Zwangspause. Ich kann nicht, ich darf nicht. Keine Lust, auch nur davon zu hören und zu lesen. Das war die erste Stufe.
Die nächste führt mich in die Nähe des Geschehens. Wie ein alter Löwe, zu schwach um selbst zu jagen, kreise ich die Beute ein. Als Zaungast lecke ich in Freiburg die Wunden und rieche Schweiß. Die biochemischen Prozesse werden hochgefahren und erreichen ein Niveau, welches den Wiedereinstieg an Ostern zu einem ermutigenden Erlebnis werden lassen. Meine Welt ist wieder so bunt wie all die Ostereier um mich herum. Ich habe mein ganz eigenes Auferstehungserlebnis. Ich darf und ich kann: laufen.
Nach etwa zwanzig moderaten Laufrunden mit den Hunden japst und fiept der Vierbeiner in mir. Er will, er bettelt und jammert. Angst, dass ich ihn überwinden muss, habe ich keine. Denn zum Glück gibt es zwischen halben und ganzen Sachen auch noch anderes. Zum Beispiel in Muttenz. Dort machen Christoph Dipner mit seinem treuen Helferteam beim Muttenz Marathon gar keine halben Sachen. Dafür gibt es nebst Marathon und 3/2-Marathon die selten angebotene Distanz des 2/3-Marathons. Wie für mich gemacht. Den Marathon und die vergangenes Jahr erstmals angebotene Ultradistanz kenne ich aus eigener Erfahrung und habe darüber berichtet. Ein Grund mehr, mich im Feld mit der kürzesten Distanz einzureihen. 14km weniger und nur die Hälfte der Höhenmeter scheinen mir als Einstieg und erster Formtest geeignet. Die Freude am Laufen will ich mir nicht mit einem zu heftigen Wiedereinstieg vermiesen.
Die detaillierten Informationen verschickt Christoph allen Teilnehmern per Mail. Wer noch mehr wissen muss, dem ist nicht mehr zu helfen. Der Muttenz Marathon darf sich rühmen, die kleinste Laufveranstaltung dieser Art zu sein, handgestrickt ist er beileibe nicht. Es ist alles bestens organisiert.
Gemächlich angehen lassen kann ich es auch mit der Anreise. Die Ultras starten gestaffelt um 8.00 Uhr herum, die Marathonis um 10.00 Uhr und wir beschließen den Startreigen eine halbe Stunde später. Erstmals wird in diesem Jahr eine kleine Startgebühr erhoben, dafür wird bei der Startnummernausgabe gleich noch ein Gutschein für eine Wurst vom Grill und ein Getränk abgegeben.
Der Durchgang der Ultras nach ihrer ersten langen Schlaufe (21 km) und der Start der Marathonis sind aufeinander abgestimmt und sorgen für Action, bevor ich selbst loslegen darf.
Endlich. Auf diesen Moment habe ich nicht nur gewartet, ich habe mich danach gesehnt. Nur ein Hauch von Ungewissheit schwebt über meiner Entschlossenheit und der Überzeugung, dass ich diese Stufe zum nächsten Marathon heute packen werde. Zurückhaltung habe ich mir auferlegt und tue mich schwer, mich auf dem ersten Kilometer in dieser zu üben. Wie ein praller Luftballon, dessen Ventil man loslässt, komme ich mir vor. Der angestaute Druck muss raus. Lang genug habe ich auf diesen Augenblick gewartet.
Am westlichen Ende von Muttenz, nach zwei Kilometern, wartet Ricarda nach einem kleinen unbeabsichtigten Umweg auf uns. Sie braucht Kilometer und hat deshalb schon die Ultrarunde mitgemacht, muss aber am späteren Nachmittag wieder zum Dienst antreten und bietet mir an, mich bei meinem Wiedereinstieg zu begleiten.
Die Bedenken, dass ich vor lauter Unterhaltung vergesse zu fotografieren, sind nicht sehr ausgeprägt, denn das Wetter sorgt diesbezüglich für genügend Einschränkungen. Regenschauer werden heute dazugehören. Wenn das jemanden oder etwas stört, dann höchstens meine Kamera. Zudem bewege ich mich heute auf bereits bekannten Strecken, welche ich in den vergangenen drei Jahren bei schönem Wetter ausführlich bildlich festgehalten habe.
Der Weg in nördliche Richtung, der Birs entlang, kommt mir vertraut vor. Wären nicht wieder so viele Hunde am Spielen, würde etwas fehlen. So ausgelassen wie sie spielen fühle ich mich. Ihre Körpersprache und unsere werden gegenseitig verstanden. An diesem grünen Streifen am Rand der Stadt Basel kommen wir Zwei- und Vierbeiner auf unsere Rechnung und Ricarda und ich haben unser Gesprächsthema für den weiteren Weg zum Rhein und hinauf zum Kraftwerk Birsfelden, wo der erste Verpflegungsposten auf uns wartet.
