Es ist ein nasskalter, regnerischer Herbstmorgen an diesem Samstag, als wir (das sind Jens Hertling, Helene Steffen und Eberhard Ostertag) gegen 09.00 Uhr am Startpunkt in Schwäbisch Gmünd von Stuttgart kommend, eintreffen.
Es geht recht hektisch zu in der Schwerzerhalle, wo sich die Marathonorganisation befindet. Viele Läufer stehen Schlange, um die Startnummernabholprozedur zu erledigen. Es sind einige Gesichter zugegen, die mir vom Sahara-Marathon 2002 bekannt sind. Die Begrüßung ist entsprechend herzlich.
Es läuft gerade ein Video über den Alb-Marathon des vergangenen Jahres und man sieht, wie sich eine Läufergruppe einen steilen Berg hinaufquält. Ich denke an die Erzählung eines Lauf- kameraden aus Hamm, dass dieser Lauf viel schwieriger sei, als der Rennsteig-Supermarathon. Doch ich fühle mich fit und bin optimistisch, auch dieses Rennen in der Sollzeit zu beenden.
Ich treffe meinen Laufkameraden Rainer Satzinger, mir bekannt vom letzten Rennsteig- Supermarathon, mit dem ich genau in einem Jahr am Grand Raid in Reunion teilnehmen will. Er rechnet mir vor, dass ich diesmal ca. 6:45 Stunden brauchen würde, wenn er meine Zeit von 4:40 Stunden beim letzten relativ flachen Straßenmarathon in Aschaffenburg vor 2 Wochen als Ausgangsbasis nehmen würde. Er sollte Recht behalten.
Wir stehen am Start, alles um uns herum ist grau in grau, jedoch es regnet gerade nicht. Ich laufe lang mit Handschuhen und schwarzer Legionärskappe, die mittlerweile zu meinem Markenzeichen geworden ist und trotzdem fröstele ich. Um mich herum sind Läufer sehr unterschiedlich gekleidet. Viele davon sind angezogen, als stünde ein Sommer-Hitze-Lauf bevor. Sie gehen wahrscheinlich von einer extremen Eigenwärmeerzeugung aus. Pünktlich um 10.30 Uhr fällt der Startschuss und mit erwartungsfrohen Gesichtern setzt sich eine Masse von ca. 1.000 Läufern in Bewegung. Zwei Drittel von ihnen haben weiße Startnummern, die sie als 50 km-Läufer auszeichnen. Die anderen, die die Hälfte vor sich haben, sind gelb genummert.
Es geht auf einer asphaltierten Autostrasse durch die Stadt. Es ist eben und wir laufen etwas schneller als im 6er Schnitt, jetzt in meiner absoluten Wohlfühlgeschwindigkeit. Ich profitiere von der kühlen Witterung. Schnell lassen wir die Stadtgrenze hinter uns und begeben uns in einen malerischen herbstlichen Mischwald. Nach wenigen Kilometern kommen die ersten Hügel, wo Rainer und ich sofort in den Walking-Gang wechseln, nach dem Motto: "Habet Ehrfurcht vor den Bergen!"
Von vielen werden wir jetzt überholt. Beim für uns mühelosen Bergablauf überholen wir wieder. So geht es viele Kilometer in einer für uns ansehnlichen Geschwindigkeit weiter. Bei den Gefällstrecken bin ich meist schneller als Rainer, der mich jedoch bei den Anstiegen stets ein- bzw. überholt.
Wir laufen jetzt auf einem Kamm steiler als bisher in Richtung Hohenstaufen. Über uns, in einer Breite von ca. 2 km dräuen sich dicke, schwarze Wolken, die leichten eiskalten Regen auf uns herablassen. Ein sehr frischer Wind verstärkt das ganze noch. Jetzt friere ich ganz erbärmlich, bin also doch für diese speziellen Alb-Wetter-Eskapaden nicht angepasst bekleidet.
Nach links und rechts hat man von hier eine weite Sicht. Dort scheint die Sonne und man sieht auf jeder Seite einen Regenbogen, was einen mystischen Eindruck auf mich macht. Jetzt kommt ein sehr steiler Anstieg, der über eine Wiese führt und mir bereits schon auf dem Video in der Schwerzerhalle aufgefallen war. Wir gehen wieder. Rainer ist ein wenig schneller als ich und setzt sich langsam aber sicher ab. Durch den Wald geht es nun sehr steil zum Gipfel des Hohenstaufen, dem ersten Drei-Kaiser-Berg. Etwa 17 km sind jetzt geschafft.
