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Laufberichte

Laufen im Herrgottswinkel

04.10.09

Am Ausgang des Dorfes sorgt ein weiterer Fotohalt nochmals für Erstaunen. Nicht so sehr, dass ich anhalte, sondern für welches Motiv. „He, dä fötelet jo dr INRI“, höre ich, als ich ein weiteres Wegkreuz im Bild festhalte.

Die Straße nach Lutter ist eine lange Gerade mit leichtem Gefälle (meinem Patenonkel war vor über 45 Jahren schleierhaft, weshalb ich auf dem Sonntagsausflug auf diesen pfeilgeraden Straßen das Auto vollgekübelt habe…), gesäumt von einem weiteren Wegkreuz. Für den einen oder anderen, an dem ich vorbeiziehe, ist der Ortsname Programm. Ausgesprochen wird das „u“ französich, also „ü“, der Schlusskonsonant wird aber ausgesprochen. Lutter als französiches Verb mit stummem Schlusskonsonant, das ist es, was einige jetzt schon tun müssen: kämpfen. Dabei ist noch nicht einmal die Hälfte um.

Enthusiastische Zuschauer und  schöne Riegelbauten gehören zum Programm, und mitten im Dorf stehen- wie es sich gehört – die Mairie und die Kirche. Einmal links und einmal rechts. Wie früher üblich, wurde das Bürgermeisteramt auch hier zusammen mit der Dorfschule im gleichen Gebäude untergebracht. Am Dachabflussrohr befestigt ist heute das Starttransparent für den Halbmarathon.

Verwirrend ist für mich, dass erst viel später, außerhalb des Dorfes das Kilometerschild mit der 21 auftaucht, kurz darauf aber bereits das erste Kilometerschild für den Halbmarathon. Falls es mir langweilig werden sollte, kann ich immer noch Hypothesen zu dieser Sachlage konstruieren…

Das nächste Wegkreuz wird gesäumt von zwei alten Bäumen, deren Stämme das Kreuz so rahmen, dass es fast wie in ein gotisches Kirchenfenster eingebettet erscheint. Die Inschrift am Sockel ist in Deutsch, ein Zeugnis der wechselhaften Geschichte des Elsass.

Nach der idyllischen Mühle von Huttingue, vorbei an einem Weiher mit Hexenhaus mit Vorhängen aus Kölsch (Nein, keine Hopfen-Fantasien, ich meine den Karo-Stoff!) lassen wir uns in Raedersdorf nochmals anfeuern, denn auf dem folgenden Sechstel der Strecke überwinden wir gut die Hälfte aller Höhenmeter.

Viele Bäume säumen die Straße, teilweise auch Wald, und der Wind bläst nicht nur uns stellenweise kräftig entgegen, auch das Laub und die Buchecker verlassen ihre Sommerresidenz in der Höhe, tanzen durch die Luft oder machen auf dem Flug nach unten zielsicher Zwischenhalt auf dem Kopf. Die Läufer müssen sich aber nicht auf eingeschränkte Wasserzufuhr vorbereiten und das Laub abwerfen, in Hippoltskirch stehen die Helfer wieder mit Speis und Trank bereit.

Hippoltskirch Ziel

Auf der linken Seite sind mehrere Karpfenweiher zu sehen, an einer Straßenverzweigung rechts ein weiteres Wegkreuz. Mittlerweile ist die Sonne daran, sich gegen die Wolken durchzusetzen und im Gegenlicht sieht „Le Moulin bas“ am Ufer des Flüsschens Ill aus wie – wenn nicht aus einer anderen Welt, so doch  - aus einer anderen Zeit. Die Einkehr ins Restaurant mit rustikalem Ambiente verschiebe ich auf dann, wenn ich die Kirche in Oltingue besichtigen gehe…

Auch in Ligsdorf wird uns links und rechts Applaus gegeben, damit wir auf dem letzten Streckendrittel gut durchhalten. Vor Winkel, wo die Illquelle liegt, biegen wir in einem rechten Winkel ab. Der Kulminationspunkt ist erreicht und ich kann es rollen lassen.

Es sind nicht mehr viele andere Läufer im Blickfeld. Ich orientiere mich nach vorne und versuche aufzuschließen. Auf zwei Läufer, die ich passiere, kommt mindestens ein Wegkreuz, an dem ich vorbeikomme.

