Es hätte ein schöner Tag für die junge Familie des drei Tage zuvor im Ruhrgebiet geborenen kleinen Jungen werden können. Doch die Familie, die eigentlich seine Taufe feiern wollte, hatte nur Ohren für die Nachrichten aus Berlin. Wir schreiben den 13. August 1961. Tag des Mauerbaus.
Der Berliner Mauerweglauf ist kein gewöhnlicher Lauf, nicht wegen der Länge, sondern aufgrund seiner historisch bedeutsamen Streckenführung. Viele der Läufer, die hier starten, sind in der Zeit der Mauer, der Teilung und schließlich der Wiedervereinigung groß geworden, wenigen davon dürften die Ereignisse unberührt gelassen haben. Andere wiederum kennen diese Momente der jüngeren deutschen Geschichte nur aus der Schule oder von Erzählungen. Viele der sehr zahlreichen ausländischen Teilnehmer werden sicher die einmalige Historie mit dem läuferischen Erlebnis verbinden wollen.
Zunächst einmal ist der Mauerweglauf aber eine sportliche Veranstaltung. Jedoch es ist keinesfalls so, dass die Veranstalter nach einer 100-Meilen-Strecke suchten und zufällig auf den 161 km langen Weg entlang der ehemaligen Mauer um Westberlin gekommen sind. Nein, es war eher andersrum. Ronald Musil, der Initiator des Mauerweglaufs, überlegte sich, wie die Geschichte der deutschen Teilung erlaufbar gemacht werden könnte.
Und wenn es um die Geschichte der Teilung geht, dann steht zuvorderst das Gedenken um die etwa 140 Maueropfer. Aber auch die etwa doppelt so vielen Opfer an der 1400 km langen Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR seien nicht vergessen. Daran werde ich erinnert, als ich auf der Anreise die Grenze zwischen den Bundesländern Bayern und Thüringen passiere.
1986. Als Student kommt der Junge aus dem Ruhrgebiet auf einer Urlaubsreise durch Tann (Rhön). Ein Blick auf die Autokarte zeigt die nahe Grenze. Die Neugier treibt ihn dorthin. Also zweigt er von der gut ausgebaute Bundesstraße ab und strebt jenem Nervenkitzel versprechenden Ort entgegen. Kaum noch Autos sind unterwegs. Die Straße wird schlechter, der Asphalt löst sich auf und der Wagen holpert über Vorkriegskopfsteinpflaster seinem Ziel entgegen. Und dann geht es nicht mehr weiter. Im Angesicht der bedrückenden Grenzanlagen sagt er zu seiner Freundin: „Kaum zu glauben, dass das mal Deutschland war“, verkennend, dass hinterm Zaun natürlich auch jetzt noch Deutschland ist, nur eben nicht die Bundesrepublik. Und so geht das Interesse für das Land auf der anderen Seite schnell wieder verloren. Er, der beinahe jede mittelgroße Stadt in der Bundesrepublik auch ohne Karte zu finden in der Lage ist, weiß nicht einmal ansatzweise, in welchen Regionen der DDR Potsdam, Magdeburg, Dresden, Leipzig, Erfurt zu suchen sind. Westberlin, diese durch die Mauer eng eingegrenzte Stadt, interessiert ihn nicht, er liebt weite Räume.
Anstelle der Grenzanlagen an der innerdeutschen Grenze ist das grüne Band Deutschland getreten, ein Wanderweg am ehemaligen Todesstreifen. Es würde mich nicht wundern, wenn es einmal einen Mauerweg XXL entlang des ehemaligen Zauns gebe sollte.
Wer sich mit der Geschichte der deutschen Teilung beschäftigt, wird nicht nur der zahlreichen Opfer an Mauer und innerdeutschen Grenze gedenken. Auch die Lebensumstände der DDR-Bevölkerung, die eingeschränkte Bewegungsmöglichkeit der Westberliner und die vielen zwischen Ost und West zerrissenen Familien machen uns bewusst, welches Privileg wir genießen, in einem freiheitlichen Land zu leben. Insofern ist die Teilnahme an dem Lauf auch eine Demonstration für Freiheit, aber auch für ein grenzüberschreitendes friedliches Miteinander, ein Votum gegen Nationalismus und Egoismus.