Es ist hier eine Schleife von vielleicht 200 bis 300 m in unseren Rennkurs eingebaut. Mir kommen jetzt viele Läufer entgegen, die bereits den Gipfel hinter sich haben und bergab laufen. Nach wenigen Minuten erreiche auch ich gehend den Gipfel und den Wendepunkt und jogge den Berg hinunter. Viel Konzentration und Kraft ist jetzt notwendig, da es sehr steil hinunter geht. Hinter einer Kurve kommt mir Helene entgegen. Sie schaut gar nicht fröhlich drein und ruft mir zu, dass ihr das Rennen heute sehr schwer falle. Da sie mir als sehr durchhaltefähig und willensstark bekannt ist, mache ich mir darüber keine Gedanken.
Ich laufe nunmehr auf einer Hochebene. Die Sonne kommt gerade wieder zum Vorschein und ich bin im absoluten Wohlfühlbereich. Ich sehe zwei weitere Bergkegel, den Rechberg und ganz weit dahinter den Stufen. Es ist ein ergreifender Anblick und ich danke Gott, dass er mir die Gabe verliehen hat, so weit laufen zu können und es auch zu wollen.
Viele Kilometer laufe ich jetzt leicht und locker, überhole ab und zu, werde nur selten selbst überholt, habe mir ein ansehnliches Zeitpolster geschaffen und fühle mich klasse. Es geht nun durch eine Ortschaft am Fuße des Rechbergs. Nach einer Linkskurve führt die Strasse zum Gipfel, wo mir viele Halbstreckenläufer entgegenkommen. Viele applaudieren. Ich bedauere sie fast, da das Rennen jetzt schon für sie zu Ende ist. In Hochstimmung strebe ich schnellen Schrittes dem Gipfel entgegen. Etwa 50 m vor mir sehe ich Rainer, also habe ich wieder ordentlich aufgeholt.
Wir befinden uns jetzt auf einem Passionsweg, der so gar nicht auf meine momentane persönliche Situation passen will. Bald ist der Rechberggipfel erreicht, wo sich direkt neben einem Friedhof das Halbziel befindet. Es sind jetzt 25,5 km geschafft. Eine mir unbekannte Halbzeitfinisherin ruft mir zu, dass sie mit einem Bier im Ziel in Schwäbisch Gmünd auf mich warten würde. Eine nette Geste, jedoch ich habe sie nicht wieder gesehen.
Ich fühle mich supertoll und läute mit einem lauten Hurra den zweiten Teil des Alb-Marathons ein. Steil geht es jetzt auf einem Asphaltweg bergab. Es kommt noch eine kurze Schleife, wo an einer Kontrollstelle meine Startnummer abgestempelt wird. Dies ist sicherlich notwendig, denn wie überall im Leben gibt es auch hier Leute die schummeln, sogenannte Rennbetrüger.
Der Weg bergab wird nun immer steiler. Au, geht das jetzt in die Knie. Laufend überhole ich jetzt 25 km-Läufer, die das Rennen hinter sich haben und langsam den Berg hinunter gehen, um im Ort mit dem Bus nach Schwäbisch Gmünd zurückzufahren. Es sind auch einige abgebrochene 50 km-Läufer dabei, was ich an deren Startnummern erkennen kann.
Am Fuße des Berges geht es auf einer Asphaltstrasse durch einen Ort, dann mit stolz geschwellter Brust am wartenden Shuttle-Bus vorbei über ein leicht abschüssiges Wiesengelände. Bald geht der Rennkurs auf einer welligen Hochebene wieder auf einen geteerten Feldweg. Von weitem sehe ich Rainer vor mir. Ich erkenne ihn an seinem markanten, eigenwilligen Laufstil. Noch immer fühle ich mich pudelwohl und der "Innere Schweinehund" hat sich noch nicht blicken lassen. Schon einige Zeit laufe ich allein, werde weder überholt, noch überhole ich selbst. Die Läuferschar hat sich weit auseinandergezogen und sehr stark gelichtet, da unter den Startern eine große Zahl von Halbstreckenläufern war, die ja jetzt gefinisht hatten.
