Nicht gerade einfach gestaltete sich meine Reise nach Prag. Das ist natürlich nicht der Verkehrstechnik geschuldet, denn mit dem Flieger ist man in einer guten Stunde von Köln in der tschechischen Hauptstadt. Nein, das Problem ist bei mir mentaler Natur, denn die Familie meines Vaters wurde 1946 infolge des verlorenen Krieges unter unschönen Umständen aus ihrer Heimat vertrieben. Darüber sind zwar mittlerweile 67 Jahre vergangen, ein Besuch stand aber dennoch nie auf meiner Tagesordnung.
Dann kam im Februar der Marathon in Bad Füssing, wo ich im Hotel eine sympathische Familie kennenlernte. Perfekt deutsch sprechend, entpuppte sich der Vater als im ostböhmischen Skutsch geborener Prager, der ein bewegendes Schicksal gemeistert hatte.
Bei einem unverschuldeten Autounfall schwerstverletzt, entkam er nur um Haaresbreite einem querschnittsgelähmten Leben im Rollstuhl. Aus Dankbarkeit für seine Genesung umrundete er als Benefizlauf Island in dreißig täglichen Marathonläufen, nur durch seine Frau im Wohnmobil unterstützt. Mit dem erlaufenen Geld konnte ein Rollstuhl für einen Prager Rollstuhl-Sportverein beschafft werden. Auf der Strecke um Bad Füssing hatten wir viel Spaß zusammen und halten seitdem Mailkontakt. Als sich dann die Gelegenheit ergab, beim Prager Marathon zu starten und René Kujan mir zudem mitteilte, daß er den 4-Stunden-Zugläufer geben würde, war die Situation völlig verändert und das fast schlagartig. Glücklicherweise sage ich jetzt. Ich bin Dir sehr dankbar, René, daß Du mir, ohne es wissen zu können, einen Zugang zu Euch verschafft hast.
Vor der Anreise liegt zunächst die Herausforderung der Anmeldung. Auf der anfangs leider unübersichtlichen und lückenhaften Internetseite finde ich zunächst auf den ersten Blick zwar jede Menge Werbung für weitere Laufveranstaltungen in Budweis, Olmütz, Aussig und Karlsbad, aber nur sehr unzureichende Informationen über den Lauf selber. Das verbessert sich wenige Wochen vor dem Lauf deutlich, auch der bisher vermißte Streckenplan ist verfügbar. Aber im Zweifelsfall wäre es auch ohne gegangen, wie schon die erste der heute zu nennenden tschechischen Lokomotiven, der legendäre Emil Zatopek, wußte: „Hier ist der Start, dort ist das Ziel. Dazwischen mußt Du laufen.“ Die früher angebotenen Zehner und Fünfer gibt es nicht mehr, dafür div. Staffeln und einen Minimarathon über 4,2 km, zu dem jeder Marathonteilnehmer ein Familienmitglied kostenlos anmelden kann. Ein feiner Zug, der auch funktioniert, und schon ist auch mein mobiler Fanblock sportlich versorgt.
Am Freitagabend fliegen wir für drei Tage in die „Goldene Stadt“ an der Moldau, Rückkehr am Montagabend. So haben wir vor und nach den Läufen jeweils einen ganzen Tag zur Stadterkundung, überwiegend per Pedes, am Ende werden wir nur noch rudimentäre Rückmeldungen unseres Geläufs bekommen. Gewußt hatten wir es ja schon vorher: die Stadt ist trotz vierzig Jahre Sozialismus ein Traum und vom Krieg weitestgehend verschont geblieben. Eine dreistündige Stadtführung, die uns (aus Zeitgründen) nur die absoluten Glanzlichter zeigen kann, macht Appetit auf mehr. Schon jetzt ist klar, daß dies nicht unser letzter Besuch hier bleiben kann. Andrea hat es im vergangenen Jahr umfangreich und höchst sachkundig beschrieben, daher will ich mich beim Kulturellen auf das Wesentliche im Rahmen des Laufs beschränken, aber auch das wird ausführlich genug werden.
Die Marathonmesse bedarf besonderer Erwähnung, denn sie findet in geradezu historischem Ambiente auf dem traditionellen Messegelände statt. Auch wenn es leicht verregnet ist, beeindrucken die Jugendstilhallen durch ihren guten Erhaltungsstand und versprühen den Charme der vergangenen habsburgischen Geschichte. Hervorragend ist das Leitsystem auf dem Boden, Verlaufen unmöglich, Fragen unnötig. Das Angebot ist groß, die Bude voll, aber man kann sich ja nicht alle paar Wochen neu einkleiden. Am Ende erleben wir noch den Start des „Walk with dog“ mit. Wirklich, die Tölen tragen Startnummern und gehen mit Frauchen und Herrchen eine Strecke ab. Dinge gibt’s…
Am Laufmorgen gibt es vom Veranstaltungshotel aus sogar einen Shuttleservice, der die Masse der hier untergebrachten Teilnehmer (darunter sämtliche Stars) um 7.15 Uhr in den Startbereich bringt. Wir nutzen den „Lumpensammler“ um 8 Uhr und kommen so zwar auf den vorletzten Drücker an, dafür geht es um 9 Uhr aber auch gleich los.
Rund 9.500 Läufer aus 78 Nationen, die Hälfte davon Einheimische und jeder Vierte insgesamt ein Marathonnovize, werden heute in Prag unterwegs sein, obwohl die Konkurrenz wirklich groß ist. Alleine zehn reine Marathonveranstaltungen bietet der m4y-Laufkalender an diesem Wochenende an, acht davon am heutigen Sonntag.
