Leute, die meinten, sich und anderen das geben zu sollen, ist der Ultraläufer Ingo Schulze. Seit 1978 auf der Ultrastrecke unterwegs, organisiert er seit 1998 gewaltige Etappenläufe, wobei das Adjektiv „gewaltig“ gleichermaßen auf die für ihn und sein Team organisatorische Leitung und die sportliche für die Läufer zutrifft. Sechs Deutschlandläufe (1.024 km in 17 Tagesetappen), vier Spreeläufe (420 km in sechs Tagen) und einen Horb–Berlin-Lauf (790 km in 13 Tagen) hat er auf der Habenseite. Da dies scheinbar nicht ausreicht, um ihn ausreichend mit Nervenkitzel zu versorgen, organisierte er 2003 („Nie wieder!“) und 2009 („Nie wieder!“) Transeuropaläufe (TEFR). 2003 ging es in 64 Tagesetappen über 5.063 km von Lissabon nach Moskau und 2006 ebenfalls in 64 Etappen von Bari zum Nordkap über 4.487 km. Da er es natürlich (behaupte ich) doch nicht lassen konnte, zieht er zurzeit nochmals alle Register und hat am 19. August den dritten („Nie wieder?“) Transeuropalauf in Skagen/Dänemark mit Ziel Gibraltar gestartet.

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Mit der Thematik erstmals in Kontakt kam ich seinerzeit über den Vortrag einer Teilnehmerin von 2003, Brigitta Birmanski aus dem nahegelegenen Puderbach, die darüber auch ein kleines Buch geschrieben hat. 2009 habe ich mich schwarzgeärgert, weil ich es irgendwie nicht auf die Reihe bekam, wenigstens eine Etappe mitzulaufen. Dies passiert mir dieses Mal nicht, daher nutze ich die geringstmögliche Entfernung einer Etappe von meinem Wohnort zum Schnupperkurs in Sachen Wahnsinn. Auch wenn die Gesamtlänge bei gleichbleibender Etappenzahl (64) auf nunmehr 4.176 km weiter abgenommen hat, bleiben für die 53 Angemeldeten (10 Frauen und 43 Männer) und letztlich 49 Gestarteten (9/40) aus zwölf Nationen täglich immer noch durchschnittlich 65 km zu absolvieren. Die kürzeste Etappe ist 39 km lang, die längste 88,3 km. Mit dem erfolgreichen Finish hat man schon fast zwei Drittel der für die Aufnahme in den 100 MC benötigten Läufe geschafft! Nur mal so am Rande erwähnt: Die älteste Teilnehmerin, die Japanerin Fusako Fushini, ist 70 Jahre alt, der älteste Teilnehmer, Richard Hofbauer, stolze 77 (er mußte  allerdings schon auf der zweiten Etappe wegen starker Krämpfe aussteigen)!

Ich nehme mir den Freitag frei und reise mit meinem Freund Joachim bereits vormittags ans morgige Etappenziel ins nordhessische Queck/Schlitz, um mein Auto dort zu deponieren.  Ein Taxi bringt uns zum Startort nach Waldkappel, unterwegs können wir schon einige Streckenabschnitte erahnen. 64,3 km ist fast exakt die Länge des Etappendurchschnitts, für mich wird es zwischen dem Röntgenlauf und dem Bieler Hunderter der zweitweiteste Lauf überhaupt werden. So viel zu den Relationen. „Morgen mitlaufender Reporter meldet sich gehorsamst zur Stelle, Herr Oberfeldwebel!“, melde ich mich beim ehemaligen Soldaten Ingo in Wehrmachtsmanier. Der strahlt über alle vier Backen. Wir richten uns in der Sporthalle der Karlheinz Böhm-Schule zum Übernachten ein und harren der eintrudelnden Läufer, die heute bereits ihre 13. Etappe geschafft haben. Von den 49 am Anfang Gestarteten sind noch 39 im Rennen. Bei den ersten hat man optisch den Eindruck, sie kämen gerade von einem maximal halbstündigen Jogging, so locker sieht das aus. Gegen Ende verkehrt sich das ins Gegenteil. Jochen ist ein guter Beobachter. „Fällt Dir etwas auf, Wolfgang? Je später die Läufer ins  Ziel kommen, desto fertiger sehen sie aus. Was lernen wir daraus? In Zukunft einfach schneller zu laufen.“ Jochen, wenn ich Dich nicht dabei hätte…

Durch meine frühe Ankunft kann ich in 24 Stunden das Prozedere eines Lauftags komplett mitbekommen und so einen eigenen Eindruck von dem gewinnen, was mich in Ingos beiden bisherigen Büchern über 2003 und 2009 und im Kinofilm „I want to run“ fasziniert hat. Das ist dann beileibe nicht alles lecker, was ich später zu sehen bekomme, alleine das Verarzten der misshandelten Füße ist nichts für Weicheier. Nicht einmal zum Anschauen. Ich versuche, die Atmosphäre mit der Kamera möglichst unauffällig einzufangen, ohne den dringend Ruhebedürftigen auf den Senkel zu gehen. Auffällig sind die Unterschiede in den Nationalitäten und Charakteren: Auf der eine Seite die eher lauten Franzosen, auf der anderen Seite die sehr höflichen, bescheidenen und zurückhaltenden Japaner. Beide bilden starke Fraktionen.

Gegen ein Entgelt von 70 € pro Nase haben wir neben der Etappenteilnahme das heutige Abendessen sowie das morgige Frühstück und die Streckenverpflegung gebucht, für die Gesamtteilnahme waren 6.000 € zu berappen. Wir halten uns beim sehr guten und reichhaltigen Abendessen, diesmal in einem lokalen Restaurant, bewußt bedeckt und lassen den hungrigen Helden den Vortritt. Früh am Abend ist Zapfenstreich: Um 21 Uhr geht das Licht aus und das muß auch so sein, denn nach dem Wecken um 4 Uhr mit Fertigmachen (jeder ist bzgl. Körperpflege und Herrichten der Lagerstatt auf sich gestellt) und dem Frühstücken wird es für die Langsamen bereits um 6 Uhr auf die Strecke gehen, die Schnelleren, zu denen wir Etappenläufer gezählt werden, werden eine Stunde später losgelassen. Für den mehr oder weniger rasenden Reporter ist das eine gute Einrichtung: Ich beabsichtige, relativ flott mit den Ersten loszulaufen, mich langsam zurückfallen zu lassen und dann im Laufe des Tages die Langsameren, soweit möglich, einzusammeln. So sollte ich fast jede(n) einmal in Aktion vor die Linse bekommen.

Illustre Persönlichkeiten befinden sich auch im rund zehnköpfigen deutschen Helferteam. Neben dem Koblenzer Joachim Barthelmann (wir stellen fest, daß wir unerkannt jahrelang in der gleichen Straße gewohnt haben) befindet sich der ehemalige Extrem-Ultraläufer Helmut Schiercke (264 km über 24 Std.). Der ist als Etappenhengst für die Verpflegerei zuständig und reizt mit seinen flotten Sprüchen und der unverwüstlichen guten Laune ständig unsere Lachmuskeln. Die Japaner und Franzosen haben ebenfalls Helferteams dabei, die Läufer aus Fernost sogar einen eigenen Masseur. Noch etwas anderes finde ich sehr bemerkenswert: Die gegenseitige Rücksichtnahme. Die beginnt beim ordentlichen Zusammenleben auf engstem Raum ohne Müllverteilung und endet bei den bemerkenswert sauberen Kloschüsseln. Niemand hinterlässt auch nur eine Bremsspur.

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