Für mich begann alles mit einem Artikel aus dem örtlichen Anzeiger über die zweite Austragung des Muttenz-Marathons, den mir meine Eltern mitbrachten, und ich sah, las und lief.
Für Christoph Dipner, den Initiator, begann es ein bisschen früher. In den Jahren 2005 und 2006 fand der Basel City Marathon statt. Einmal ist keinmal, nach dem dritten Jahr ist es Tradition. So weit kam es nicht, nach der zweiten Austragung mussten die Organisatoren die Segel streichen. Sie hatten Miese gemacht, die Stadt war nicht bereit, auf die ausstehenden Gebühren für bezogene Dienstleistungen zu verzichten und der Ofen war aus.
In diesem gescheiterten Versuch wurzelt eigentlich die Idee des Muttenz Marathon. Im Gegensatz zu dem mit großer Kelle angerührten Flop hat dieser den Anspruch, mit minimalem Aufwand und möglichst ohne Kosten ein spezielles Marathonerlebnis zu bieten. Der Mut hat sich ausgezahlt, zweimal hat die Veranstaltung nun stattgefunden und die Chancen stehen gut, dass sie so zur Tradition wird.
Christoph ist sozusagen der Missing Link zwischen dem heldenhaften Meldeläufer, dessen Mythos wir diese Sportart zu verdanken haben, und dem modernen Marathonläufer. In seinem die Existenz sichernden Leben arbeitet er als Meldeläufer, indem er bei der großen gelben Firma mit dafür sorgt, dass alle nicht in elektronische Form zu bringenden Botschaften und Pakete ihren Empfänger erreichen. Daneben ist er ein begeisterter Läufer, bei welchem sich Werner Sonntags Prophezeiung in Sachen Biel letztes Jahr erfüllt hat.
Vor der Erstauflage vor einem Jahr wurde er in der Presse belächelt, nachher war ein Unterton von Häme nicht zu überhören. Sieben Teilnehmer… Der Stachel in Sachen Marathon saß in Basel offenbar tief, und jetzt erdreistet sich einer vor den Toren der stolzen Stadt, im ländlichen Halbkanton dazu, zu beweisen, dass weniger auch mehr sein kann. Eine weitere Schmach 175 Jahr nach der Schlacht bei der Hülftenschanz, die zur Konstituierung des Halbkantons Basel-Landschaft, kurz Baselland genannt, geführt hat?
Nun, die medialen Totengräber haben Christoph nicht davon abbringen können, der ersten Austragung eine zweite folgen zu lassen. Eine Woche vor besagtem Tag zeichnete sich sogar fast eine Verfünffachung der Teilnehmerzahl ab, wobei ein Drittel über die zusätzlich angebotene 2/3-Distanz gemeldet war..
Es ist alles eine Frage der Organisation. Aber wie oben beschrieben, macht die Leidenschaft für Marathon erfinderisch. Obwohl ich es mir sonst zurzeit nicht einrichten kann, an einem Samstag an einem Marathon teilzunehmen, bekomme ich es heute auf die Reihe. Ich habe das Glück, dass meine Eltern keine zweihundert Meter von der Strecke entfernt wohnen und sie sich immer wieder über unseren Besuch freuen. Mit den Töchtern und meiner Trainingspartnerin auf vier Pfoten reise ich an und gehe zum Start mitten im Dorf, wo sich die Lauffamilie auf einem Parkplatz trifft und die Startnummern übernimmt. Dazu unterschreiben alle eine Enthaftungserklärung, womit man auch anerkannt, dass keine Straßen gesperrt sind und alle für ihre diesbezügliche Sicherheit selbst verantwortlich sind.