Wie meistens bei großen Stadtläufen sind die Kenianer und Äthiopier beiderlei Geschlechts die Favoriten. Bei den Männern erhofft man sich bei gutem Verlauf eine 2:05, bei den Frauen eine Zeit von wenig über 2:20. Das werden sie am heutigen Tage deutlich verfehlen. Mit von der Partie sind unter anderem mit István Kovács (3:54) und Dariusz Michalczewski (scheint ausgestiegen zu sein) auch zwei Boxweltmeister und nur eine nachdrückliche Empfehlung des Trainers wegen eines anstehenden Kampfes stoppte den dritten, Lukáš Konečný, in ihrer Begleitung zu starten!
René steht mit seiner Teufelskappe bereits im Startblock parat, umringt von jeder Menge Gefolge (wie unangenehm, fast alles Frauen!), das in seinem Windschatten die 4:15 schaffen will, für diese Zeit ist er verantwortlich. Mit Friedrich Smetanas „Moldau“, dem wohl berühmtesten Stück des nicht weniger berühmten böhmischen Komponisten, werden wir auf die Strecke geschickt. Glücklicherweise nicht mit den ersten Takten, die hätte nämlich niemand gehört, weil der Flußverlauf von der Quelle bis zur Mündung mit stetig steigender Instrumentenzahl und Lautstärke dargestellt wird. Renés ehemalige Kommilitonin, Katerina Jacques, spricht erfreulicherweise ebenfalls perfekt Deutsch und meint, ich müsse jetzt vor Rührung weinen, bei ihr sei das an dieser Stelle immer so. Ich lache und gebe mich fröhlich/entspannt. Mädchen, wenn Du wüßtest, wie es in mir aussieht, und wie groß der Kloß in meinem Hals ist!
Die Wahl des Musikstücks ist im doppelten Sinn passend: Wir starten nämlich in unmittelbarer Nähe dieses Flusses, zudem jährt sich Smetanas Todestag exakt heute zum 129. Mal. Ich höre manche schon klagen: Der heißt doch nicht Friedrich mit Vornamen, sondern Bedřich! Beide haben wir recht, denn Smetana verkörpert in geradezu idealtypischer Weise die multikulturelle, insbesondere deutsch(sprachig)-böhmische Vergangenheit seines Heimatlandes. Auf den Vornamen Friedrich getauft, sprach er zuhause und während seiner Schulzeit stets Deutsch.
Erst als Erwachsener entwickelte er ein tschechisches Nationalgefühl, erlernte die tschechische Sprache und änderte seinen Vornamen bewußt zur tschechischen Namensform Bedřich. Sein erster tschechischer Brief stammt aus dem Jahre 1856 (da war er 34 Jahre alt), in seinen Tagebüchern verwendete er jedoch bis 1861 die deutsche Sprache.
Schon am Start auf dem berühmten Altstädter Ring, dem ältesten Prager Platz aus dem 12. Jahrhundert, begeistert mich die Vielzahl toller Häuser im Rokoko-, Renaissance- und Gotikstil. Ein besonderes Juwel unter vielen ist die astronomische Uhr, die wir gestern ausführlich betrachtet haben, am historischen Rathaus. Viele Berühmtheiten, darunter Smetana, Albert Einstein oder Franz Kafka (der mit der psychosozialen Komponente im Spätwerk, regelmäßige SWR 3-Hörer wissen bescheid!) hatten in Prag einst ihr Zuhause.
Nach wenigen hundert Metern überqueren wir von der Altstadt zur sog. Kleinseite auf der Moldaubrücke im Jugendstil (Čechův most) das erste von insgesamt acht Mal diesen Fluß, den wir, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf etwa acht Kilometern beidseitig, teilweise als Begegnungsstrecken, ablaufen werden. Es erwartet uns also ein Bild, wie ich es z. B. vom Oberelbe-Marathon oder vom Rhein her kenne und liebe. Wasser übt doch auf die meisten von uns eine immense Anziehungskraft aus. „Brücke“ heißt hier übrigens Most, darunter hatte ich bisher immer etwas anderes verstanden.
Vom gegenüberliegenden Berg grüßt ein riesiges Metronom, das 1962 das Stalin-Denkmal nach nur acht Jahren des Bestehens ersetzte. Der zum Bau des gesprengten Denkmals zwangsverpflichtete Künstler hat sich nach der Fertigstellung aus Scham das Leben genommen, so unsere Fremdenführerin. Unterhalb der phantastischen und daher völlig überlaufenen Prager Burg verläuft der zweite km. Sie bildet auf dem Berg Hradschin das größte geschlossene Burgareal der Welt. Im 9. Jahrhundert gegründet, ist sie seither Sitz des Staatsoberhauptes und auch heute offizielle Residenz des Präsidenten der Tschechischen Republik. Inmitten der Burganlage befindet sich der berühmte Veitsdom und viele weitere tolle, meistens Regierungsgebäude, in einem davon werden die Kronjuwelen aufbewahrt.
Es ist bewegend für mich, die Örtlichkeiten, über die zuhause gesprochen wurde, mit eigenen Augen zu sehen und mir meine Familie hier vorzustellen. Wo wäre ich heute, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre? Und wer wäre ich und was? Schnell weiter, bevor ich ganz sentimental werde.
Noch auf dem zweiten km gelingt mir ein Foto der führenden Männer, die uns, selbst schon am Ende des fünften km, auf der unterhalb verlaufenden Straße entgegenkommen. Klar, alles Schwatte, wie immer. Aber ein wahnsinniger Weißer läuft sich voraus die Lunge aus dem Leib. Ob der schlicht einen Scherz oder ernst machen wollte, wird sein Geheimnis bleiben. Auf jeden Fall werden es für ihn bleibende Momente gewesen sein.