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Laufberichte

Wundertüte BC

 

Zu den wichtigsten Regeln für uns Teilnehmer zählt es, dass wir entlang der Langlaufloipen nur ganz am Rand laufen sollen, also die Spur auf gar keinen Fall beschädigen dürfen, da sonst die Genehmigung der nächsten BC auf dem Spiel steht. Doch auch hier beim Königskrug liegt dieses Mal zu wenig Schnee für eine Loipe. Was war das 2010 für eine heftige Plackerei, als wir uns teilweise durch knietiefen Schnee neben der Spur entlang mühten!

Vor wenigen Tagen hatte der Wetterbericht angekündigt, dass wir heute den ganzen Tag über viel Regen bekommen. Gestern hieß es dann, dass erst ab 13 Uhr leichte Niederschläge zu erwarten sind.  Überraschend bleibt es bis 15:50 Uhr aber völlig trocken. Zum Glück bin ich nun schon über der Schneefallgrenze, so dass ich statt im Regen plötzlich im dicksten Schneefall stehe.

Immer wieder bleibe ich stehen, um das Schneegestöber zu fotografieren und zu filmen. Da ich von meinen Läufen auch kurze Filme drehe, die unter meinem Namen (und seit letzten Mai auch mit eigener Musik) auf youtube stehen, komme ich nur langsam voran und andere Läufer überholen mich.

Weiter oben ist die Loipe dann einigermaßen befahrbar. Tatsächlich kommen uns nun vereinzelt ein paar einsame Langläufer entgegen. Es sieht aber nicht so aus, als würde es ihnen bei diesen Verhältnissen gefallen. Ich dagegen strahle nun wieder vor Begeisterung. Ach wie schön ist die Brocken-Challenge!

Dann folgt ein wirklich toller Single-Trail bergab. Über schneebedeckte Steine und Wurzeln, unter Baumstämmen hindurch, um andere Hindernisse herum, ja, das gefällt mir, so könnte es gerne ein paar Kilometer länger bleiben.

Bei Oderbrück kam ich 2010 an einem schönen Gasthaus vorbei, 2011 stand nur noch die Ruine des abgebrannten Gebäudes, jetzt erkennt man keine Spur mehr davon.

Nach Aufbruch von der letzten Verpflegungsstelle nimmt der Schneefall stark zu. Die Landschaft im Naturpark wird immer uriger, die Bäume rings umher färben sich weiß, der Neuschnee sorgt für angenehm weichen Boden. Märchenhaft! So, genau so, wünschte ich mir auch diese Brocken-Challenge! Die Begeisterung lässt mich zwischen glücklichem Voranschreiten und vielen, vielen kurzen Stopps für Fotos und Filmaufnahmen schwanken. Doch allmählich drängt die Zeit. Wenn schon mein Plan, heute bei Tageslicht das Ziel zu erreichen, gescheitert ist, so will ich wenigstens noch rechtzeitig die Bahnlinie erreichen, um den letzten Dampfzug der Brocken-Bahn zu fotografieren.

Ich verstaue die Kamera in der Hüfttasche des Rucksacks und marschiere schnell voran. Ich weiß, dass nun noch die  „Rampe“, ein bis zu 30 % steiler Aufstieg, bewältigt werden muss. Nach vielen alpinen Trails in den letzten Jahren kommt sie mir heute nicht mehr so schlimm vor wie beim ersten Mal.

Alle Eile scheint vergeblich gewesen zu sein. Als ich oben am Rand der Bahnstrecke ankomme, glaube ich den letzten Zug mit Abfahrt 17:07 Uhr um wenige Minuten verpasst habe. Schade, auf dieses tolle Fotomotiv habe ich mich wirklich gefreut. Doch gleich darauf höre ich ein Dröhnen vor mir und im selben Moment rattert der Dampfzug auch schon kurz vor mir um eine Kurve. So schnell es geht reiße ich die Kamera aus der Tasche, doch als das Objektiv ausgefahren und der Autofokus fixiert ist, erwische ich den Zug nur noch von hinten.