Nach einem kurzen Briefing stellen wir uns an der Startlinie auf und warten auf den Count-down, bevor wir uns pünktlich auf die erste der drei Schlaufen machen. Diese führt uns auf einer ruhigen Quartierstraße in westlicher Richtung zur Birs hinunter, welche auf einer gedeckten Holzbrücke überquert wird. Auf einem Spazierweg geht es diesem kleinen Fluss entlang, am St.Jakob-Park vorbei, welcher als eines der Stadien der Euro08 auch bei Fußballfans Bekanntheit erlangte, die nicht zum Anhängerkreis des FC Basel gehören. Beim Birsköpfli, wo die Birs in den Rhein mündet, wechseln wir nach einer scharfen Biegung über eine Fußgängerbrücke wieder auf die rechte Seite der Birs. Diese Holzbrücke ist neueren Datums und ungedeckt und trotzdem vermutlich dauerhafter als die Design-Hängebrücke nebenan, von welcher nur noch Überreste stehen. Der Rest musste wegen akuter Einsturzgefahr entfernt werden.
Bei mir besteht weder Einsturz- noch Einbruchgefahr, denn bei der Schleuse des Kraftwerks, nach einem Achtel der Strecke ist der erste Verpflegungsposten. Bereits hier gibt es, wie auch bei allen anderen Posten, Iso und Wasser.
Weiter geht es dem Uferweg entlang Rhein aufwärts am Birsfelder Hafen vorbei, wo ein großer Teil des Ölbedarfs für die Schweiz gelöscht wird. Auf unserer Seite ist Industrie, am gegenüberliegenden Ufer präsentiert sich die Gegend in saftigem Frühlingsgrün, zwischen welchem der Hörnlifelsen thront. Wir laufen in der Schweiz und schauen hinüber nach Deutschland.
Zu viert sind wir in einer lockeren Gruppe unterwegs und unterhalten uns gut. Eigentlich sogar zu fünft, aber die Fünfte im Bund sagt nicht. Es ist meine spanische Terrier-Windhund-irgendwas-Mischlingshündin, die es still genießt, in unserem Rudel mitzutraben.
Beim zwölften Kilometer, mittlerweile haben wir uns vom Rhein verabschiedet und sind im ersten von zwei Industriegebieten in Pratteln, stoßen wir beim Verpflegungsposten auf die Gruppe, in welcher die beiden richtigen Damen des Marathon-Feldes laufen. Den Anschluss verpasse ich allerdings, weil ich meine vierbeinige Dame vergeblich davon überzeugen will, dass ein Schluck Wasser jetzt wirklich angebracht wäre. Etwas nervös tigert sie um mich herum und ich gebe meinen Versuch auf. „Endlich“, scheint sie zu sagen, als ich wieder loslaufe, und sie fällt wieder in ihren ruhigen gleichmäßigen Trab.
Der erste Läufer, zu welchem ich wieder stoße, ist Dominique in seiner bunten Latzhose, der heute seinen ersten Marathon läuft. Ich wünsche ihm alles Gute und probiere, die mir enteilte Gruppe wieder einzuholen, was mir auf der Brücke über der A2, dem direkten Weg von Basel in den Süden, auch gelingt. In den Süden brauchen wir nicht zu fahren, es ist herrlich sonnig hier und doch nicht zu warm.
Jetzt kommt noch nochmals Industrie, Teil zwei, in welchem wir auf einer Passerelle ein paar Höhenmeter sammeln, als wir die Bahnlinie überqueren. Bald geht es aber wieder auf einem Radweg der Tramlinie entlang zurück nach Muttenz. Das Timing stimmt, zumindest was das Treffen der Familie betrifft, an welche ich nach fünfzehn Kilometern meine Laufbegleiterin übergebe. Ihrem Blick nach zu schließen, könnte ich sie auch auf die zweite Schlaufe mitnehmen.
Links oben, auf dem Wartenberg, sehen wir die vordere der drei Ruinen. Auf der dritten Runde werden wir dort vorbeikommen und die letzten zwei Kilometer in Angriff nehmen. Nun aber geht es weiter nach Muttenz, wo wir uns nach 17 Kilometern beim Zieldurchlauf verpflegen und die zweite Schlaufe in Angriff nehmen. Diese führt bald in eine Steigung, hinauf in ein kurzes Waldstück und gibt einen Vorgeschmack auf die knapp 300 Höhenmeter, welche bis zum nächsten Zieldurchlauf folgen werden. Auf dem Weg zum höchsten Punkt der Strecke säumen saftig grüne Wiesen, gespickt mit leuchtend gelbem Löwenzahn, die Straße. Die Blüte der zahlreichen Kirschbäume neigt sich zwar dem Ende zu, trotzdem gibt es noch einige dieser hellen, frischen Tupfer in der Landschaft.