Der Kommentar der freundlichen Helfer lässt keinen Zweifel, dass ich wiedererkannt werde; weniger wegen der Kamera, mehr wegen des Plauderns beim Laufen.
Die leichten Beschwerden sind nach drei Kilometern verschwunden. Ich laufe wieder, es läuft und ich freue mich. Träge fließt uns der Rhein entgegen, ruhig vertäut liegen die Transportschiffe am Ufer, in den Verladeterminals ist samstägliche Stille. Noch bewege ich mich auf der Laufstrecke nicht mit der gleichen leisen Eleganz des Schwans auf dem Wasser, doch es geht mir gut. Abgesehen davon, dass die Temperatur fürs Laufen geradezu ideal ist, machen mir die sich immer wieder entleerenden Wolken keine Mühe. Für mich scheint die Sonne.
Bei Schweizerhalle wird vom Rhein Abschied genommen und beim Restaurant Saline die Kantonsstraße gesichert überquert. Ein Restaurant brauche ich nicht, der nächste Verpflegungsposten ist auch gleich hier und Salz kann ich auf der Oberlippe gewinnen. Wir sind nicht in Eile und bleiben auf einen Schwatz und ein paar Fotos stehen, bevor wir uns auf den weiteren Weg machen. Dieser führt durch Industriegebiet, über die Autobahn und mehrere Bahngeleise. Trotzdem sind wir von viel Grün umgeben.
Im äußersten Zipfel des Nachbarorts Pratteln geht es wieder in westlicher Richtung nach Muttenz. Auf dem Radweg geht es an gelb blühendem Raps und saftig grünen Wiesen vorbei, immer mit Blick auf die neuen, frisch und kräftig leuchtenden Blätter des Waldes, welcher die vorderste Ruine auf dem Wartenberg verdeckt. Ihr Anblick bleibt den Startenden, vielmehr den Finishern, der beiden langen Bewerbe vorbehalten. Verdienen müssen sie sich ihn mit einem letzten kräftigen Anstieg auf den Muttenzer Hausberg.
Grün ist auch die Straßenbahn, das Tram, im lokalen Idiom liebevoll „s’Drämmli“ genannt, die mit ihrem dichtem Fahrplan in die Vororte Basels mehrmals an uns vorbeifährt, bis wir wieder mitten im Wohngebiet Muttenz sind.
Der Anblick des Kirchturms der St. Arbogast-Kirche empfängt uns im Dorfkern von Muttenz. Die bunten Ziegel heben sich von den dunklen Regenwolken ab, trotzen ihnen, lassen sich von ihnen ihr Strahlen nicht nehmen. Wenig später laufen wir der die Kirche umgebenden Wehrmauer entlang zu Start und Ziel. Dieser Ort hat den Stürmen der Jahrhunderte getrotzt und in verschiedenster Art Schutz, Zuflucht und Geborgenheit geboten. Ich bin froh, dass ich die läuferische Trutzburg auch wieder verlassen konnte und es mir „da draußen“ so gut geht.
Statt nur am Verpflegungsposten Wasser und Iso in mich hineinzuschütten, wäre es auch angebracht, einen Schritt in die Kirche zu machen und mich stilsicher zu bedanken, dass es wieder läuft. Meine tiefe Überzeugung, dass es keinen bestimmten Ort braucht, um seine Anliegen und seinen Dank auszusprechen, lässt mich beim Weiterlaufen kein schlechtes Gewissen haben, dass ich diesen Umweg nicht mache.
Ein kurzes Stück geht es auf schon bekannter Strecke, dann geht es für die zweite Schlaufe links ab. An gepflegten Eigenheimen vorbei steigt die Straße kräftig an. Ricarda, vor einer Woche mit einer Spitzenplatzierung beim Marathon in Düsseldorf dabei, passt sich an und wechselt mit mir ins Gehen. Auch ohne Anstrengung des Laufschritts werden wir weiter oben mit schöner Aussicht auf Streuobstwiesen und Pferdeweiden belohnt. Dass es wieder regnet, stört mich nicht. Dieses Nass ist nicht in der Lage, die Sonne, die in mir leuchtet, zum Erlöschen zu bringen. Und wenn ich alle Zeit brauchen würde, die bis zum Zielschluss zur Verfügung steht, mir wäre es egal. Hauptsache, ich bin wieder dabei. Deshalb verweilen wir zu einem weiteren Schwatz beim nächsten Verpflegungsposten.
