Wenn man in Russland bei einem 70 Kilometer Lauf angetreten ist, bei dem nur 8 % der Starter gefinisht haben, dann hinterlässt das Spuren. Bei der Brocken Challenge (BC) über 80 Kilometer mit 1900 Höhenmeter gibt es eine Finisherquote von 95 %. Drei der sieben Russlandläufer, also Aschu, Reinhold und ich werden heute sicherlich die vermeintliche Niederlage vom letzten Sonntag ausgleichen. Da die Temperaturen seit Tagen über null Grad schwanken und uns eine gute Verpflegung erwartet, verzichte ich auf besondere Ausrüstungsgegenstände. Der Brocken liegt ja nicht in der Taiga.
Der Hainholzhof gehörte einem Mann namens Kehr. Jetzt nennen die Göttinger das ganze „Am Kehr“, was das Navigerät aber nicht weiß. Den Alten Tanzsaal, den Kehr baute, damit der sonntägliche Frühschoppen nicht auf den Hüften bleibt, kennt ganz Göttingen und jetzt diejenigen Läufer, die einen Startplatz für die Brocken Challenge ergattern konnten.
Im Alten Tanzsaal gibt es ab 5 Uhr Frühstück. Sämtliche Versorgung bei der BC ist Öko. Frank, einst einer der ehrenamtlichen Organisatoren, machte den Vertrieb für Ökobetriebe. Die Lebensmittel werden seither von den Herstellern gespendet. Da ich eher ein rustikaler Typ bin, habe ich mir Zwiebelmettwurst mitgebracht. Das Bier, das es an den Verpflegungsstellen geben wird, ist auch Öko. Die Limos und Säfte haben Zukunft, das Hasenfutter in meinen Augen eher nicht.
Der MDR interviewt Florian, der seit 2014 die BC immer gewinnt. Die Szene, in der sich Florian über zwei Aludosen in meinen Rucksackhalterungen freut, wird der Sender rausschneiden. Die Erinnerung an meine erste Teilnahme 2012 wird wach, denn damals war auch das TV da. Deutschland konnte wegen der Kälte keinen Strom exportieren, musste Strom in Österreich einkaufen. Bernd hatte im Auto übernachtet, startete 15 Minuten später, weil seine Kontaktlinsen in der Verpackung eingefroren waren.
Startaufstellung, kurze Rede vom Orgachef Markus Ohlef und los geht’s. Da stehe ich aber noch hinter der Schranke, die die Borheckstraße für Autos sperrt, verliere schon jetzt wertvolle Zeit. Nach einem Kilometer könnte man auf der rechten Seite eine Panzerwaschanlage bewundern, falls es hell wäre. Sie wurde bis 1994 von der Bundeswehr genutzt. Ich frage mich, warum man Panzer wäscht, meine Laufschuhe werden auch nie gewaschen. Der Dreck lockert sich, als ich auf unsichtbares Eis trete und die Windmühle mache. Damit habe ich nicht gerechnet. Aber das wird heute bestimmt warm werden!
Der Göttinger Wald ist nach sechs Kilometern bewältigt, wir kommen nach Mackenrode, wo Leute mit ner Macke einst rodeten. Die Leute haben immer noch ne Macke, denn sie hängen an den Fenstern, oder sogar an der Straße, um uns anzufeuern! Das erinnert fast schon an die Nacht der Nächte in Biel.
Bei Kilometer 11 kommen wir nach Landolfshausen, wo es die Original Landolfshäuser Blasmusikanten gibt. Und die machen eine richtig lustige Mucke. Feuerwerk. Geil! Das ganze Dorf, also 150 Leute sind hier versammelt, sogar die Kleinsten wurden aus den Federn geschüttelt. Danke! Es ist 7:15 Uhr, Zeit für den Frühschoppen. Wenn wir weg sind, passiert ein Jahr lang nix mehr, dann wird der Winterschlaf fortgesetzt. Der folgende Aufstieg ist deutlich mit Fackeln markiert. Die stinken, wir bald auch. Ich dachte, meine Beinverletzung, die ich mir in Russland zugezogen habe, wäre vergessen, aber jetzt zieht es vom Fuß bis in die Hüfe. Mein rechter Fuß schlenkert nach rechts außen, das ist weder gesundheitlich noch politisch gewollt.
Nach 16 Kilometern erreichen wir den Seeburger See, der seinen Namen von einer Burg hat, die die Gebrüder Grimm in der Sage vom Grafen Isang erwähnen. Demnach verschwand die Burg in der Erde. Laut Geologen war das vor 2500 Jahren, als sich ein Salzsteinlager in der Tiefe auflöste, der Hohlraum einstürzte und diesen See hinterließ. Tatsächlich fand man im See Steine und Eichenbohlen, sowie einige Silbergefäße. Aber: Die Altarstühle in Berenshausen sollen eine Schenkung des Grafen Isang sein. Hier kommen also menschliche Erinnerungen zeitlich durcheinander. Ich meine mich zu erinnern, dass 2012 hier der VP war, an dem ich mir Orangensaft in die Thermoskanne füllte. Minus 12 Grad gab es damals, heute plus fünf. Was soll also noch passieren?