Die Pferde auf den Koppeln geben ein friedliches Bild ab. Man könnte sich irgendwo weit draußen in der Natur wähnen, wenn nicht das Drehen des Kopfs nach links den mit edlen Häusern bebauten Hang neben den Rebbergen auf der anderen Talseite und die Industriegebiete ins Blickfeld rücken würden. Und der Blick zurück macht deutlich, dass wir uns vor den Toren einer Großstadt befinden – zumindest nach schweizerischen Maßstäben. Und weil eine Großstadt einen Stadtmarathon braucht, wird im nächsten Jahr wieder einer stattfinden, aufgegleist von erfahrenen Leuten der Laufszene. Der Präsident des Organisationskomitees, Adrian Schlatter, ist heute in einer praktischen Weiterbildung, er läuft nämlich im Moment an der Spitze mit und tankt in Muttenz weiteren Mut für das große Unterfangen.
Die Kraft der Sonne ist nach dem langen Winter noch etwas ungewohnt, weshalb mir ganz gelegen kommt, dass es weiter bis zum höchsten Punkt fast nur noch durch den Wald geht, wo die Bedingungen perfekt sind. Mittlerweile bin ich schon eine Weile alleine unterwegs. Vor mir die eine Dame, hinter mir die andere, die ich dann wieder sehe, als ich bei der Schönmatt einen längeren Fotohalt einlege, um die Reihen von Bäumen in voller Blüte festzuhalten. Damit verbunden sind auch ein Austausch der Batterien und ein Gespräch mit Wanderern. Als Annegret zu mir aufschließt, ist mir klar, dass ich den Rest der Strecke mit ihr zusammen laufen werde. Einsame Runden kann ich wieder in meinen Trainingsgründen drehen.
Gemeinsam rollen wir an zwei weiteren Verpflegungsposten vorbei nach Muttenz hinunter, durch den Wald, übers Feld, durch die Rebberge und dann durch die edlen Wohnquartiere, die ich vorher schon aus der Weite gesehen habe. Die zu den Villen gehörenden Edelkarossen sind offenbar alle in den Garagen oder bei einem Golfplatz geparkt, jedenfalls haben wir auf den Quartierstrassen ohne Gehsteig freie Bahn.
Schon wieder nähern wir uns der Dorfkirche und damit dem Ausgangspunkt und dem Start zur dritten Schlaufe. Die weitsichtigeren, routinierten oder gut beratenen Teilnehmer unter uns haben hier ihre individuelle Verpflegung bereitgestellt, mit welcher sie die regelmäßige Abgabe von Iso und Wasser ergänzen. Da ich im Sinn habe, im November den „Frauenfelder“ als Waffenläufer zu bestreiten, führe ich meine Ration im Trinkrucksack mit und beginne mit der Angewöhnung an die zu tragende Packung mit Gewehr, allerdings nur mit einem Drittel der dort zu tragenden 6,5 kg.
Die dritte Schlaufe ist zu Beginn identisch mit der ersten. Bei der gedeckten Holzbrücke bleiben wir aber am östlichen Ufer und gehen ein Stück flussaufwärts, bevor wir uns im Wald wieder einen Höhenmeter nach dem anderen gutschreiben lassen können. Wir treffen auf einen Streckenabschnitt den wir aus der ersten Runde schon kennen, dürfen aber nach kurzer Zeit links halten, wo es zuerst wieder abwärts geht. Es warten aber noch zwei Anstiege auf uns, die sich auch auf dieser Schlaufe zu fast 300 Metern kumulieren. Nach dem ersten biegen wir wieder auf die schon bekannte Schlaufe ein, der zweite führt uns hinauf auf den Wartenberg, an der vorderen Ruine vorbei und den Hügel umrundend zurück in die Rebberge.
