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Laufberichte

Was sind schon zehn Jahre

30.09.12
Autor: Klaus Duwe

Nach einer schlaflosen Nacht und ein paar Bissen vom üppigen Frühstückbuffet in einem First-Class-Hotel am Kurfürstendamm muss ich raus an die frische Luft. Gleich soll ich 42 km laufen. Nur noch 120 Minuten bis zum Start und ich habe keine Ahnung, wie ich es pünktlich schaffen soll. Als ich vor die Tür trete, sehe ich Unmengen Läufer mit buntbedruckten weißen Plastiktüten am langen Arm oder locker geschultert. Alle zieht es in eine Richtung. Ich bin gerettet.

So war das am 29. September 2002, also vor genau 10 Jahren, bei meinem ersten Marathon. In Memoriam habe ich mich nur einen Steinwurf von jenem Hotel eingemietet, das mir seinerzeit zugewiesen wurde, weil die gebuchte Herberge überbelegt war.  Längst würde ich den Weg zum Marathonstart mit verbundenen Augen finden.  Ich wähle nicht den kürzesten, ich nehme den schönsten und der beginnt am Hauptbahnhof.

Als jemand, der eigentlich keine Enge mag, ziehen mich am letzten September-Wochenende die Massen magisch an. Der Bahnhof quellt über. An keinem anderen Tag werden innerhalb einer Stunde so viele Menschen durch den Glaspalast geschleust, werden so viele Becher Kaffee und so viele Croissants verkauft, wie am Marathontag. 

Heute wird nicht regiert. Zumindest nicht im Kanzleramt. Nur die Securities haben Dienst, drinnen brennt kein Licht. Die Läuferschlange ist unüberschaubar. Ab hier Zutritt nur für Läuferinnen und Läufer. Es wird streng kontrolliert. Plastikumhänge werden ausgegeben, denn man sollte seine Klamotten frühzeitig zur Aufbewahrung geben. Alles ist ausgeschildert. Wer lesen kann, hat kein Problem. 

Es ist frisch, einstellig würde ich behaupten, zumindest im Schatten. Und unser Weg liegt im Schatten. An der Kongresshalle, auch schwangere Auster genannt, lauern die ersten Fotografen auf ihre Opfer.  „Zeig mir Deine Startnummer“, dann macht es klick.

„Ah, marathon4you ist auch am Start. Bist Du der Klaus, Klaus Duwe?“ „Ja!“ „Schön Dich zu sehen.“ „Ich freue mich auf Deinen Bericht.“ „Mach schöne Bilder.“ So oder so ähnlich verlaufen etliche kurze Gespräche, ehe ich mich an der Startlinie unter die Profi-Kollegen mische.

Welch ein Unterschied zu 2002. Unter 32.752 Läuferinnen und Läufern bin auch ich, der Rookie aus der Provinz.  Kein Mensch kümmert sich um den einsamen und verunsicherten Runner, keiner kennt mich und ich kenne niemanden. Woher soll von denen auch einen kennen, der zum ersten Mal einen Chip am Laufschuh hat?  Eine Stunde vor dem Start gehe ich in dem mir  zugewiesenen Block auf und ab, setze mich hin, muss wieder raus aus dem Block, in die Büsche und wieder zurück.

Auf einer Aktionsbühne animieren hübsche Mädels die Läufer zu Aufwärmübungen. Der Ketchup-Song übertönt den ohnehin beträchtlichen Geräuschpegel auf der Straße des 17. Juni. Seit jenem Sonntagmorgen geht mir dieses läppische Lied nicht aus dem Kopf. So, als hätten die das Ding eine Stunde ununterbrochen gespielt und unlöschbar auf meiner Festplatte gespeichert. Irgendwann kommt es mir während eines Laufes immer wieder in den Sinn: „Aserejé ja de jé de jebe tu de jebere, seibiunouva, majavi an de bugui an de buididpí“.

Eine Aktionsbühne gibt es längst nicht mehr in den Startblocks und der Ketchup-Song ist samt seiner attraktiven Interpretinnen in der Versenkung verschwunden.  Aber ich habe ihn ja im Kopf … Und langweilig ist es trotzdem nicht. Ein Däne erinnert mich daran, dass wir in Brixen beim Dolomiten Marathon Kontakt hatten, eine Engländerin spricht mich auf den London Marathon an, weil ich offenbar ein Bild von ihr gemacht hatte, ein Italiener fragt mich, ob ich wieder nach Florenz komme.

Die Handbiker starten, die Top-Athleten werden vorgestellt und die Promis auf der Ehrentribüne. Außer dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (der will nur wieder gewählt werden) und Olympiasieger Robert Harting, hat jeder was zu verkaufen: Til Schweiger einen neuen Film und Didi Hallervorden ist gerade dabei, einen zu drehen. Immerhin handelt der von einem Marathonläufer. 

Der erste Kilometer ist auch ohne euphorisierende Eröffnungshymne gleich der Hammer. Es scheint, als habe jeder Läufer mindestens zwei Fans auf dem kurzen Stück bis zur Siegessäule am  Großen Stern, die rechts und links umlaufen wird.  Die Straße zum Charlottenburger Tor ist mehrspurig und nimmt das riesige Läuferfeld problemlos auf.  Anders sieht es aus, als wir am Ernst-Reuter-Platz die Straße des 17. Juni verlassen. Jetzt gibt es auch schon mal Körperkontakt, aber die Strategie, die Läuferinnen und Läufer in mehreren Blocks ins Rennen zu schicken bewährt sich. Staus gibt es hier keine mehr.

Hinter dicken, hohen Mauern und Stacheldraht liegt die JVA und das Kriminalgericht Moabit, 1881 erbaut und heute unter Denkmalschutz.  Prominenteste Insassen in jüngerer Zeit waren die beiden DDR-Erichs (Honecker und Mielke).  Witzig, dass mich in der Läufermaße, noch dazu von der anderen Straßenseite aus, Andrea entdeckt und ich sie. Was ein auffallendes Shirt und ein lautes Organ so alles bewirkt.

Überhaupt nicht witzig fand Helmut Kohl, 16 Jahre unser Bundeskanzler, dass in das Kanzleramt, das er gegen viele Widerstände durchsetzte (immerhin ist es 8mal so groß wie das Weiße Haus in Washington), nach seiner Fertigstellung 2001 Gerhard Schröder von der SPD dort einzog und sich wohl fühlte. Mit der Ruhe ist jetzt dort vorbei, denn gegen die Trommler von Wasabi Daiko sind alle   Schallschutzmaßnahmen wirkungslos. Die Schläge gehen durch Mark und Bein. Ein paar Fotos und dann nichts wie weg.

 
 

 
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