13. November 1989, Mittag. Unser Student ist auf den Weg nach Berlin. Einige Tage zuvor, am 9. November um 18.57 stammelte SED-Spitzenfunktionär Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Gemeint war die Reisefreiheit von Ost nach West, von der DDR in die Bundesrepublik. Der Student aus dem Westen wollte nun ebenfalls durch das Loch der Grenzanlagen, nach Osten, um die ihm völlig fremde Welt zu erkunden.
Die Anmeldefrist für den Mauerweglauf beginnt jedes Jahr in Anlehnung an Schabowskis Pressekonferenz minutengenau am 9. November um 18.57h. Man sollte sich aber nicht zu viel Zeit lassen, denn die ca. 500 Einzelstartplätze sind rasch ausgebucht. Mit knapp 200 €uro ist ein Einzelstartplätze nicht billig, aber die logistischen Herausforderungen an der langen Strecke sind erheblich, auch wegen der Laufzeit von bis zu 30 Stunden. Anders als bei vielen Läufen gleicher Länge ist das Netz der Verpflegungspunkt sehr dicht, 26 werden unterwegs vorgehalten, alle sehr gut ausgestattet. An dreien davon, bei km 33,6 sowie 70,6 und 102,3 können DropBags deponiert werden, die vom Veranstalter dorthin transportiert und wieder abgeholt werden. Zu den Einzelläufern kommen noch Zweier- und Vierer-Staffeln, die an den großen Verpflegungspunkten wechseln. Dazu noch 10plus-Staffeln. Insgesamt ca. 1000 Läufer sind unterwegs.
Logistikzentrum ist ein Hotel Nähe Alexanderplatz. Hier gibt es die Startnummern, als Beigabe ein kleines farbiges Mauerstückchen. Farbig deswegen, weil die Mauer von Westberliner Seite oft mit Graffitis verziert war. Shirts können gegen einen kleinen Obolus erworben werden, hierzu steht eine „Spendensau“ bereit. Finisher-Shirts gibt es allerdings erst nach dem Zieleinlauf. Wichtig und verpflichtend ist die Teilnahme am Briefing, das ebenfalls im Hotel abgehalten wird. Hier informieren uns die Rennleiter Harald und Martina sowie Rennarzt Carsten über Besonderheiten der Strecke, aber auch über ein paar Regeln, die aus Sicherheitsgründen erforderlich sind. Dazu zählt an Ampeln bei Rot stehen bleiben, sonst droht Disqualifikation. Und das wird auch durchgesetzt. Oder die Pflicht zum Tragen einer Warnweste und Stirnlampe bei Dunkelheit, sowie das Mitnehmen eines eingeschalteten Mobiltelefons, damit man notfalls kontaktiert werden kann. Auch zur gegenseitigen Unterstützung werden wir aufgerufen, Gemeinsamkeit statt Teilung ist das Motto. Nach dem Briefing noch schnell zur Pasta-Party (im Preis inbegriffen) im gleichen Hotel. In diesem werden übrigens auch vergünstigte Zimmerkontingente vorgehalten, auch hier gilt es schnell zu sein mit der Buchung.
Am nächsten Morgen bietet das Hotel schon um 4 Uhr Frühstück an. Danach geht es mit dem Shuttle-Bus zum Start am nahen Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark. Auch dort gibt es noch ein Frühstück, sehr liebevoll hergerichtet. Viele Bekanntschaften werden erneuert, Daniela, Heinrich, Peer und Claudia wollen sich wie ich auf das Abenteuer einlassen.
