… never reaching the end. (oder so ähnlich / The Moody Blues, 1967)
Hitverdächtiger Ultra in sommerlich-lauer Nacht durch die sanften Hügel des Kraichgaus. Der Duft der Felder und das abwechslungsreiche, geschichtsträchtige Land im perfekten Zusammenspiel zwischen Natur und Mensch, ist das geniale Revier für den Streuner.
Bretten, 20 km nordöstlich von Karlsruhe, 52 km Rundkurs, nicht zu kurz, nicht zu lang, nicht sehr schwer, 900 Hm, Start 18 Uhr, Limit 7 Std +. Dritte Austragung des Night52. Über 100 Läufer treten an.
Startnummernausgabe gegenüber dem Simmelturm (simvel = rund), Teil der Stadtbefestigung. Ein paar Einschusslöcher weisen auf den württembergischen Angriff von 1504 hin. Georg Simmel (1858-1918) hat übrigens ein sehr interessantes Buch “Zur Psychologie der Frauen” geschrieben, in dem er diese bahnbrechende Erkenntnis hat: “ …das Weibchen ist überall den Jungen der eigenen Spezies ähnlicher als das Männchen….”
Die Erkenntnis, nicht direkt am Startgelände zu parken, ist auch schnell erlangt, denn die kleine Stadt brodelt. Es wird der CityCup ausgetragen und alles was laufen kann, ist heute Abend dabei. Der TV Bretten kann die Massen motivieren. Der große Parkplatz an der Sporgasse ist ideal. Wer will, kann im Auto pennen, im Stadion zelten oder in der Halle übernachten. Kurzer Weg durch die pittoreske, sehr belebte Altstadt mit preisgünstigen Pensionen.
Berühmtester Sohn der Stadt ist Philipp Melanchthon (*1497), der “Lehrer Deutschlands”. Er reformierte das Wesen der Universitäten und war neben Martin Luther treibende Kraft der Reformation. An der Stelle seines Geburtshauses (1689 abgebrannt) wurde 1897 das Melanchthonhaus am Marktplatz gebaut.
Bretten ist berühmt wegen seiner Möpse. Hier sind jetzt die Hunde gemeint. Denn als Bretten von 30.000 Württembergern belagert wurde, mästete man einen kleinen Hund bis kurz vorm Platzen und schickte ihn vor die Tore der Stadt. Die Belagerer zogen ab. Denn wenn die Hunde schon so fett sind, dann haben auch die Einwohner genug zu essen. So deren Erkenntnis.
Auch die Läufer werden gemästet. Schon am Start, aber erst recht an den Verpflegungsstationen. Dort wird nicht Leitungswasser mit ein wenig Farbe ausgeschenkt, sondern Qualitätsgetränke aus der Flasche: Cola, Mineralwasser, Apfelsaftschorle, richtige Isolimo. Und natürlich noch viel mehr, weswegen ich eine Premiere erlebe: ich werde heute meine Eigenverpflegung einsammeln und zuhause trinken.
Nach einer großen Runde durch die Altstadt geht es hinaus in die Felder des Kraichgaus. Die Felder sind sehr fruchtbar. Lössdecke auf Muschelkalk - das Wasser löst den tiefen Muschelkalk langsam auf, es bilden sich Uvalas. Uvala ist kein Eisprung, sondern sind diese Einbrüche in Karstgebieten.
Gelaufen wird auf festen, verkehrsfreien Wirtschaftswegen, dennoch werden heute Nacht einige Läufer bös hinbretzeln. Da nun die heiklen Stellen nun bekannt sind, werden sie im nächsten Jahr für die Schlafmützen deutlich markiert sein.
In Sprantal beginnt ein Weg mit interessanten Grenzsteinen. Einmal im Jahr mussten die Knaben zu den Grenzsteinen. An jedem Stein gab es eine schallende Ohrfeige: “Schreib dir hinter die Ohren, wo der Genzstein steht!” Im Anschluss gab es Berge von Süssigkeiten. Heute gibt es Gummibärchen, Hefezopf und Müsliriegel am VP – ohne Ohrfeige.
Schon in den Orten Nußbaum und Göbrichen bilden die vier Läufer (einer davon bin ich), die letzte Woche den Thüringen Ultra gelaufen sind, das Schlusslicht des Läuferfeldes. Dafür haben wir jetzt die gesamten Höhenmeter absolviert.
Zweiter VP ist am Auenhof in Bauschlott (km 15), er wird von Mitmenschen mit “kognitiven Problemen” betrieben. Ich hörte mal von einer Studie, die ergab, dass Ultraläufer im Ziel einen um 30 Punkte niedrigeren IQ haben. Kaum vorstellbar. Wer soll meine Berichte noch verstehen, wenn ich einmal nicht mehr laufe?
Übrigens wurde in den Wäldern rund um Bretten die internationale Währungsordnung beschlossen. Jedem Leser ist doch wohl das Abkommen von Bretten Woods bekannt.
Micha und Oli checken jetzt regelmäßig per Montainbike, wie es den versprengten Läufern geht. Sie bilden keinen nervigen Besenwagen, sondern übermitteln Grüße unter uns Schlussläufern, oder bereiten die Verpflegungsposten auf meine fulminante Ankunft vor.
