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Laufberichte

Die Sache ist geritzt

21.07.12

Auf der schwarzen Matte wird meine Anwesenheit registriert, dann wird es so richtig kernig und knackig. Mindestens im übertragenen Sinne. Unter den Sohlen bedeutet das Trail der tiefen Sorte. Mir sagt der Mix zwischen Felsbrocken und Matsch zu. Es ist, wie wenn im Kopf ein Schalter umgelegt wird. Es ist nicht nur ein Gefühl. Je steiler es wird, umso näher rücke ich zu denen vor, die mir zuvor  im Tal uneinholbar weit entfernt schienen. Es tropft von meinem Gesicht herunter,  ohne dass ich weiß, woher die Flüssigkeit kommt. Regen, Nebel, Schweiß – oder tropft einfach die Nase? Egal, das Gefühl ist gut, da fühle ich mich wohl und heimisch. Weit oben, über einem der vermehrt auftretenden Schneefelder, sehe ich ein paar Leute des Sicherheitspostens. Tief unter mir, aber distanzmäßig nicht weit entfernt, sehe ich die Beiden, welche mir vor einiger Zeit den Vortritt ließen. Wenn ich diejenigen direkt über mir sehen wollte, müsste ich den Kopf so in den Nacken legen, dass ich in Gefahr käme, das Gleichgewicht zu verlieren, also lasse ich es bleiben.

Und dann ist die Sache geritzt. Ich erreiche den höchsten Punkt der Medium-Strecke, das Ritzenjoch/Ritzerjoch auf 2688m. Die vier hier oben postierten Leute sind nicht nur um unsere Sicherheit besorgt, auch Wasser und Riegel werden bereitgehalten. Der „Lion’s“ ist – so knapp über dem Gefrierpunkt – pickelhart aber hoch willkommen. Auf dem Wegweiser steht, dass es bis nach Galtür und Mathon drei Stunden zu wandern sind. Mathon ist der Name eines zu Ischgl gehörenden Ortes und nicht etwa die Kurzform von Marathon, obwohl es gerade heute dieser Auslegung bestens gerecht würde. Drei Stunden werde ich bis zum Ziel nicht brauchen, dafür ist der Trampelpfad abwärts zu einladend. Über die Geröll- und Schneefelder hinab lasse ich es für meine Verhältnisse so richtig krachen.

Man sagt, dass es für den Laufsport fast nichts an Ausrüstung braucht. Nur ein paar Schuhe und Klamotten. Das mag für Feld, Wald, Wiese und Straße so richtig sein. In den Bergen braucht es ein bisschen mehr. Ich bin froh, dass ich dieses gewisse Etwas an den Füssen habe.  Das flache Leichtgewicht lässt mich den Untergrund spüren, das Profil krallt sich in Schnee und Matsch fest und die weiche Gummimischung sorgt für hervorragende Haftung auf den nassen Steinen.

Wieder lassen mir ein paar Läufer den Vortritt. Ich bedanke mich und sage vorsichtshalber: „Bis später!“ Ich glaube nicht, dass ich, an der Talsohle des Lareintales angekommen, dieses Tempo werde halten können. Sobald diese erreicht ist, muss auf einem schmalen Holzsteg der Gebirgsbach überquert werden, was für mich eindeutig die größte Herausforderung des heutigen Tages ist. Es geht mit sanftem Gefälle weiter und zuweilen drücken ein paar scheue Sonnenstrahlen zaghaft durch die Wolken. Geröllfelder mit Alpenrosen durchsetzt auf der linken Seite des Wegs, rechts eine stetig wechselnde Erscheinung des Fließgewässers. Einmal breitet es sich wie in ein Flussdelta breit im Talgrund aus, dann mäandriert es munter fließend an saftigen Weiden und Geröllkegeln vorbei, welche wie Mahnfinger der Natur daran erinnern, dass man sich hier der Umgebung anpassen muss, weil es umgekehrt nicht geht.

Auf einer Kiesinsel steht eine Kuh, die hinteren Klauen im Wasser, wie wenn es das Normalste wäre und der Alltag einer bovinen Alpbewohnerin aus nichts anderem bestehen würde. Bei der Lareinalpe begrüßen mich ein paar Wanderer und gemeinsam werden wir von ein paar Gehörnten begrüßt. Die einen waren Ziegen. Und das andere? Auf jeden Fall war es kein Faun, auch wenn in dieser Landschaft Platz für Märchengestalten wäre.

Wenig später gibt es wieder einen Verpflegungsposten. Da habe ich gleich doppelt Glück: Erstens kann ich mich mit Cola für die, laut Angaben der freundlichen Helferinnen, verbleibenden sechs Kilometer stärken, zweitens weisen mich die beiden jungen Damen darauf hin, dass die beiden Wegweiser in eine andere Richtung zeigen als die, in welche ich weiterlaufen will… „Jetzt geht es nur noch hinunter nach Galtür“, sagen sie aufmunternd. Hier ist die Waldgrenze und es ist eben dieser Wald, der die folgende Überraschung verbirgt. Für Bewohner eines Bergtals ist ein Gegenanstieg, wie er sich kurz darauf über eine gefühlte Ewigkeit hinzieht, offensichtlich nicht der Rede wert. Danach kann ich es dafür zünftig  und ziemlich lang rollen lassen.