Am Brocken ist seit 1899 der höchste ohne Zahnräder oder sonstige Hilfsmittel erreichbare Bahnhof Deutschlands. Ab 1961 durfte man in der DDR nur mit Passierschein bis Schierke fahren, zum Brocken gab es dann sogar nur noch Güterverkehr. Der 1142 m hohe Brocken, ein sehr beliebtes Ausflugsziel, war wegen seiner Lage an der Grenze zwischen DDR und BRD von 1961-1989 für die Öffentlichkeit gesperrt. Ob in der Zeit auch die Hexen, als deren Hauptversammlungsort er gilt, Flugverbot hier herauf hatten, weiß ich nicht. Erst 1992 wurde wieder fahrplanmäßiger Verkehr mit 700 PS starken Dampflokomotiven aufgenommen.

Während ich den langen, leicht aufsteigenden Weg neben den Schienen entlang marschiere, bricht die Nacht an und der Wind nimmt immer stärker zu. Eigentlich könnte ich jetzt wieder zwischendurch laufen, aber wozu? Ich genieße lieber diese besondere Atmosphäre. Als ich auf die zum Gipfel führende Brocken-Straße abzweige, umgibt mich schon ein heftiger Schneesturm. Erst kurz vor dem Ziel sehe ich durch den starken Nebel die Lichter der Gebäude am Gipfel - eine wahrhaft mystische Stimmung.

Unglaublich, wie sehr der Sturm auf den letzten paar hundert Metern bis zum Gipfel zunimmt! Ich sehe einige fahle Lichter vor mir, höre zum Glück Glocken oder Ähnliches, mit denen die Leute am Ziel empfangen werden. Sonst wüsste ich nicht, in welche Richtung ich nun gehen muss. Der Sturm ist so heftig, dass ich die Brille in die Jackentasche stecken und meine Mütze festhalten muss. Ich wollte unbedingt ein Foto vom Ziel machen, stattdessen kann ich nicht einmal mit offenen Augen in Richtung Ziel blicken, da der Orkan mir die eisigen Flocken mit brutaler Gewalt ins Gesicht bläst.

Aber schier unglaublich: am Ziel stehen tatsächlich noch einige Helfer draußen in der lebensfeindlichen Umgebung und harren tapfer der letzten Läufer. Das sind für mich die wahren Helden des Tages. Wir Läufer müssen uns nur relativ kurz diesem Sturm aussetzen, sie ertragen dies aber lange Zeit über.

Die frühen Finisher kamen heute noch bei einigermaßen gutem Wetter am Gipfel an und haben daher heute den eigentlichen Spaß verpasst.  Ich bin froh, jetzt erst das Ziel zu erreichen, um dieses Erlebnis auf der Habenseite zu verbuchen! Der Sturm ist jetzt so extrem, dass man keine 20 Meter geradeaus gehen kann, ohne einen Schritt zur Seite getrieben zu werden. Die Auseinandersetzung mit solch einer Urgewalt ist ein ganz besonderes Erlebnis. Es begeistert mich. So muss die Brocken-Challenge sein! "Kalt, hart, schön" steht nach wie auf unseren Startnummern. Als Erfinder dieses Slogans will ich es auch so haben, kein Weichspüler-Frühlingswetter wie heute Mittag. Sonnenschein und milde Temperaturen will ich erst im März oder April erleben, aber nicht hier.

Nach 11:58 Stunden erreiche ich als 147. von 159 Finishern das Ziel. Nur sechs Teilnehmer stehen heute als DNF auf der Liste. Florian Reichert schaffte es in 6:44 mit wie bei diesen Wegverhältnissen zu erwartendem Streckenrekord, ebenfalls Rekord lief Gabriele Kenkenberg in 8:35.  

Ein ganz großes Kompliment kann ich allen Läufern vor mir machen. Als langsamer Läufer sehe ich bei vielen Veranstaltungen den Müll der Vorderen auf der Strecke liegen. Heute fand ich 80 km weit keine einzige Gel-Packung oder sonstigen Abfälle. Super!  

Die letzten Meter zwischen Ziel und Eingang des Brocken-Hauses kann man wirklich nur mit den martialischen Worten "kämpfte sich fast ohne Sicht gegen den Sturm voran" beschreiben. Dann kann ich endlich die Tür hinter mir schließen. Es war super!

