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Laufberichte

Wochenend' und Sonnenschein

11.11.07
Autor: Klaus Duwe

Na, wie war euer Wochenende, war’s schmuddelig, kalt und hat es geregnet oder sogar geschneit? Schon Horror, wenn ihr an den Winter denkt?


Warum ich frage? Ganz einfach: ich will euch neidisch machen. Packt die Regenjacke weg, holt die Sonnenbrille raus und stellt euch vor: Blauer Himmel, strahlende Sonne, 20 Grad, Wasser, Palmen, Berge …

 

Wo? Am anderen Ende der Welt?
Nö, nur auf der anderen Seite des Gotthard, im Tessin, gut zwei Autostunden von Basel.

 

Typisches Novemberwetter am Samstag, Regen, kalt, Wind. Vor dem Gotthard Schnee, er bleibt auch auf der Autobahn liegen. Gut, dass ich diese Woche Winterreifen montiert habe. Auf der anderen Seite des Tunnels das gleiche. Aber nur ein paar Kilometer weiter Richtung Süden wird es heller, immer heller. Die Sonne scheint, das Thermometer steigt.

 

Am Lago Maggiore nimmt mich eine Herbstlandschaft in Empfang, die man sich nicht schöner malen kann. Rotbraun leuchten Lärchen und Kastanien, dazwischen gelbe Sträucher und Birken, grüne Palmen und Agaven. Ein makellos blauer Himmel und der glitzernde See machen das Bühnenbild perfekt.

 

Ein Spaziergang durch Locarno und entlang des Sees ist die richtige Einstimmung für den Lauf morgen. Der Lago Maggiore ist nach dem Gardasee der zweitgrößte See in Oberitalien, allerdings liegen 20 % und die bekanntesten Städte (Locarno und Ascona) auf der Schweizer Seite.

 

Locarno hat 15.000 Einwohner und war schon im Mittelalter recht wohlhabend. Die Mailänder Familien Visconti und Rusca verteidigten sie lange gegen die Schweizer, anfangs des 16. Jahrhunderts fiel sie dann doch an die Eidgenossen und wurde 1803 Teil des selbständigen Kantons Tessin. Durch den Maggia-Fluß getrennt, liegt westlich der Kurort Ascona.

 

1925 trat Locarno in den Mittelpunkt der Weltpolitik, als die Außenminister aus Belgien, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Polen und der Tschechoslowakei die Locarno-Verträge aushandelten, die Deutschland den Beitritt in den Völkerbund ermöglichten und zunächst wesentlich zur Entspannung in Europa beitrugen. Im Verhandlungssaal im Castello Visconteo ist heute ein Museum eingerichtet.

 

Das Zentrum der Stadt ist die Piazza Grande, ein mit faustgroßen Kieselsteinen gepflasterter Platz, der als der schönste des ganzen Tessin bezeichnet wird. Alle Straßen und Gassen der Altstadt sind auf diesen von Laubengängen mit Geschäften, Restaurants und Cafés umgebenen Platz ausgerichtet. Hier findet nicht nur das berühmte Filmfestival statt, sondern viele andere open-air-Veranstaltungen, zu denen sich bis zu 7.000 Menschen einfinden. Ursprünglich lag der Platz direkt am Seeufer. Aber die Maggia schwemmte immer mehr Geröll und Erde in den See und Locarno als auch Ascona wuchsen so mehr und mehr in den See hinein.

 

Die Marathon-Veranstalter konzentrieren sich ganz auf den Sport und haben kein Rahmenprogramm mit Pasta-Party oder ähnlichem vorgesehen. Deshalb hole ich mir meine Startunterlagen im eidgenössischen Sportzentrum in Tenero. Mit der Startnummer bekommt man einen Beutel mit Banane, Riegel und einem Getränk. Aber nicht gleich aufessen, das ist für morgen. Denn auch nach dem Zieleinlauf verzichtet der Veranstalter auf eine umfangreiche Versorgung.

 

Am Abend bin ich in Locarno, wo ich wieder im Hotel Montaldi beim Bahnhof Quartier beziehe. Ebenfalls als Stammgast betrachte ich mich in dem Marktrestaurant in der Nähe, in dem es nicht nur ein Nudel-Buffet gibt, sondern wo man sich die frischen Zutaten für die Soße selbst aussuchen kann. Alles wird dann appetitlich vor den Augen der Gäste zubereitet. Selten habe ich bessere Pasta gegessen und selten mehr.

 

Die wenigen Kilometer nach Tenero hat man Sonntag in ein paar Minuten geschafft. Rund um das große Sportzentrum, in dem es auch Übernachtungsmöglichkeiten gibt, und dem großen Einkaufszentrum der Coop gibt es genügend Parkplätze. Die Infrastruktur ist perfekt. Das kleine Café ist gut besucht, für ein zweites Frühstück ist alles gerichtet: Espresso, Panini und Corno, fertig, mehr braucht kein Italiener. Und die sind hier in der Überzahl. Fast 500 der insgesamt nahezu 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus dem Nachbarland im Süden, ungefähr 300 aus Deutschland. Ein Sprachproblem gibt es nicht, alle wichtigen Informationen gibt es in deutsch, französisch und italienisch, außerdem sprechen die meisten Helferinnen und Helfer deutsch.