Der Stuifen, der letzte der Drei-Kaiserberge kommt nahe. Es geht walkend wieder steil bergauf. Hinter einer Kurve kommen mir jetzt für eine ganz kurze Wegstrecke einige Läufer entgegen. Es gibt also wieder eine Schleife. Donnerwetter, es ist auch mein Freund Eberhard dabei. Leichtfüßig rennt er die Anhöhe hinunter und ruft mir zu, dass jetzt eine überaus ungemütliche Strecke auf mich warten würde.
Nun geht es auf einem Lehmweg in einen Wald hinein, anfangs leicht ansteigend, links hinter den Berg herum. Bald jedoch führt der Weg brutal ansteigend in Richtung Gipfel. Erstmals seit längerer Zeit ist jetzt ein Läufer hinter mir. Wie ich sehe, sogar in meiner Altersklasse. Ich gebe ihm Handzeichen, dass er mich überholen soll. Er kontert, dass er nicht schneller laufen kann als ich. Trotzdem bleibe ich stehen und lasse ihn vorbei, da ein "Verfolger im Nacken" mir psychisch nicht gut tut. Ganz allmählich setzt er sich von mir ab.
Jetzt bin ich an einer Stelle, die alle Tücken eines Crosslaufes in sich hat. Extrem steil schlängelt sich jetzt der Weg nach oben und es ist so glitschig, als hätte eine böse Hexe tonnenweise Schmierseife über den Weg gekippt. Ein paar hundert Läufer sind hier schon vor mir rauf, was dieses Unbill sicherlich noch verstärkt hat. Wie ein Betrunkener mit wild gestikulierenden Armbewegungen torkele ich vorwärts, bin froh, wenn Wurzeln etwas Halt gewähren und Bäume kommen, an denen ich mich festhalten kann. Ich denke, dass das Vorwärtsbewegen bei der "Echternacher Sprungprozession" (= zwei Schritte vor, ein Schritt zurück) nicht langsamer vonstatten geht. Mir wird klar, dass meine Trailschuhe, mit denen ich schon viel trainiert habe und auch einige andere Marathons und Ultras, darunter auch die 100 km von Biel und den Zermatt-Marathon gefinisht hatte, höchstens noch für Strassenläufe zu gebrauchen sind. Ganz langsam geht es auf diese beschriebene Art vorwärts und das Zeitpolster zerrinnt. Irgendwann ist der Berggipfel erreicht. Es sind 720 m über NN und es ist der höchste der 3 Berge.
Das 30 km-Schild taucht auf und ich bemerke erstmalig erheblichen Kräfteschwund. Der Anstieg hat mir also viel Kraft aus den Knochen gesogen. Aus meinem Gürtel nehme ich gleich 2 Powergels zu mir, was sich wenig später auch positiv bemerkbar macht.
Den Stuifen hinunter geht es Gott sei Dank leichter, da der Weg nicht mehr so glitschig ist. In der Ferne ist noch einmal eine bewaldete Anhöhe in Sicht, in dessen Richtung sich die Läufer bewegen. Es kommt wieder eine Schleife und Gegenverkehr kommt auf. Ich bin erleichtert, als mir ein entgegenkommender Läufer auf meine Frage hin erklärt, dass die Anhöhe nicht bestiegen, sondern nur umrundet wird.
Kurz vor Ende der Schleife kommt noch eine nach rechts schräg abfallende nasse Wiese, die es in sich hat. An vielen Spuren kann ich erkennen, dass manche vor mir hier Gewesenen Ganzkörperlandungen gemacht hatten. Wieder ist viel Kraft und Konzentration von Nöten. Ich habe Glück und bleibe auf meinen Beinen.
Die Wende ist nun auch für mich geschafft und ich genieße jetzt den Gegenverkehr der noch langsameren Läufer. Es kommt das Km-Schild 36, das mir auf dem Hinweg schon aufgefallen war und freue mich, endlich hier zu sein. Wenig später kommt mir die Dame mit dem Eishockeyschläger entgegen, der ich sowohl auf dem Rennsteig als auch in Biel begegnet war.