Startschuss um 6 Uhr. Bis zu 30 Stunden liegen vor mir. Wir drehen zunächst eine Stadionrunde zur Entzerrung des Feldes (die Staffeln starten ohnehin erst eine Stunde später). Dennoch kommt es kurz darauf an einem Engpass zu einem kleinen Stau, der sich aber sofort wieder auflöst. Bis zum märkischen Viertel laufen wir an Wohnvierteln und Siedlungen vorbei noch durch die Stadt, mal parallel zur Bahn oder entlang von Gewerbegebieten, Straßen müssen wir nur wenige queren. Weitaus weniger großstädtisch, als ich es erwartet hätte. Die Bornholmer Brücke unterqueren wir, jene Brücke, an der die Ostberliner am 9. November als erstes die Grenze passieren konnten. Die Bilder gingen um die Welt. Der davorliegende Platz ist nun nach jenem Datum benannt.
Selten ist der Mauerstreifen hier noch erkennbar, wie zum Beispiel bei Wilhelmsruh. Hier erblicke ich auch ein Areal hinter einer mit Graffiti verzierten Wand, welches mich stark erinnert an die ehemaligen Grenzkontrollstellen mit ihrem überdachten Freigelände.
13. November 1989, Nachmittag. Auf dem Weg über die Autobahn bei Eisenach hört unser Ostreisender von einer Öffnung der Grenze in Großburschla. Erste Erfahrungen mit der DDR. Aufgestemmte Mauer, zerschnittener Zaun, Grenzsoldaten, provisorisch aufgebauter Tisch zum Stempeln des Ausweises, der Weg zu Fuß über die Werrabrücke in das von der Grenze umringte Dorf hinein. Das erste Ostbrötchen in der Bäckerei, bezahlt mit DM. Nur ein kurzer Aufenthalt, denn er will noch nach Berlin. Der Grenzer gibt ihm ein Stück Stacheldraht mit, schön handlich abgelängt. Dann geht es über den offiziellen Grenzübergang Herleshausen an der Autobahn in die DDR. Riesige überdachte Anlagen, unheimlich.
In Wilhelmsruh dann der erste Versorgungspunkt (VP), hier noch ausschließlich Getränke. Nach Verlassen des märkischen Viertels kommen wir ins Umland, in eine Weidelandschaft rund um das Berliner Dorf Lübars. Der Patrouillenweg der DDR-Grenzer bestand meist aus Betonplatten. An einigen Stellen sind diese wohl noch vorhanden und nur überteert worden. Da die Asphaltdecke oft gerissen ist, ergeben sich Unebenheiten. Stolpergefahr. Später sehen wir die gezeichneten Knie einiger Mietläufer… In Lübars erreichen wir VP2, der Lauftreff versorgt uns hier, nun auch mit Essbarem.
Wir kommen nach Glienicke. Nicht zu verwechseln mit der Glienicker Bruecke. Der Name Glienicke leitet sich aus dem slawischen Wort für Lehm ab und kommt hier öfters vor. Vorsichtshalber hat man also noch den Zusatz Nordbahn dem Ortsnamen hinzugefügt, um die zahlreichen namensgleichen Orte besser zu unterscheiden. Dort erreichen wir VP 3 und dann geht es in den Wald, schlechte Wegstrecke mit Kopfsteinpflaster. Schon bald sind wir am Naturschutzzentrum VP 4, gegenüber ist ein gut erhaltener Grenzkontrollturm zu sehen.
Wir erreichen die Invalidensiedlung in Frohnau, ein nettes Gebäudeensemble mit aufgelockert platzierten, schönen alten Backsteinhäuser aus den dreißiger Jahren. Die Anlage ist schon mehr als 250 Jahre alt, eine Stiftung, und beherbergte ursprünglich Kriegsinvaliden. Heute noch dient sie behinderten Menschen als Unterkunft. Zur Zeiten der Teilung war es allerdings nicht so schön hier, denn die Siedlung war an drei Seiten von der Mauer umgeben. Im Anschluss umlaufen wir Frohnau, sehen aber wenig davon, denn der Kiefernwald rund um Frohnau gibt kaum Blicke frei, einzige Abwechslung ist der VP 5.
Angenehm laufbar ist die Strecke auf dem ehemaligen Patrouillenweg, meist sind die alten Betonplatten abgeräumt worden und der Weg asphaltiert. An einigen Stellen ist der ehemalige Todesstreifen wohl aufgrund des sandigen Bodens noch nicht komplett zugewachsen und lässt die Dimensionen der Sicherungsanlagen erkennen.