 

 Das Wetter ist ideal, die Sonne scheint, aber noch sorgen einstellige Temperaturen bei mancher(m) für Gänsehaut. Die Kleiderfrage ist bei mir schnell gelöst: oben und unten lang, was anderes habe ich gar nicht dabei. Ist auch angemessen bei 11 Grad Höchsttemperatur, die mir mein liebster Wetterdienst vorher gesagt hat. „Könnte ein bisschen warm werden“, meint einer, nachdem er mich von unten nach oben gemustert hat. Aber davon will ich (noch) nichts wissen, ich friere.

 

Um 9.15 Uhr wird der Marathon gestartet. Mit im Teilnehmerfeld sind die schnellen Halbmarathonläufer. Der Rest der über 1500 „Halben“ startet in zwei Blöcken 15 Minuten später.

 

Die erste Schleife führt uns hinaus in die fruchtbare Magadino-Ebene, vorbei an abgeernteten Maisfeldern, Wiesen und Gewächshäusern. Bis auf einen kurzen Anstieg nach einer Unterführung bei Kilometer 3 ist die Strecke vollkommen flach und durchgängig asphaltiert. Rechts ist ein kleiner Flugplatz, links hat man einen herrlichen Blick in das weite Tal und auf die Berge. In einiger Entfernung sind vereinzelte Bauernhöfe zu sehen. Es ist ruhig, Zuschauer sind keine unterwegs, nur die Servicekräfte tun ihre Pflicht und feuern uns an: „Forza, forza“.

 

Nach vier Kilometern geht es nach einer scharfen Linkskurve zurück Richtung Tenero. Es wird hektisch, die Halbmarathonläufer haben den Rückstand aufgeholt und überholen jetzt massenweise. Über den fast ausgetrockneten Fluss führt eine moderne Brücke mit mächtigen Stahlbogen. Natürlich kommt gleich der Spruch: „Ja, sind wir denn in New York?“

 

Gleich bei der ersten Verpflegungsstelle gibt es das volle Programm aus dem Sortiment der Sponsoren Coop und Rivella: Wasser, Tee, Marathon-Getränk (warm!), Riegel, Bananen und Zitronen. Längst habe ich mir meine Jacke um die Hüften gebunden, die langen Ärmel meines Unterhemdes sind bis zum geht-nicht-mehr noch oben gestreift. Könnte ich doch mit meiner Hose genau so verfahren.

 

Wir kommen zum Einkaufszentrum und laufen auf einer Nebenstraße zunächst Richtung Lago Maggiore (km 10,5), dann aber auf die B 13 Richtung Locarno. Die Organisatoren haben sich zu dieser Änderung entschlossen, um dem durch die Schweizer Marathonmeisterschaften größer gewordenen Elitefeld eventuelle Behinderungen auf der traditionellen Pendelstrecke entlang dem See zu ersparen. Das mag zwar sinnvoll und praktisch sein, schön ist es aber nicht.

 

Zwar haben wir von der höher liegenden Verkehrsstraße zunächst noch einen sehr schönen Blick auf den See und den Uferweg, aber bald fehlt uns diese Attraktion und wir haben nur eine 08/15-Verkehrsstraße durch ebensolche Wohngebiete, die noch dazu deutliche Steigungen aufweist. Weil ich ein vorausschauender Mensch bin, graut mir schon vor der zweiten Runde.

 

Beim Bahnhof geht es dann endlich links zur Uferpromenade und dann am Casino vorbei zur schon beschriebenen Piazza Grande. Die Tortur über das Pflaster bleibt unseren Füßen aber erspart, wir laufen an der Post links und dann durch ein paar enge Gassen, bis wir plötzlich das geschichtsträchtige Castello Visconteo vor uns sehen. Das muss einmal eine riesige Anlage gewesen sein, denn das, was heute noch zu sehen ist, soll nur ein Fünftel der ursprünglichen Burg sein. Die Unterhaltskosten waren aber so gigantisch, dass man schon im 16. Jahrhundert mit dem teilweisen Abriss begann und dafür an gleicher Stelle Wohnhäuser errichtete.

 

Wir tauchen noch tiefer in die Geschichte der Stadt ein, denn die Ruinen aus der Römerzeit liegen gleich gegenüber. Zum Studium der vielen Hinweistafeln bleibt keine Zeit, einmal im Kreis um den Runden Platz (km 15), dann hat die Stadt und gleich darauf der See uns wieder. Endlich, denn ehrlich gesagt, deshalb bin ich hier.

 

Die Stadt entfaltet an der Uferpromenade ihr mediterranes Flair. Das Leben spielt sich im Freien ab, Straßencafés und Restaurants sind gut besucht, Spaziergänger flanieren am Wasser und genießen auf Bänken die wärmende Sonne. Heute bietet das bunte Läufervolk eine willkommene Abwechslung. Es gibt aber keine nennenswerten Zuschaueransammlungen, auch keine „Actionpoints“ mit Musik und Trommlern. Ein „Bravi“ oder ein aufmunterndes „Forza, forza“ ist aber immer drin.