Weiter geht es jetzt leicht ansteigend an einem Wald vorbei und dann in eine Weidelandschaft mit einzelnen Gehöften. Schließlich ist eine Ortschaft erreicht mit einer Verpflegungsstelle, wo ich gleich 3 Becher Wasser trinke. Wenig später kommt das 42 km-Schild. Dahinter führt die Strasse wieder auf einen steilen Berg zu. Meine Oberschenkel signalisieren erhebliche Müdigkeit.
Zum ersten Mal bei diesem Lauf kommt jetzt der "Innere Schweinehund" zu Wort. Und das sehr heftig. "Dummkopf, warum genügen Dir denn nicht mehr die normalen Marathons. Müssen es denn Überlängen sein? Jetzt könntest Du ein Bier trinken, mit Freunden fachsimpeln und die Szene genießen. Aber jetzt musst Du schon wieder einen großen Berg hoch." Ich hole gerade einen Laufkollegen ein und frage ihn, ob wir wirklich den Berg hoch müssen . Er antwortet nur: "Ja, Bääääärg." Er ist also der deutschen Sprache nicht mächtig und versteht mich nicht. Tatsächlich geht es auch nur für einige 100 m hügelauf und dann rechts am Berg vorbei. Mein bewährtes Sportgetränk "Red Kick" beginne ich jetzt in kleinen Schlucken zu trinken.
Meine Laune bessert sich schnell wieder. Nach Überwinden von welligem Wiesen- und Weidegelände ist der Ort Waldstetten erreicht, wo sich wieder eine Verpflegungsstation befindet. Wieder trinke ich Wasser, um den Süßgeschmack von Red Kick etwas zu neutralisieren. Eine freundliche Helferin erzählt mir, dass es von nun an auf einer in einen Fahrrad- und Wanderweg umfunktionierten Bahntrasse nur noch ganz leicht bergab bis nach Schwäbisch Gmünd gehen würde.
Das 47 km-Schild taucht auf und ich überhole gerade 2 Läufer. Der eine war derjenige in meiner Altersklasse, der mich an der "Schmierseifenpassage" des Stuifen überholt hatte. Der andere war ein wenig älter.
Es kommen viele Spaziergänger entgegen. Einige applaudieren, die meisten jedoch bleiben anteilslos. Nun gut, so denke ich, nicht jeder kann sich für den Laufsport begeistern. Doch ich bin begeistert, von mir selbst nämlich, da ich jetzt wieder viel flotter vorankomme. Ja, die müden Oberschenkel drücken schon, aber der Kreislauf funktioniert bestens, es sind keine Blasen an den Füssen und ich werde von keinerlei Schmerzen geplagt. Was will ich mehr, ich liege in der Sollzeit und werde erneut einen Supermarathon problemlos hinter mich bringen.
Im Nu bin ich in der Stadt und es geht auf dem letzten Kilometer in einer Allee dem Ziel entgegen. Von weitem wird mein Einlaufen vom Zielsprecher schon angekündigt. Dann heißt es: "Bernhard, freue Dich, denn Du bis im Ziel." Und ich freue mich ........
Meine 3 Gefährten: Helene, Jens und Eberhard stehen schon da und beglückwünschen mich. Jens hatte von Anfang an vor nur die Hälfte zu laufen. Helene ist nach der Hälfte ausgestiegen; es war einfach heute nicht ihr Tag, trotzdem hatte sie Grund stolz zu sein, denn sie trug die "Goldmedaille" der Altersklassensieger des 25 km-Laufs. Eberhard, der alte Ehrgeizling ist sowieso immer viel schneller.
Wir gehen jetzt zurück in die Schwerzerhalle, trinken dort noch ein Bier und ich hole mir mein Funktions-T-Shirt über den Europacup der Supermarathons am Rennsteig-Stand ab. Es steht mir zu, da ich 3 Ultramarathons dieser Serie dieses Jahr in der Sollzeit beendet habe, den Rennsteig, die 100 km Biel und jetzt den Alb-Marathon.
Der allseits bekannte Laufmotivator, Dr. Ulrich Strunz, hat an dieser meiner Lauferfolgsgeschichte maßgeblichen Anteil. Auf seinem Seminar im Mai 1999 in Frankfurt verkündete er vollmundig: "Sicherlich wird der heutige Tag manch einem unter Euch das Leben verändern." Wie recht er doch hatte ...