Trotzdem bin ich froh, nun vorläufig drinnen zu sein. Doch zuerst muss ich noch die steile Wendeltreppe hinauf. Oben wird mir gleich der Sack mit meinen Wechselklamotten gereicht. Als ich den Goethe-Saal betrete, werde ich wie jeder Finisher mit Applaus empfangen. Aber auch mit dem Spruch, den ich vom letzten Mal schon kenne: "Du musst noch einmal raus, Du hast vergessen, dich am Ziel in die Liste einzutragen". Nein, diesen Scherz kenne ich schon! Schlange stehen vor der Dusche (dieses Mal sogar mit heißem Wasser!!!), trockene Sachen anziehen, Pasta und Obst vom Buffet, ein alkoholfreies Bier, viele nette Gespräche, schon ist eine Stunde vorbei. Zeit, sich wieder dem Blizzard auszusetzen!

Wer früh genug das Ziel erreichte, konnte auch mit dem Zug hinab nach Schierke fahren, ein paar Läufer übernachten hier oben im Brockenhaus, für die meisten folgt nun aber der lange Marsch auf der Brockenstraße hinab nach Schierke. Dabei müssen wir nicht nur unsere Laufrucksäcke tragen, sondern auch die Säcke mit den Wechselklamotten.

Sobald ich ins Freie trete, erwischt mich der Orkan mit voller Wucht und ich werde fast umgeweht. Hammerhart! Ist das geil! Fotografieren ist nach wie vor völlig unmöglich. Ich muss versuchen, so schnell wie möglich aus dem Blizzard zu kommen. In kleinen Grüppchen marschieren wir nun bergab zum 500 Höhenmeter tiefer gelegenen Ort Schierke. Schon nach einigen hundert Metern weicht der Orkan einem mäßigen Sturm, bald weht sogar nur mittelstarker Wind. Auf der ersten Hälfte ist die 10,5 km lange Straße noch schneebedeckt, dann laufen wir auf Asphalt. Am Schluss wird der schöne Schneefall durch nervtötenden Regen abgelöst. Heute gefällt mir dieser Abstieg überhaupt nicht und er kommt mir endlos lang vor. Einige von uns wählen die Abkürzung, auf der es aber im Schnee einige zum Glück harmlose Stürze gibt.

Während des langen Marsches bekomme ich immer stärker Durst. Jetzt rächt es sich, dass ich oben nur ein Glas alkoholfreies Bier getrunken habe und meine Flasche nicht nachfüllte, aber noch glaube ich, bald in Schierke genügend trinken zu können. Ich gebe zu, dass ich während dieser zwei Stunden beschließe, dass mir drei Ausgaben Brocken-Challenge sehr gut gefielen, ich aber ein viertes Mal nicht kommen muss. Während ich zwei Tage später diese Zeilen tippe, sehe ich dies natürlich wieder völlig anders. BC muss sein! Allerdings werde ich nächstes Mal auch oben im Brockenhaus übernachten und morgens die Zugfahrt genießen.

Kurz vor 21 Uhr erreiche ich das Café Winkler in Schierke, mal wieder ein neuer Treffpunkt. Allmählich lerne ich BC für BC den Ort kennen. Bei meiner Ankunft erfahre ich, dass ich gleich mit Bus 1 zurück nach Göttingen fahren soll. Ein Reisebus ist für 21.30 eingeteilt, der zweite für 23 Uhr. Daher reicht nun die Zeit nicht, etwas zu trinken zu bestellen, um meinen starken Durst zu löschen.

Während der 1,5 Stunden Fahrt nach Göttingen fühle ich mich bald so dehydriert, dass ich Kopfschmerzen bekomme. Doch als ich dann gegen 23 Uhr im warmen Zimmer der Jugendherberge sitze, freue ich mich nur noch über diesen erlebnisreichen Tag. BC - ich komme wieder, aber bitte nächstes Mal wieder mit 80 km auf Schnee! 

 
 

Informationen: Brocken-Challenge
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