Beim Verlassen des Waldes sehe ich Galtür in ansprechender Entfernung und endlich wieder Läufer vor mir. Habe ich mich tatsächlich von der Spreu zum Weizen vorgekämpft oder war der Abstand zur vorderen Spreu einfach etwas groß? Weil ich heute weniger Kilometer sammeln kann als vorgesehen, beschließe ich, dass ich da weitermache, wo ich auf dem Ritzerjoch begonnen habe. Folglich versuche ich, als Alternative zu den fehlenden Kilometern, einfach noch mehr Geschwindigkeit draufzupacken. Lustvoll quäle ich mich zum nächsten Läufer vor und liefere mir mit ihm einen Positionskampf. Auf dem Pfad durch die Wiese kann ich auch den Abstand zur Läuferin vor mir verkleinern, einer Teilnehmerin auf der um 10.00Uhr gestarteten Small-Strecke. Kaum sind wir wieder auf der geteerten Straße, muss ich zusehen, dass ich dranbleiben kann. Im Schlussstück übers Gras mobilisiere ich meine Kräfte und kann davonziehen und mit Vorsprung ins Ziel vor dem Sport- und Kulturzentrum in Galtür einlaufen. 

Nach kurzem Durchatmen zieht es mich in  den Eingangsbereich des Zentrums, wo es verschiedene Getränke und Verpflegung gibt und ich gegen Abgabe des Transponderbandes die Depotgebühr von € 50.- zurückerhalte und das Finishergeschenk, eine Alugetränkeflasche, bekomme. Mit der Startnummer gab es auch vier Gutscheine. Den ersten präsentiere ich an der Kasse und die Schranke gibt mir den  Zutritt ins Hallenbad frei, wo sich der bekennende Heißduscher unter die - vorsichtig ausgedrückt  - erfrischende Dusche stellt.

Das Warme gibt es anschließend im ersten Stock im Saal gegen Abgabe des zweiten Gutscheins in Form von dreierlei Pasta mit ebensolcher Auswahl an Saucen. Dazu wird eine reiche Auswahl an Salaten angeboten und Gutscheine drei und vier in meinem Fall in zwei Flaschen Bleifreies umgetauscht.

Ich setze mich beim Essen zu Manu, Chris und Erik; mit den beiden Jungs war ich eine Weile im Fimbatal unterwegs. Als Muttersprachler überlegt er sich nochmals, warum die Streckenvarianten Small, Medium und Hard heißen. Konsequenterweise müsste die kürzeste doch Soft oder die längste Large genannt werden. Nun, ich vermute, dass wer auf 15km 1100 Höhenmeter zurücklegt,  nicht wirklich ein Softy ist. Und wer in den Bergen über 43km abspult, sieht sich lieber als harten Hund oder als hartes Schwein (im Sinne von „Quäl dich du Sau“) denn als großen Hund oder großes Schwein…

Nach dem gemütlichen Essen bleibt mir bis zur Siegerehrung genügend Zeit, mit dem für Teilnehmer und Angehörige an diesem Tag regelmäßig verkehrenden Shuttlebus zurück nach Ischgl zu fahren und mein Auto zu holen. Vor der Siegerehrung spielt das Duo Landfunk auf, womit ich auch noch in den Genuss einer Prise Tiroler Stimmungstourismus komme. Fürs Treppchen der Gesamtsieger über Medium-, Small- und Small-Nordic-Walking sind Prämien im Gesamtbetrag von insgesamt € 4000.- ausgelobt, das ist doch eine ganze Menge Geld. Ich würde diesen Topf  breiter verteilen und die Rangierten der einzelnen Klassen auch auszeichnen. Mit meinem Zeitabstand zu einem Platz auf dem Treppchen kann ich mir diese Bemerkung erlauben, ohne mir den Vorwurf einzuhandeln, eigennützig zu denken.

Von den Veranstaltern ist das Eingeständnis zu hören, dass sie mit dem definitiven Plan für diese Erstaustragung etwas spät auf dem Parkett erschienen, dass sie aber mit dem Teilnehmeraufmarsch durchaus zufrieden sind und uns mit weiteren Bergläufern im Schlepptau hoffentlich im kommenden Jahr wieder begrüßen dürfen.  Was mich betrifft, gerne. Nachdem ich mich mit den gebotenen Leistungen des Silvretta Runs 3000 durchaus königlich gefühlt habe, würde ich gerne nach der Krone greifen, zumindest auf dem Kronenjoch.

Nach Abschluss der Veranstaltung steht der Besuch des Alpinariums auf meinem Programm. In diesem Bauwerk, Teil der nach dem tragischen Lawinenereignis von 1999 errichteten, 345m langen Lawinenschutzmauer lasse ich die Ausstellung „Leben am Berg – Faszination Schnee, Mythos Lawine“ auf mich wirken. Hätte ich kein Verständnis für die Annulation der langen Strecke gehabt, dann müsste spätestens jetzt der Groschen fallen.

Noch einmal genau nach Wegweisern achten muss ich bei der Suche nach dem Hotel Casada, wo ich mich bis zur Heimfahrt am Sonntag in der familiären und gemütlichen Atmosphäre der Paznauner Gastfreundschaft von meinem Einsatz erholen darf. Straßennamen sind Fehlanzeige, die Philosophie des Traillaufens beginnt schon im Dorf: Also, GPS aktivieren  – und die Sache ist geritzt.

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Informationen: Silvrettarun 3000
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