In Rollshausen ist ein Halbmarathon geschafft. Wenn man etwas über die Geschichte der Dörfer hier wissen will, dann erfährt man, dass sämtliche Urkunden aus dem 12. Jahrhundert gefälscht sind. In Südhessen wurde zur selbigen Zeit der Lorcher Codex geschrieben, auf den sich die deutsche Geschichte stützt. Schummeln kann bei diesem Lauf niemand, die Strecke führt in einem leichten Bogen nach oben und ist hier unten ausreichend markiert, es gibt keine chaotischen Richtungswechsel.
Von der Seulinger Warte hat man einen ersten Blick auf den Brocken, der gar nicht so schneebedeckt aussieht. Die Seulinger Warte ist heute ein Ausflugslokal, war früher der Amtsitz des Seulinger Knickförsters. Ein Knick, oder Gebück waren undurchdringliche Hecken, die zum Landesschutz angelegt wurden. Auch entlang des Borheckweges am Alten Tanzsaal war einst so eine Hecke.
Bei Kilometer 25 sind wir am Hellberg, ein klarer Hinweis, dass hier irgendwo der Eingang zur Hölle ist. Wir sind auf Karstgebiet. Unter der Tillyeiche soll der Heeresführer der katholischen Liga, Johann T’Serclaes von Tilly mit seinen Soldaten gelagert haben. Tatsächlich gab es während des 30jährigen Krieges hier schwere Kämpfe gegen die protestantischen Dänen, doch ich kann mir nicht vorstellen, dass Tilly hier am steilen Hang ein Lager für 300 Soldaten aufgebaut hatte. Der Baumstumpf jedenfalls ist keine 400 Jahre alt.
Nächster Ort ist Rüdershausen, der seit tausend Jahren seine Verbundenheit zu des Menschen bestem Freund, dem Hund (nicht der Frau), mit seinem Namen kund tut.
Mein liebster Ort ist Rhumspringe (km 31). Nicht weil ich da rumspringe, sondern weil die Rhume, ein Karstquellfluss, hier aus dem Untergrund kommt und mit konstanten neun Grad ein ökologisches Wunder schafft. Spaziergänger haben es auch heute Morgen hierher geschafft und bewundern das gletscherblaue Wasser: „Ich brauche jetzt aber mal deine Nummer!“ Ah, ok, die ist durch meine Jacke verdeckt und dies hier sind Helfer, die abhaken, wer durchgelaufen ist. Dient der Sicherheit.
2000 hat man den Quellgrund nach archäologischen Fundstücken abgesucht und, oh Wunder, man fand „Opfergaben“ für die Götter da unten. Man hat Fibeln gefunden, die die Kleidung zusammenhielten und Trinkgefäße. Daraus schließe ich, dass man hier einst nackt badete und höchstens dem Gott Bachus etwas opferte. Aber meine Geschichtskenntnisse sind ja nicht gefragt.
Es geht abwechslungsreich weiter durch das wellige Harzvorland. Wenn es abwärts geht, dann habe ich unendliche Schmerzen im Bein. Hermann Löns, der Heidedichter, hat über den Karsttrichter des Beberteiches geschrieben(1908). Seine genialen Zeilen über die Natur zwischen Bremen, Hamburg und Göttingen entsprangen einer weinseligen Freude, die er bei seinen Picknicks erlangte.
Königshagen, ein Dorf aus dem 12. Jahrhundert, wurde nach einer Fehde zwischen Grafen und Kirche verlassen. Die Reste des Dorfes wurden ausgegraben und man stellte fest, dass die damaligen Bewohner nach Barbis weggezogen sind. Das mache ich auch, vorbei an dem Schild, das vom Schierker Feuerstein kündet, einem köstlichen Getränk, das wir im Starterbeutel vorfanden. Apotheker Willy Drube erfand das Getränk 1908, als Hermann Löns am Teich träumte. Während der DDR-Zeit wechselte Drube rüber ins westdeutsche Lauterbach. Seitdem gibt es zwei Schierker Feuerstein-Betriebe.
Neben diesem Getränk fanden wir im Starterbeutel auch die Spendenquittung. Wir können das Startgeld, weil es zu 100 % als Spende weitergeleitet wird, von der Steuer abschreiben. Der vollbärtige Zweimetertyp Aki schreibt mich nicht ab, sondern auf. Dient doch der Sicherheit. Auch beim Bilstein Ultra steht er am VP, ich muss ihn immer fotografieren, weil sein Bart klasse ist. Hinter dem Barbiser Bach unterqueren wir die L 243. Erwähnenswert, weil der Weg unerwartet vereist ist. Ich denke mir nichts dabei, zumal uns jetzt die Sonne begleitet, auch unerwartet.
