Mächtig dick ist die Lehmschicht im Kraichgau, einer langen Senke zwischen Odenwald und Schwarzwald. „Kreusch“, also Lehm, nannten schon die Kelten das Gebiet, in dem der ältesteste Deutsche, der Homo heidelbergensis rumkreuchte.
Wer vor 1963 kreuchte, der kannte ein kleineres Kraichgau, aber dann beschäftigte sich die Bonner Bundesanstalt für Raumforschung mit dem Fall. Nun reicht der Kraichgau bis kurz vor Heidelberg. Dank an die Bonner Astronauten!
In der fruchtbaren, abwechslungsreichen und leicht hügeligen Landschaft machte die Landwirtschaft nie große Mühe, das Laufen erst recht nicht, sodaß man schon in der Jungsteinzeit Zeit für ausgiebige Parties hatte, wie Funde tönerner Trinkgefäße beweisen.
Mein Fund beginnt am Parkplatz „Am Husarenbaum“, den ich nicht finde. Der Name deutet es an: Hier lagerten einst Reiter aus den Balkanländern, es waren Söldner, die im Mittelalter bei der Belagerung Brettens halfen. Ich will nicht belagern, ich will parken und finde den brandneuen, teletubbiartigen Parkplatz der Sporgasse. In der Sporgasse war einst die Schmiede, in der man die Sporen für die Husarenpferde anfertigte.
Theoretisch kostet der Parkplatz Geld, aber die Software will nicht und die Schranken fallen runter. Nur die im barrierfreien Asphalt eingelassenen Lampen funktionieren. So würden auch die Husaren den Weg in die Altstadt finden. Von dort sind es wenige Meter bis zur Withum Sportanlage, die wieder außerhalb der ehemaligen Stadtmauer liegt. Die Sportanlage ist mal nicht nach irgendeinem Bürgermeister benannt, sondern nach den Brüdern Withum, die die Zerstörung der Stadt im Pfälzischer Erbfolgekrieg dokumentiert hatten.
Der Pfälzische Erbfolgekrieg wurde vom Sonnenkönig angezettelt, ein wiederholter Versuch Frankreichs, sich nach Westen auszudehnen. Heutzutage machen das die französischen Radiosender, denen mehr Power zugestanden wird, als SWR3.
Die Einschußlöcher am Simmelturm sind älter. Sie stammen aus dem Jahr 1504, als Ulrich von Württemberg die Stadt belagerte. Ein Jahr zuvor ist der Herzog (damals 16 Jahre alt) vorzeitig als volljährig erklärt worden, was bei uns Ultrabekloppten undenkbar wäre. Er fand sich dann auch so toll, daß er die 300 Seelenstadt Bretten mit 30.000 Mann und den Husaren belagerte. Den Sieg über den Minderjährigen feiern die Bretter, äh Brettener, alljährlich mit dem dreitägigen Peter und Paul Fest. Eine Woche danach sind die Trinkwunden verheilt, sodaß man den Night52 austragen kann. Deswegen bin ich hier.
In der Sporthalle kann man sich umziehen und trockene Kleidung für die After-Race Party lagern, oder auch schon seine Schlafmatte ausbreiten. Auf dem Sportplatz gibt es Kuchen, Steaks, Bratwürste und Bier, dann läuft man um 17:45 mit vollem Bauch los.
Es geht nicht mehr durch die Fußgängerzone, denn den Touristen sind die Eiskugeln aus der Waffel gefallen, wenn die Läufer vorbeigehechtet sind. Den Hang auf der anderen Seite hechte ich nicht hinauf, denn ich weiß, es geht gleich durchs hohe Gras. Dort lauern Zecken, die sollen sich erstmal um meine Vorläufer kümmern.
Mir klebt schon der Schweiß, in den Feldern steht jetzt die Hitze. Nicht ein Windhauch liefert Kühlung. Gerhard hat wegen „extremer Unwettergefahr“ die Teilnahme am Lauf abgesagt, aber es gibt sehr viele Nachmeldungen, sodaß es auch ohne ihn einen Teilnehmerrekord gibt. Es wird aber auch einen neuen Abbrecherrekord geben. Ich muss auch brechen, ins Gras, auf die Zecken. Die Bratwurst ist schuld.