Wie ich wieder dabei bin, zeigt im Wald danach das Kilometerschild am Rand der Forststraße. Zwanzig solcher Einheiten liegen schon hinter mir und ich fühle mich gut. Alles ist im grünen Bereich, der Chefarzt hat gute Arbeit an der Sache selbst geliefert und auch der operative Kollateralschaden ist kaum mehr zu spüren. Aus dem Wadenansatz kommt zwar die Botschaft, dass in jener Region ein Defizit besteht. Verwundert mich das? Überhaupt nicht.
Mit dem ausgelobten Bergpreis bei der Schönmatt habe ich in keiner Weise etwas zu tun. Klar, es gibt immer noch höhere Ziele. Ich für meinen Teil fühle mich genug beschenkt, dass ich überhaupt an einer Marathonveranstaltung nicht nur dabei sein, sondern mitmachen kann. Auch wenn es noch nicht die volle Distanz ist.
An Obstgärten vorbei geht es in den Wald hinein, in Richtung Egglisgraben. Das Kilometerschild 25 und der Wunsch, dieses bildlich festzuhalten, ist Anlass für den ersten Halt, für den zweiten ist es wenig später Urs Schüpbach. Er ist daran, große Banner für den Swiss Jura Nature Trail aufzuhängen. Die Spezialisten fürs Trailrunning im Schweizer Jura warten mit einer neuen Strecke auf, die unweit von hier startet. 50km und 100km sind im Angebot, wer mehr braucht, kann am zweiten Tag das gleiche in umgekehrter Richtung wiederholen. Als kleiner, von Individualisten gestemmter Anlass ist es nicht einfach, gegen die anderen Veranstalter zu bestehen, zumal diese ihre Läufe nun auch auf das erste Juli-Wochenende gelegt haben. Wer bei einem Ultralauf ohne hochalpine Komponente auf zahlreiche Höhenmeter kommen will – damit auch weniger vom Wetterglück abhängig ist – sollte sich die Modalitäten dieses Trails in „Klein-Kanada“ mal genauer anschauen.
Das Restaurant Egglisgraben kann ich rechts liegen lassen, weil ganz in der Nähe nochmals ein Verpflegungsposten aufgebaut ist. Trotz genügender Flüssigkeitszufuhr von außen genehmige ich mir nochmals einen Becher Wasser, bevor wir uns auf die verbleibenden zwei Kilometer machen. Es gäbe die Möglichkeit den Helfern einen Gesinnungswandel anzukünden und ein Upgrade zum Marathon vorzunehmen. Im Zeitlimit dafür bin ich, übertreiben will ich nicht.
Frühlingsflor und Rebenschösslinge entlang des weiteren Wegs verdeutlichen, dass die Natur im vollen Saft steht. Ich will das nicht mit mir vergleichen. Eindeutige Parallele ist jedoch, dass die Ruhephase um ist und sich wieder etwas bewegt. Wie der Winzer zu den Reben schaut und mit dem Ausbrechen von Trieben zu gutem Ertrag bringt, muss ich nun das, was sportlich wieder läuft, sorgfältig pflegen, damit ich wieder dort anknüpfen kann, wo ich es mir vorstelle.
Aus den Rebbergen hinaus, hinunter ins Dorf lassen wir es nochmals krachen und sprinten richtiggehend zum Ziel. Aha, da geht noch was. Mit diesem guten Gefühl stehe ich wieder vor der Kirche. Mehr noch, der Gedanke, dass ich mir vorstellen kann, die dritte Schlaufe auch noch in Angriff zu nehmen, gibt mir Zuversicht, dass ich fit genug bin, um in zwei Wochen in Bad Waldsee die ganze Distanz über die Runden zu bringen.
Auf die Dusche im Hallenbad verzichte ich. Geduscht werden wir an diesem Nachmittag noch ein paar Mal. Lieber ziehe ich mir trockene Kleider über und verbleibe am Mittelpunkt des Geschehens, unterhalte mich mit Leuten, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe, und mit Mike aus North Carolina, applaudiere den ankommen Läufern der verschiedenen Bewerbe und stoße auf meinen geglückten Teil-Wiedereinstieg an. Ich zähle nicht, wie oft wir von den Festbänken unter freiem Himmel unter die Partyzelte wechseln, weil wieder ein Gewitter oder ein Schauer über uns hinzieht. Für mich scheint einfach die Sonne.
Ich hoffe, dass ihre Strahlen alle die erreichen, die mich auf irgendeine Weise in meiner lauflosen Zeit aufgemuntert und unterstützt haben. Ich freue mich darauf, mit euch gemeinsam loszulaufen. Vielen herzlichen Dank!
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