Nun erfolgt der lange Anstieg in den Harz durch das Steinaer Tal. Wir sind auf dem Entsafter, wie dieses Teilstück mit 310 Höhenmeter auf 10 Kilometern, genannt wird. Ich hatte große Pläne, wollte dieses Jahr dieses Stück laufen, nicht wandern. Deswegen habe ich auf Schneeketten verzichtet. Lieber eine Aludose mehr als Yak Tracks, habe ich mir gedacht. Schließlich war ich schon im russischen Winter laufen. Am VP Jagdkopf (km 54) sagt die Helferin, ich sei 10 Minuten vor Cut off. Ich kriege die Panik, aber zum Glück kommt jetzt der Wunschbaum. Mein Wunsch hat sich erfüllt, denn am Jagdkopf gibt es keine Cut-Off Zeit, man kann von dort nicht evakuiert werden, von der Lausebuche (km 63) schon. Über dem Feuer köchelt eine Nudel-Tomatensuppe. Ich hatte gehofft, es wäre eine Gulaschsuppe. In einer Hand die Suppe, in der anderen den schweren Defibrillator, den ich von einer Kiste rupfe, um mich auf der selbigen hinzusetzen. Zwei nette Hunde hüpfen mich an, wollen meine Suppe. Beneidenswert, wie aufgeregt und fröhlich die beiden sind. Mir tut mein Bein höllisch weh. Es ist mir klar, dass ich mir was kaputt mache, wenn ich weiterlaufe. Aber so bin ich halt.
Es folgt eine „Abkürzung“ durch den Tiefschnee, vorher hatten wir eine Umleitung wegen Baumfällarbeiten. Meine Schuhe sind nass, immer wieder rutsche ich aus. In Russland habe ich mir den Rostower Husten eingefangen, jetzt spucke ich Bröckchen in den Farben der russischen Fahne in den Schnee, ein bisschen Grün ist auch dabei. Mario wird später sagen, deswegen sei der nasse Schnee von den Bäumen gerutscht. Hier farbige Brocken, oben der stürmische Brocken, doch der Weg dorthin ist jetzt nicht mehr mit „BC“ markiert. Wir sind im Nationalparkt, und da will man keine roten Schilder haben.
In Königskrug müssen wir die B 242 überqueren, die ist zum Glück mit einer Verkehrsinsel unterteilt. Cornelia, die auf den 100 Meilen von Berlin geheiratet hat (nicht mich) und ich stehen ratlos auf der Landstraße und versuchen eine Querung dieser Ost-Nord-Passage. Am VP (km 68,5) steht Harald, der uns mit seinen Russischkenntnissen letzte Woche sehr geholfen hatte. Er kann meine Laufzeit einschätzen und hat sich Sorgen gemacht. Ich kann ihm auf die Schnelle nicht erklären, welche Pest ich mir in Rostow eingefangen habe, zumal er jetzt überschwänglich Cornelia begrüßt. Ihr Mann Karl (den sie während der 100 Meilen geheiratet hat) ist bei jedem VP und unterstützt sie, obwohl sie doch 2017 den zweiten Platz beim Deutschlandlauf machte und fit sein müsste. Karl musste auf der letzten Etappe des Deutschlandlaufes 2018 aussteigen, er sieht nicht glücklich aus. Ich auch nicht. Eine Helferin sagt, ich solle bei Oderbrück aussteigen, dort wäre die letzte Evakuierungsmöglichkeit, ein Wort dass ich letzte Woche zu oft gehört habe. Mit rechtes Bein ist unkontrollierbar, Nervenbahnen senden keine Befehle mehr nach unten, aber Schmerzen nach oben. Dass ich aus Überheblichkeit die Schneeketten nicht mitgenommen habe, verzeihe ich mir nicht.
Es folgt ein flacheres Teilstück oberhalb des Oderstausees. Nein, diese Oder mündet nicht bei Stettin, sondern teilweise in die unterirdische Rhume, Leine oder Aller, irgendwohin halt. Der Parkplatz Oderbrück ist voll mit Helferautos. Irgendwie quetsche ich mich durch die Autos der Parkwilligen und gelange zur Weihnachtsmarkthütte, wo der letzte VP ist. Der Honigkuchen ist das beste Futter bei der BC, ich stecke mir ein paar Stückchen in die Tasche.