An der Straße Richtung Hennigsdorf treffen wir auf die Laufstrecke des Berliner Vollmondmarathons, die wir für 10 km nicht verlassen. Wie an vielen Straßen, die die ehemalige Grenze queren, treffen wir auf ein Schild, dass an das Ende der Teilung erinnert, hier am 13. Januar 1990 um 9:45 Uhr.
Die Tage im November 1989 in Berlin gehören zu den eindrücklichsten im Leben unseres Studenten. Nachrichtensender aus aller Welt, brummende Generatoren am Brandenburger Tor, Checkpoint Charlie, immer neue Lücken in der Mauer. Fahrt zur Glienicker Brücke. Noch ist die Brücke unpassierbar. Blick hinüber zum im Abendlicht liegenden Potsdam. Fahrt mit dem Auto von Nord nach Süd, von West nach Ost in der noch eingemauerten Stadt. Auch ein Ausflug in den Ostteil der Stadt darf nicht fehlen, bedrückend die Strecke an der Mauer entlang in der Nähe des Hauptbahnhofs.
Irgendwann muss das Studium im Westen fortgesetzt werden, aber zur Maueröffnung am Brandenburger Tor am 22.12.1989 ist unser Student wieder da. Auch zur Währungsunion am 01. Juli 1990, erstmals Potsdam durchfahrend und über die nun offene Glienicker Brücke. Reichstagswiese, in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990. Feier zur Wiedervereinigung. Unvergessene Momente.
Nach der Überquerung der Havel erreichen wir VP6, den Ruderclub Oberhavel, der unsere ersten DropBags bereithält. Die DropBags sind übrigens farblich unterschiedlich (hier blau) und mit den Nummern der Stationen versehen (hier 1), das vermeidet Verwechselungen beim Befüllen am Vorabend. Außerdem werden wir hier erstmals (ab jetzt an allen VP) mit Cut-Off-Zeiten konfrontiert. Ich habe nach nun knapp 34 km 40 Minuten Luft.
Anschließend folgen wir der Havel, die linkerhand immer wieder schöne Ausblicke ermöglicht. Zunehmend treffen wir nun auf Gruppen von Stelen. Eine davon, orangefarben und hoch wie die ehemalige Mauer, erklärt den Standort. Daneben sind graue Tafeln, die an die Menschen erinnern, die hier ums Leben gekommen sind. Oft stehen gleich mehrere Tafeln nebeneinander…
Schneggi, auch bekannt als Powerschnecke, schließt auf. Virtuell kenne ich Hans, wie er bürgerlich heißt, schon sehr lange. Er lässt es immer langsam angehen, zieht das aber konsequent durch und finisht morgen deutlich vor Zielschloss. Ein Raddampfer kommt uns auf der Havel entgegen, wir müssen aber weiterlaufen und erreichen den Grenzturm Niederneuendorf, VP 7. Hier begrüße ich Etze, Frank-Ulrich Etzrodt, den Veranstalter der Berliner Vollmondmarathon.
Weiter geht es am Mauerstreifen entlang der Havel. Auffallend viele neue schöne Häuser wurden hier nach der Wende gebaut, richtige Villen sind dabei, Zugang zur Havel zum Baden oder für Boote inklusive. Wer denkt da noch an die verzweifelten Schwimmer, die hier versuchten, über den Fluß nach Westberlin zu fliehen. Alsbald wenden wir uns von der Havel ab und laufen Richtung Westen durch einen schönen Wald nach Schönwalde, zunächst auf Asphalt, später ein sandiger Weg. Nach dem dortigen VP 8 sind Kränze niedergelegt. Hier starb Dietmar Schwietzer. 91 Schüsse wurden auf ihn abgegeben, drei trafen.