 

Auf dem teilweise schmalen, von Palmen und bunten Kastanien- und anderen Laubbäumen gesäumten Uferweg geht es weiter, immer dem tiefblauen See entlang. Links stehen prachtvolle Villen und Appartementhäuser. Im Tessin hatte die Kastanie eine ganz besondere Bedeutung und wurde als der Baum schlechthin bezeichnet. Die Römer brachten sie aus Asien nach Europa. Im Tessin konnte man unter mehr als 50 Sorten unterscheiden, die auf verschiedenen Höhen wuchsen und noch heute 20 % der Waldfläche ausmachen. Viele Menschen im Tessin ernährten sich bis in die 1940er Jahre zeitweise hauptsächlich von Kastanien.

 

Die Chiesa San Quirico fällt auf, deren romanischer Glockenturm einst als Wachturm konzipiert war. Die heute noch erhaltene Kirche wurde im 18. Jahrhundert im barocken Stil erbaut, aber im Inneren sind noch Reste und Gemälde einer bereits 1313 erwähnten Kirche erhalten. Gleich daneben gibt es eine Kaserne (Cà di Ferro), in der im 16. Jahrhundert Söldner geschult wurden. Die dazu gehörige Kapelle stammt aus dem Jahr 1630.

 

Zwischendurch lässt man den Blick über den See schweifen, auf die im Winterquartier festgemachten Boote, auf stolze Schwäne und auf die Berge am anderen Ufer. Es ist einmalig schön, fast noch schöner, als ich es in Erinnerung und mir gewünscht hatte. Die Zeit vergeht im Flug. Schon sieht man das Seeufer von Tenero, wo unweit davon das Sportzentrum ist. Nur 1500 Meter sind es noch, als wir den See verlassen und uns noch einmal an einer Verpflegungsstelle erfrischen.

 

Viele Zuschauer bejubeln die Läuferinnen und Läufer, links laufen die „Halben“ ins Ziel, rechts geht es für die Marathonis auf die zweite Runde. Wie ein Exote komme ich mir vor, als ich mich gut gelaunt, aber als einziger weit und breit auf den weiteren Weg mache.

 

Eben ruft mir noch  ein Kollege „durchalten“ zu, da biege ich rechts zum Auto-Parkplatz ab. Was wird der denken? Ich werfe meine Jacke und mein Langarmhemd ins Auto und ziehe mir das neue Ticino-Marathon-Shirt über, das dieses Jahr zum Glück aus Funktionsfaser ist. Schon besser, jetzt kann es weiter gehen.  


Jetzt ist es ruhig auf der Strecke, Zeit zum Schauen und für Gedanken. Natürlich ist der Abschnitt auf der Verkehrsstraße nach Locarno physisch und psychisch schwer verdaulich und ich wünsche mir, es geht beim nächsten Mal wieder hin und zurück am See entlang. Nur für mich wird an der großen Kreuzung in Locarno der Verkehr angehalten. Ich genieße meinen Sonderstatus und zeige meinen besten Laufstil.

 

Fast 20 Grad werden um die Mittagszeit erreicht. Am See sind jetzt noch mehr Menschen unterwegs. Bestaunt und beklatscht ziehen die Marathonis ihre Bahn. Der Zieleinlauf im Sportzentrum ist dann unspektakulär, aber zweckmäßig. Zeitnahme, Getränkeempfang, das war’s. Ich bin kein Freund der mal mehr und mal weniger geschmackvollen Medaillen. Aber hängt mir so ein Ding am Hals, weiß ich, ich habe es wieder geschafft. Das fehlt hier, sonst aber nichts.

 

Auszug aus der Ergebnisliste

Schweizer Marathonmeisterschaften
Männer

 


1. Invernizzi Bruno, 1971, Quartino -  2:28.54,0
2. Seiler Christoph, 1969, Unterseen -  2:29.08,8
3. Hunold Pius, 1968, Benken SG  -  2:30.19,4

 

Frauen

 


1. Morceli Patrizia, 1974, Cham -  2:49.49,7 
2. Vollenweider Stephanie, 1976, Zofingen -  2:51.47,2 
3. Pliska Maja, 1978, Biel-Benken BL  - 3:01.45,1

 

Teilnehmer:
Ungefähr 2000 insgesamt.
Finisher: 397 Marathon, 1453 Halbmarathon

 

Veranstaltungszentrum:

Centro Sportivo Nazionale della Gioventù, Tenero


Streckenbeschreibung
Rund mit zwei Schleifen (Magadino-Ebene und am Lago Maggiore entlang nach Locarno), für Marathonis zweimal zu durchlaufen.

 
Starterpaket

T-Shirt, Verpflegungsbeutel mit Getränk, Banane und Riegel

 
Logistik
Parkplätze ausreichend in der Nähe des Sportzentrums, dazu Duschen und Umkleidemöglichkeiten

 

Zeitnahme
Data Sport

 

 

Informationen: Maratona Ticino
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