Die Steigung hinauf an den Dorfrand von Durlinsbach fährt schon dem zweiten Läufer krampfartig in die Muskulatur. Wenn es am Flüssigkeitsmangel liegt, dann haben sie Glück. Oben gibt es bei Kilometer 35 den siebten Verpflegungsposten. Von Weitem sehe ich, wie drei weitere Läufer sich frisch gestärkt weiter machen. Die Landschaft habe ich mittlerweile kennengelernt und abgesehen davon, dass sie sich nun im Sonnenschein präsentiert, gibt es nur noch vereinzelt neue Fotomotive. Zudem fühle ich mich fit und verspüre, dass ich noch Saft in den Beinen habe. Deshalb versuche ich, mich Position um Position nach vorne zu hangeln. Ich hoffe, dass es mir die Überholten nicht übel nehmen, wenn ich auf den letzten Kilometern noch solche Lausbubenstreiche anstelle. In Moernach fühle ich mich von einem Transparent dann auch angesprochen, obwohl es nicht mir gilt: „allez filou!“

In diesem Dorf ist auch eine Stelle, an welcher Marathon und Halbmarathon auf zwei verschiedenen Abschnitten weitergeführt werden; des Rätsels Lösung in Sachen Kilometrierung. Damit wir auf die vermessenen Kilometer und Meter kommen – die AAF wacht vor Ort mit den Argusaugen eines Offiziellen für „courses hors stade“, also Straßenläufe, darüber, dass alles mit rechten Dingen zu- und hergeht – ist für die Marathonis noch eine Schlaufe eingebaut.

In Koestlach gibt es nochmals das Bild des typischen Dorfkerns: Schule mit Bürgermeisteramt auf der einen Straßenseite, die Kirche auf der anderen. Wobei es nicht mehr die Hauptstraße ist. An diese grenzt nur noch die sekuläre Einrichtung. Ob Zufall oder nicht, darüber mag ich jetzt nicht philosophieren, denn bald wird das Kilometerschild vorne die Vier tragen und ich habe da noch ein paar im Visier…

Das leichte Gefälle, das den Start so locker gemacht hat, muss nun auf dem letzten Kilometer in der Gegenrichtung bewältigt werden. Ich komme zwar noch an zwei Läufer heran, sie zu überholen gelingt mir aber nicht. Macht nichts, Spaß hat es trotzdem gemacht. Die letzten 200 Meter geht es rasant abwärts, und flankiert von zahlreichen Zuschauern laufe ich – namentlich erwähnt – ins Ziel.
Abgesehen von der schönen Landschaft, der freundlichen Betreuung und Unterstützung auf und an der Strecke, ist es auch eine befriedigende Erfahrung, wenn der sonst abrupte Leistungseinbruch auf den letzten zehn Kilometern nicht eintritt und man noch überholt und überholt – jene 80 Prozent, welche die erste Hälfte schneller laufen. Negative split – die positive Erfahrung!

Im Zielbereich

Nach der Rückgabe des Leihchips wird mir eine weitere schöne Medaille für meine Sammlung überreicht und nach einer herrlich warmen Dusche, die mich gleich vergessen lässt, dass es im Ziel kein Bleifreies gibt, kann ich bis zur Siegerehrung und der Preisverlosung noch eine Kleinigkeit essen.

Für die Siegerehrung nimmt eine ganze Garde von Honorationen auf dem Podium Platz. Nebst einer Menge von Pokalen, alle gestiftet von diversen „conseils“ und Sponsoren, und zwar nicht nur für die Ränge 1 bis 3, werden auch noch beachtliche Geldpreise vergeben. Bei der Ehrung des Zweitplatzierten für die Wertung der Departements Haut-Rhin erhebt der Offizielle Einspruch. Er habe beim Zieleinlauf nicht das Vereinstrikot getragen und könne deshalb nicht gewertet werden. Der Moderator hält aber energisch entgegen, dass er ihn höchstpersönlich beim Zieleinlauf angekündigt und mit besagtem Trikot die Ziellinie überqueren sehen hat. Gegen die verbale Übermacht vom Podium herab hat der Einspruch nicht der Hauch einer Chance…  Offenbar ist nicht alles so unumstößlich wie die Pflicht zur Beibringung einer „Nicht-Gegenanzeige zur wettkampfmäßigen Ausübung der Leichtathletik“. Ist ja auch gut so.

Abschluss

Wer bisher die Ausrede hatte, er könne sich sportlich nicht betätigen, weil er den Herrgottswinkel in seiner Stube nicht unnötig verlassen wolle, muss sich etwas anderes einfallen lassen. Hier im Sundgau ist er auch beim Laufen nie mehr als ein, zwei Steinwürfe von einem Herrgottswinkel entfernt, das Sundgau ist gleichsam ein Herrgottswinkel. Eigentlich unverständlich, dass das noch nicht mehr Deutsche und Schweizer herausgefunden haben.

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Informationen: Marathon du Jura Alsacien
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