Wer so kurz vor dem Ziel aus dem letzen Loch pfeift, schöpft hier sicher neuen Mut, denn der Weg heißt „Weg der Hoffnung“ und wird von einer anmutigen Skulptur geschmückt. Ein Wanderer möchte Annegret und mich etwas fragen. Der Anstand und unser Motto „Genuss statt Geschwindigkeit“ lassen uns kurz innehalten.
Die Annahme, dass wir eine Frage in einer Angelegenheit der räumlichen Orientierung beantworten sollten, erweist sich als Trugschluss. Es geht dem Rentner nicht um Raum und Zeit, sondern um unser Sein oder Nichtsein. Dem konzentrierten Missionierungsversuch versuchen wir uns mit dem Hinweis zu entziehen, dass wir eigentlich hier sind, um den Muttenz-Marathon zu laufen. Der gute alte Paulus hat zwar gesagt, dass wir so laufen sollen, dass wir den Siegerpreis bekommen. Darauf können wir uns nicht ehrlich berufen, dazu ist es jetzt definitiv zu spät. Aber er hat auch gesagt: „ So halte ich mir stets das Ziel vor Augen und laufe mit jedem Schritt darauf zu.“ Ich bemerke deshalb noch, dass ich denke, dass ich in jeder Hinsicht das Ziel vor Augen habe und den Weg kenne. Und weil ich diesen Überzeugungen treu bleibe, verabschiede ich mich zusammen mit Annegret von dem Wandersmann und mache mich auf die verbleibenden eineinhalb Kilometer bis zum Ziel.
Ein letztes Mal laufen wir zwischen den Reben und sehen die Weinbauern bei der beschwerlichen Pflege der Rebberge. Auf einer Informationstafel ist aufgeschlüsselt der Aufwand für die Bewirtschaftung eines Hektars Rebberg zu lesen. Ob der Sieger bei seinem Tempo diese Tafel auch gesehen hat und sich daran erinnert, wenn er den Siegerwein genießt?
An einem hübsch geschmückten Brunnen ist die Tafel, welche den zweiundvierzigsten Kilometer markiert. Jetzt noch schnell die Kamera in den Anschlag nehmen und ein Bild von Annegret machen, bevor wir gemeinsam die Ziellinie überqueren.
Wenige Minuten nach unserer Ankunft findet im Restaurant des Hallenbads, wo auch die Garderoben benutzt werden können, bereits die Siegerehrung statt. Ich kann Annegret die Kamera mitgeben, damit ich auch davon ein paar Bilder habe. Während sie sich aufs Fahrrad schwingt und davonbraust, laufe ich zu der Privatgarderobe bei meinen Eltern. Dass sich meine Beine dabei immer noch locker fühlen, gibt mir Mut für das, was morgen auf dem Programm steht.
Mit dem Auto fahre ich dann noch zurück zum Kreis der Läufer und Helfer, die auf der Terrasse des Restaurants bei etwas Flüssigem gemütlich beieinander sitzen und übernehme wieder die Kamera.
Soll ich abschließend noch schwärmen und zu einem Loblied ansetzen? Verdient haben es Christoph und die Helfer auf jeden Fall. Andererseits besteht die Gefahr, dass ich diese familiäre Veranstaltung gefährde. Ein paar Teilnehmer kann die Organisation zwar noch verkraften; wenn die Zuwachsrate gleich groß ist wie von der ersten zur zweiten Austragung, wird es schon kritisch. Aber wenn man sieht, welchen Ansturm die Marathons mit begrenzter Teilnehmerzahl haben, könnte sich der Muttenz-Marathon zu einer solchen begehrten Veranstaltung entwickeln. Ich würde es Christoph von ganzem Herzen gönnen, wenn sein Mut auf diese Weise belohnt würde!
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