Bei Kleinvillars geht es an den Angelteichen, den Böllstrichseen vorbei. Der Aalkistensee ist schon im 16.Jahrhundert durch Aufstauung der Salzach entstanden. Sein Name geht darauf zurück, dass Mönche in dem See Aale für die Fastenzeit aufbewahrten. Ein Junge trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: “Mein Fang, Papas Stolz” Ich frage unüberhörba: “ Macht ihr auch Sport?“.
Die rote Sonne lässt Kondenzstreifen und die weißen Kühe mit ihren Kälbchen rosa glühen. Auf Wiesen, in Gärten oder unter alten Obstbäumen feiernde Menschen. Angenehme Musik, der Duft nach Gegrilltem - es wird dunkel.
In Knittlingen wurde ein dunkler Typ geboren, der Mogeldoktor, Magier, Astrologe und Experimentator Johann Georg Faust, das berühmte Vorbild von Dramen, Opern und Romanen. Es war die Zeit, als Amerika entdeckt wurde und der Halleysche Komet über die pestgebeutelten Landschaft flog. Da trieb sich dieser Faustus in der Poststation der Fürsten von Taxis hier in Knittlingen herum und fing Nachrichten und Gerüchte auf, die Grundlage für sein prahlerisches Wesen wurden.
Die Straßenbezeichnung Heerweg deutet auf die Römer hin, dann geht es entlang der alten Handelsstraße durch das Tal des Saalbachs/Weissach. Es ist genau die Straße, die ich, beim Fidelitas aus dem Pflinztal kommend, in meinem Bericht beschrieben habe. Uralte Mauern und Hohlwege, durch die wir nun laufen.
Das Derdinger Horn ist ein Aussichtspunkt inmitten der Weinberge. Micha und Oli, die Radkuriere, selbst Triathleten, sind begeistert von uns bekloppten Vielläufern. Das ganze Orgateam besteht aus Triathleten und Langläufern, eine großartige Familie mit viel Spaß am Organisieren. Für nächstes Jahr bestelle ich mir für die letzten VP Schmalz-und Salamibrote mit Gurken.
Für nächstes Jahr? Definitiv bin ich wieder dabei! Diesen Lauf lass ich mir nicht nehmen!
Die Streckenmarkierung ist perfekt. Die Pfeile auf dem Asphalt leuchten, ansonsten keine Flatterbänder, sondern richtige Schilder mit großen, leuchtenden Pfeilen. Gerhard hat ganze Arbeit geleistet. Es wird kühl.
Die Landschaft ist wunderbar abwechslungsreich, fotografieren kann ich in der Dunkelheit nur an den VPs. Also bitte keinen falschen Eindruck bekommen. Zwischen den VPs liegen schon einige Kilometer. Aber wie soll ich diese wunderbare Nacht sonst einfangen, die abseits der Häuser das Eintauchen des stillen Läufers in das natürliche Leben ermöglicht? Man muss es erleben. So ein Nachtlauf ist genial, die pure Freiheit!
In den dunklen, freundlichen Feldern duftet es nach reifem Korn, Blumen, Kirschen, feuchter Erde. Igel, Dachs und Wiesel kreuzen die Wege. Sanftes Gurgeln klarer Bäche. Wer erlebt noch so was? Die meisten sitzen doch jetzt im Garten, starren in die Glut des Grills oder auf das Etikett der Bierflasche. Gegen Bier habe ich zwar auch nichts, aber ich brauche die Geschwindigkeit, diesen Wechsel von kühler-feuchter Luft in den Niederungen und warmer, gesättigter zwischen den prallen Kornfeldern. Das Säuseln des Windes in den Weinbergen, die Abendmelodien der Vögel, den Blick hinunter zu den glitzernden Häusern und hinauf zu den flimmernden Sternen. Das Spiel von Leben und Tod, von Insekten und Fledermäusen, den Rhythmus der wippenden Strinlampe, die Musik von Gartenfesten. Und Klatsch! Wieder ne Scheiß Mücke erschlagen.
Endlich sammele ich einige Vorläufer ein. Jedoch nicht für immer, denn in den kleinen Dörfern ist Party am Streckenrand. Ich suche gerne den Kontakt zu den Eingeborenen: “Joe, du bist der erste Läufer mit Charakter!” Dann bestelle ich noch schöne Grüße an meine Nachfolger, die auch sehr charaktervoll sind und garantiert hier stehen bleiben und folge meinem relativ einfachen Weg durch die weiße Nacht von Bretten, die von fernen Feuerwerken beleuchtet wird. Sehr schönes Sommererlebnis.
Beleuchtet ist auch das Stadion, mit kleinen Fackeln. Sehr emotional der Zieleinlauf. Ein wenig früher, und die Band auf der großen Bühne hätte noch gespielt.
Noch schöner ist der Empfang mit reicher Zielverpflegung. “Joe, hol dir Essen aus der Küche. Oder soll ich dir was bringen? Alles im Startgeld enthalten!” “Trink noch ein Bier!” Simon hat alle Hände voll zu tun.
Es gibt nicht viele Läufe, von denen ich sagen kann, das Startgeld wird 1:1 an die Läufer zurückgegeben. Das ist einer!
Dieser Lauf kommt in meine Hitkiste. Aus einer kleinen Stipvisite entsteht totale Freundschaft und Begeisterung. Simon, Armin, Gerhard, Simone, Günter, Emanuell, Tom, Miriam, Daniel, Oli, Micha und all die anderen der fröhlichen Orgafamilie: Leute, das habt Ihr prima gemacht! Wunderbar!
Bis zum nächsten Jahr, wenn es wieder heißt: “Nights in white Bretten, never reaching the end.”