Getränke gibt es am ersten VP (km 7) in Sprantal, aber ich habe Magenstau. Sprantal, das registriere ich noch, ist ein kleines Örtchen, das uns zunächst mit hübschen Einfamilienhäusern begrüßt, dann mit einer Reihe uralter Bauernhöfe mit wunderschönem Fachwerk. Das jeweile Wohngebäude ist meistens erhalten geblieben, aber die hinten liegenden Stallungen und Wirtschaftsgebäude sind dem Verfall überlassen. Genau wie ich jetzt.
Das Örtchen Nußbaum ist älter, es gibt römische Siedlungsreste. Unterhalb des Pfarrhauses geht’s zurück in die heissen Felder. Der alte Hohlweg ist nur noch am Strassennamen zu erkennen. Nichts prägt den Kraichgau so, wie seine Hohlwege, Jahrtausende alte Handelswege, die sich metertief in den Lößboden gefräst haben. Es sind gerade in der Nacht schaurig schöne Biotope, mit Fledermäusen und und fetten Käfern, die in das Licht der Stirnlampe fliegen. Einst waren diese Wege mit Baumstämmen gegen Raubüberfälle überdacht, nun schweben Glühwürmchen, Feuerwerk und Wetterleuchten über diesen Wegen.
Nach 15 Kilometern kommen wir nach Bauschlott, das letzen Monat schwer überschwemmt wurde. An mir läuft das Wasser runter, die Gaststätte vom 1.FC Bauschlott bietet Abhilfe. Wie jedes Jahr fallen den beleibten Altfußballern die Gläser aus der Hand, wenn sie registrieren, dass es einen Läufer gibt, der ganz normal ist.
In Bauschlott gibt es immer Bauschrott, doch der Name geht auf das Wasserschloß Buslat (16.Jahrh) zurück, was links unter unserer Laufstrecke steht. Dort, wo der Baucontainer stehen, ist unser zweiter VP und Standort des Sponsors eines Namensvetters von mir. Ich habe Joey Kelly heute nicht gesehen. Er läuft mit den Mitarbeitern der Firma für Raumgestaltung den 10er. Die Party auf dem Firmengelände der Firma Spörr ist noch nicht eröffnet, weil die so langsam sind.
Wir haben zum Streckenplan die Telefonnummern der drei Organisatoren bekommen. Deren Handies laufen heute heißer als wir. Immer wieder sagt mir Oli, der Besenradfahrer, ich könne jederzeit dort anrufen, werde dann mit Privattaxi ins Ziel gefahren. Mir geht´s wirklich nicht gut, kreuche am Limit und kneife aber die Arschbacken zusammen.
Die Angelteiche „Böllrichseen“ sind von Algen vergiftet und für Angler gesperrt. Algen! Wäre jetzt gerne Vegetarier, denn die Bratwurst grüßt wieder.
Ein kleiner Regenbogen grüßt aus einer fernen Wolke. Er zeugt von der unglaublich schwülen Luft. Bei km 20 gelingt mir ein Superfoto mit dem Bogen, wie er sich im Aalkistensee spiegelt.
Gespiegelt ist der Karpfen, ein Spiegelkarpfen, eine Zucht, die nur eine Reihe Schuppen hat. Diesem Vieh dreht ein stolzer Papa gerade den Haken aus dem Maul. „Oh! Ein toller Hecht!“ rufe ich, und der Junge, der letztes Jahr das T-Shirt „Mein Fang, Papas Stolz“ trug, protestiert laut. „Lass dich nicht verarschen!“ sagt Papa stolz, dann laufe ich lachend die Steigung hinauf in die Felder, über denen prächtige Kumuluswolken vom abendlichen Sonnenlicht aktiviert werden.
In Knittlingen (km 24) ist der dritte VP. Olis Gemahlin hat mir ein kaltes Bier reserviert. Ich kämpfe mich sofort weiter ins Weissacher Tal, einem wunderschönen Naturschutzgebiet, in dem ich mich unter Büschen ablege, weil mir die Beine wegknicken. Der Magen-Darm-Bereich will nicht, ich krümme mich vor Schmerzen.
Den Aufstieg zum Dertlinger Horn schaffe ich trotzdem irgendwie. Mein kunstvolles Röhren vermischt sich mit dem schaurigen Ruf eines Käutzchens. Das beeindruckt meine Mitläufer so sehr, daß es ihnen kalt den Rücken runterläuft. Sie lassen mich angesichts dieser Gefahr gerne überholen. Da Teddy seine Stirnlampe vergessen hat, könnte er jetzt wenigstens den Rückweg finden.