Stephan überholt, er ist schon mehrfach in Staffeln gelaufen, heute das erste Mal als Einzelläufer. Er wird erfolgreich sein. Wir sind am Eiskellerweg. Eiskeller war eine Exklave von Westberlin in der DDR und nur mühsam über einen Korridor zu erreichen. In Spandau hat ein Künstler den verzweifelten Versuch der Menschen, über die Mauer zu klettern, in Beton verewigt. Schaurig. Wir passieren VP 9 der LG Ultra-Nord, laufen durch schöne Siedlungen am Stadtrand von Spandau und erreichen die Stelle, an der wir Dieter Wohlfahrt gedenken. Jedes Jahr wird der Mauerweglauf einem Opfer gewidmet, heute Dieter Wohlfahrt, der als Fluchthelfer starb. Eine Pinnwand, an der die Läufer Gedanken hinterlassen und ein Beet voller Kerzen bilden einen würdigen Rahmen, Olaf Ilk, der Leiter der Veranstaltung, ist vor Ort.
Nach VP 10 Karolinenhöhe müssen wir ein gutes Stück an der B2 entlang, zwar gut zu laufen, aber nervig wegen des vielen Autoverkehrs. Warm ist es geworden, etwa 26 Grad und so ist die Abkühlung aus einem Wasserschlauch bei der VP 11 Pagel & Friends willkommen. Weiter geht es nach Glienicke. Schon wieder, aber diesmal ist es Gross Glienicke. Dabei handelt es sich um ein ehemaliges Rittergut, mehr als 600 Jahre alt, von dem noch später entstandene bauliche Reste wie das Tor erhalten sind. Das Rittergut ist auch Namensgeber für den anschließenden Ort. Bevor wir dahin kommen, passieren wir noch Reste der Mauer und des dazugehörigen Zauns. Auch hier wurden zum Gedenken Blumen hinterlegt. Wir laufen durch den schönen Ort, sehen aber von dem dazugehörigen See wenig, auch dieser war zu DDR-Zeiten tabu.
Hier begegne ich Cinzia aus Sizilien. Sie wird wie viele Teilnehmer von einem Biker begleitet. Davon profitiere auch ich, mir wird Salz angeboten und Eis-Spray für die Waden. Letzteres nehme ich gerne an. Danke, ganz im Sinne des beim Briefing eingeforderten Miteinanders. Fahrradbegleiter müssen übrigens nur einen kleinen Beitrag zahlen und können sich dafür auf der Pasta-Party und an den VP verpflegen, dürfen aber erst ab km 52 auf die Strecke. Noch ein Stück durch den Wald und wir erreichen Schloss Sacrow.
In Sacrow befindet sich die zweite Dropbag-Station (VP12), hier sind die Rucksäcke orange. Mit 70,6 km ist die Hälfte nicht mehr weit, mein Vorsprung auf die Cut-Off-Zeit um 18:30 h beträgt noch ein gute halbe Stunde. Da von nun an die Cut-Off-Zeiten großzügiger bemessen sind (ca. 12 Minuten pro km), bin ich entspannt. Bevor wir uns in Richtung Osten wenden, müssen wir durch den gekiesten Schlosspark und anschließenden Wald westlich nach Krampnitz, um eine Havelbucht zu umgehen. In Krampnitz (VP 13) können wir einen Eindruck von dörflichen Straßen vorheriger Jahrhunderte gewinnen. Statt des üblichen Straßenpflasters sind grobe, unbehauene Steine im Erdreich versenkt. Kaum laufbar, aber es ist nur ein kurzes Stück. Nun folgt wieder ein Abschnitt entlang der B2, an der eine Hinweistafel auf die heutige Potsdamer Schlössernacht hinweist. Letztes Jahr war ich dort und malte mir aus, wie es wohl wäre, am Mauerweglauf teilzunehmen. Wir bleiben an der Havel, wieder säumen Villen unseren Weg. So gelangen wir zur alten Meierei (VP 14) am Schlosspark Cecilienhof. Mit 82 km ist nun die Hälfte geschafft. Rechts sehen wir das Schloss Cecilienhof.