Dann fängt es an zu schneien. 2012 habe ich bei minus 13 Grad zwei Stunden für diese letzten sieben Kilometer, den finalen Aufstieg zum Brocken gebraucht, um 17:59 Uhr war ich damals oben. Eine Kopfbedeckung, die stirnlampenkompatibel ist, habe ich natürlich auch nicht. Der Schnee sammelt sich nun in meinem Kragen.
Das gelbe, flackernde Licht, das die waagerecht ansausenden Schneeflocken erleuchtet, stammt definitiv nicht von einer Stirnlampe, eher von einem UFO. Jedenfalls ist es nicht stimmungsaufhellend. Dann kracht es fürchterlich. Ein Wintergewitter! Beim nächsten Blitz weiß ich Bescheid: 21, 22, 23. Krawumm! Beim nächsten 21,22 zack, zack, zack Jacques Chirac, weg ist der Balkon. Wenn der Blitz jetzt in meine Bierdose einschlägt, finde ich das blöd. Wer rechnet schon mit Schneetreiben? Der Akku meiner Uhr gibt auf, jetzt muss ich meinen Weg selbst finden. Ich habe Glück, entdecke einen Wegweiser: Brocken 4,8 Kilometer.
Im Schneetreiben erkenne ich den Bahnübergang - die Brockenbahn. Sie gehört zur DB, deshalb fährt sie nicht. Globale Erwärmung, ihr versteht! Auch ich habe die globale Erwärmung unterschätzt und treffe die erste vernünftige Entscheidung des Tages: Ich klemme mich schutzsuchend an die linke Schneemauer der Straße, um ein Hemd rauszusuchen, das ich mir um den Kopf wickele. Ab hier sind es höchstens noch 1,2 Kilometer bis zum grausigen Plateau.
Ich laufe auf dem Weg, glaube ich. Nebenan nutzen Läufer die Schienen, um nach Schierke zum Shuttlebus zu gelangen. Tiefgebeugt versuche ich dem Schneesturm, der mit 130 Stundenkilometer von oben runter kommt, Paroli zu bieten, muss mein rechtes Auge zudrücken, irgendwas hat meine Netzhaut verletzt. Verletzt ist auch mein Ego, der Sturm drückt mich seitlich in die Schneewehen, ich sehe nichts, drehe mich im Kreis und erkenne einen kleinen Wolf. Am Ende der Leine ist ein Wurm, Christoph Wurm, dem ich geistesgegenwärtig meine Kamera in die Hand drücke: „Wie weit?“ „ 500!“ 500 sind sehr viel, wenn man keine Schneeketten anhat. Der Wind hat leichtes Spiel mit mir und schiebt mich über das Eis nach unten. In den Schneewehen finde ich Halt und kämpfe mich nach oben. Könnte lustig sein, ist es aber nicht. Meine Brille ist vereist.
Als es keine urig aussehenden Schneebäume mehr gibt, müsste ich auf dem Plateau sein, doch ich sehe kein Licht, keinen Turm, keinen Zielbogen. Meine Stirnlampe erfasst die Reflektoren eines Sanitäters: „Wo muss ich lang?“ In diesem Augenblick erwischt mich eine Windböe, ich rutsche wieder mal talwärts, der Sanitäter läuft hinter mir her. „Halte mich, halte mich!“ Das macht er dann auch und geleitet mich nach oben, bis man das Licht eines Gebäudes erkennt. Kaum lässt er mich los, rutsche ich wieder nach unten.
„Halte mich, halte mich!“ rufe ich wieder. Er ergreift mich erneut und ich werde wie ein kleines Kind in den „Zielbereich“ gezogen. Ich hoffe, das sieht keiner von der Orga, sonst werde ich noch disqualifiziert. „Komm hierher, Komm schon!“, ruft die Kontrolldame. Blöd, der Wind treibt mich wieder brockenabwärts. „Haltet mich!“ Ultralaufen ist so entwürdigend!
Irgendwann wird dann gesagt, ich sei auf der Zielinie gewesen. Ich hab sie nicht gesehen, sie war wohl weiß.
Jetzt will ich nur noch schnell in den Goethesaal, um mich aufzuwärmen. “Wo muss ich hin?“ „Da!“ Ich rutsche den Hang hinunter, stehe auf und lege mich vor dem Eingang zum Restaurant bös ab. Es macht ein lautes „Knacks!“ Dieses Geräusch kenne ich vom Trans Atlas Marathon. Auch dieses Mal ist es nicht meine Uhr oder die Bierdose, sondern eine Rippe. Ein Sanitäter kommt angelaufen, ein letztes „Halte mich“ und ich bin im Windfang des Einganges, werde die Wendeltreppe zum Goethesaal hochgezogen. Tosender Beifall.
Wenn ich nächstes Jahr wieder das Losglück habe, dann trete ich nicht an! Stopp, gerade kommt eine nackte Läuferin aus der Dusche. Ich bin definitiv nächstes Jahr wieder dabei!