Oben angekommen, gibt es einen herrlichen Blick über die Rheinebene, den ich kaum aber wahrnehmen kann, weil mir noch die Tränen in den Augen stehen. Es gibt Läufe, die laufen einfach nicht. Ein paar Feuerwerksraketen rattern über meinen Kopf hinweg, in meiner Hose bleibt es glücklicherweise ruhig.
Bei zwei Familien ist auch Ruhe, sie feiern nicht mehr an der Straße: „Seit Jahren feierten wir in dieser Nacht den Geburtstag meiner Mutter und versorgten nebenher die Läufer. Jetzt haben uns klagende Nachbarn in den Hinterhof verdrängt.“
Nun ist also erst recht nichts mehr los in Großvillars (km 33). Ein Geschäft oder eine Kneipe sucht man vergeblich, man verkauft Erbsen- und Linsensuppe und Klopapier aus einem Automaten. Was soll ich mit Erbsensuppe? Was soll ich mit Linsensuppe?
Die Fachwerkhäuser sind wunderschön, sie wurden von Waldensern, einer protestantischen Konfession, gebaut. Sehr schön ist das restaurierte Waldenserhäusle (1864), in dem leider auch keine Gaststätte, sondern ein Museum ist. Der VP ist zum Glück kein Museum, Oli hat eiskaltes Bier und eiskalte Cola spendiert. Dazu ein paar Salzstangen, und es geht mir schlagartig besser. Wen wundert´s? Ich bin zurück, kann wieder laufen.
Vor drei Jahren arbeiteten auf diesem Abschnitt in der Dunkelheit die Mähdrescher. Die Scheinwerfer huschten über die Strecke und lockten Fledermäuse an. Heute ist hier Ruhe.
Schnell bin ich in Gölshausen (km 40). Wer nun geradeaus läuft, hat etwa 5 Km abgekürzt und ist vor mir im Ziel, verpasst aber auch den schönsten VP. Es ist der VP von Dirk und Christian, die seit letztem Jahr hier den Verpflegung sponsorn. Die Brüder machen Metallbau, Sonnenschutz und diese Riesenparty im Zuge des Night52. Um diese Uhrzeit sind die Dorfältesten schon im Bett, aber das Jungvolk knutscht noch. Wer nichts zum Knutschen hat, spielt Fußball vor der Werkshalle oder riecht nach Ultra.
Ich bin ein Nachtmensch und wenn ich feiere, dann vergesse ich die Zeit. Irgendwann also treffe ich diese Traumfrau vom Kraichgau und das genau vor der Marienkapelle (1738) vom Adelberg. Der Vater von Simon wirft die Orgel an: „Tatammtadamm, Tadammtadamm“, der Hochzeitmarsch schallt über die Streuobstwiesen und zerreißt die mitternächtliche Idylle, bringt die letzten Glühwürmchen zum Absturz, aber weckt die letzten Lebensgeister in mir:
Bier greifen, Stirnlampe aus und im Höchsttempo, als müsste ich doch noch aufs Klo, fetze ich raus aus dieser notgeilen Gegend!
Nahezu in Überschallgeschwindigkeit brettere ich kurz darauf durch die Fußgängerzone von Bretten, sodaß den Touristen doch noch die Eisbällchen in den Schoß brettern, nehme die falsche Abfahrt und falsche Gasse, komme aus der anderen Richtung, laufe zurück, habe voll die Panik. Dann endlich der Eingang ins kerzengeschmückte Stadion. Schon wieder Orgel? Nein, es ist der bretternde Jubel von Abertausenden von Zuschauern, der mich empfängt. Auf der Zielgeraden werfen mich die Brettener zu Boden, übergiessen mich mit weinhaltigen Getränken und freuen sich über meine sagenhaften Leistung: eine Minute schneller als letztes Jahr! Ick bin ein Bärettener!
Und dann steht sie wieder vor mir! Die Traumfrau! Harald sagt: „Sei bloß vorsichtig!“ Er hat Recht! Er war 29 Minuten schneller, er hatte seine Gründe.
5 mal 29 Minuten später habe ich einen Grund, Richtung Sporgasse zu gehen. Der Zugang zum Parkplatz ist jetzt barrierefrei. Dieses Brett, das ich gelaufen bin, hätte ich also nicht gebraucht. Magenstau und Traumfrau sind wie weggebrettert, es bleibt die befriedigende Erinnerung an einen meiner liebsten Läufe durch den geliebten Kraichgau.