August 1996, Villa Ritz, Potsdam. Der Mauerbau jährt sich bald zum 35ten Mal, damit auch der Geburtstag unseres Studenten. Er hat ausstudiert, lebt und arbeitet mittlerweile in Potsdam. Wie zu Beginn unserer Geschichte soll es auch heute wieder ein schöner Tag werden. Und diesmal erfüllt sich der Wunsch. Die Villa Ritz ist das Standesamt der Stadt Potsdam. Nach der Trauung Hochzeitessen im Schloss Cecilienhof. An jedem Ort, wo nach dem Zweiten Weltkrieg die Teilung beschlossen wurde, wird nun eine besondere Ost-West-Gemeinschaft eingegangen, die Braut kommt aus dem Osten. Genau gesagt, aus Ostberlin. Zwei kleine Potsdamer ergänzen später das Glück der jungen Familie, der zweite wird genau 10 Jahre nach jenem Tag geboren, an dem sein Vater das erste Mal die DDR betrat.
Weiter der Havel entlang durch den Schlosspark. Eine Fülle von Sehenswürdigkeiten, ich zähle nur auf und werde vielleicht nach meinem nächsten Mauerweglauf mehr darüber erzählen: Kongsnaes (kaiserliche Matrosenstation im norwegische Stil), Glienicker Bruecke (in der Mitte die Grenzlinie), Schloss Babelsberg (auf einer 30km-Runde durch Potsdam vor vielen Jahren zählte ich 14 Schlösser!), Schloss Glienicke, das Dörfchen Glienicke (ein drittes Mal, nun mit dem Zusatz Klein), hier mache ich noch ein altes Konsum–Schild an einem verwunschen wirkenden Haus aus. West und Ost waren nur durch einen Seitenarm der Havel getrennt, dem Griebnitzsee. Auch hier gab es erfolglose Fluchtversuche, wie die Stelen zeigen. Dann der Stadtteil Griebnitzsee, ein Villenvorort, alles im allerfeinsten Zustand. In den neunziger Jahren sah es hier noch anders aus. Geblieben ist der Straßenname: Karl-Marx-Straße. Welch ein Kontrast zwischen wohlhabenden Bürgertum und kommunistischer Idee…
Es wird langsam dunkel und ich erreiche die Gedenkstelle Griebnitzsee (VP 15), auch hier sind noch Mauerreste zu finden. 20:30, eine Stunde vor Cut-Off, ich habe also zugelegt. Zeit für Warnweste und Stirnlampe. Nun kommt der sieben km lange, schnurgerade Königsweg durch den Wald Richtung Zehlendorf. Traumhaft schön in der zunehmenden Dämmerung und im Schein der Stirnlampen vor und hinter mir. Am Ende des Weges dann Familie Thiel, die mit ihren Siedlungsfreunden den VP16 bewirtschaften. Super Stimmung hier, und das nach 8 Stunden Dienst am Läufer. Vielen Dank an Euch, stellvertretend für alle Supporter.
Für mich ich ist hier Schluss nach knapp 16 Stunden und 96 km. Zeit wäre noch genug gewesen. 14 Stunden für 65 km. Leider habe ich mir aber schon vor Wochen das Knie verletzt und konnte wenig trainieren. Erst kurz vor dem Lauf war das Knie wieder schmerzfrei, sonst wäre ich gar nicht erst gestartet. Traurig bin ich nur ein wenig, ich nehme ein tolles Erlebnis mit, freue mich über das Erreichte und bin begeistert von der Organisation und den vielen Helfern.
Ich bin nicht der einzige, der vorzeitig aufhört. Von den 523 angemeldeten Einzelläufern sind 454 gestartet, davon haben 350 gefinisht, fast 25% sind ausgeschieden.
Zurück zum Start-/Zielgelände geht es mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, Familie Thiel weist mir den Weg, die Startnummer gilt als Fahrschein. Auf dem Weg zum Bus begegnet mir Jeanine, die sich verlaufen hat, was trotz der exzellenten Wegmarkierung aufgrund der Müdigkeit passieren kann. Ich kann ihr den Weg weisen mit dem Hinweis, dass die Besenläufer vorbei sind. Sie gibt Gas, schließt auf und finisht am Ende erfolgreich. Glückwunsch.
Am Ziel angekommen, erlebe ich die Ankunft der schnellen Läufer bei Nacht, eine tolle Atmosphäre. Ich komme wieder, schon alleine deswegen, um diesen Bericht zu ergänzen.