Weiter auf breiter Fahrstraße kommen wir zügig durch einen Außenbezirk, links und rechts stehen moderne mehrstöckige Wohngebäude. Linkerhand tut sich mit dem X-Fit Ak Bars der geräumigste Fitness-Club Kasans mit einer Fläche von 4.000 m² und mannigfaltigen Sportmöglichkeiten auf. Nach kaum zwei km trennen sich die Strecken: Die Zehner laufen geradeaus, alle anderen nach links. Zumindest theoretisch, denn etliche 10 km-Läufer haben die an sich deutlichen Hinweisschilder übersehen und rennen mit uns auf die Brücke. Bestimmt zwanzig, die ihren Irrtum irgendwann bemerken, kommen mir wieder entgegen.
Schon von weitem hat man die große, 835 m lange Millenniumbrücke (Most Millennium) über den Fluss Kazanka, deren Mittelträger als großes „M“ die zweimal drei Fahrspuren (plus Fußgängerspuren) überspannt, erkennen können. Übrigens bedeutet Most wie im Tschechischen auch im Russischen „Brücke“ und hat nicht im Ansatz etwas mit dem uns unter diesem Namen leckeren Getränken zu tun, eigentlich schade. Die erste Schwammstation zu Beginn der Brücke lasse ich aus. Mental durchaus herausfordernd kann ich sehr weit nach vorne sehen. Die für uns einseitig für den Autoverkehr (Linienbusse ausgenommen) gesperrte Straße ist schnurgerade, dem Auge wird wenig Abwechslung geboten. Allerdings sind das Wasser und die Innenstadt jederzeit im Blickfeld. Was mir äußerst positiv ins Auge sticht, ist der gute Zustand des Straßenbelags, da wird einem ja zuhause mittlerweile einiges zugemutet.
Langsam beginnt sich die Szenerie zu beleben, die Bebauung wird dichter. Rechts und links von uns, hinter langgezogenen Mauern aus roten Ziegeln, liegt mit dem heutigen Gorky Park ein für die Stadt besonderes historisches Areal: 1552 diente es als Truppenlager der Tataren während der letztlich verlorenen Kämpfe gegen die russischen Eroberer unter dem Zaren Iwan des Schrecklichen, der damit das Ende des Khanats von Kasan besiegelte. Dieses war ein mittelalterlicher bulgarisch-tatarisch-türkischer Staat gewesen, das Gebiet der ehemaligen Wolgabulgaren, die einst von einem Enkel Dschingis Khans beherrscht worden waren. Seine Hauptstadt war die Stadt Kasan. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der nahe gelegene Wald zu einer Parklandschaft umgewandelt, deren beide Hälften im Volksmund „Russische Schweiz“ und „Deutsche Schweiz“ genannt und während der Sowjetzeit zum Gorky Park zusammengelegt wurden. Dort, am Brückenende, gibt es nach 5 km zum ersten Mal Verpflegung: Wir erhalten Wasser, Iso, Bananen- und Orangenstücke.
Zur linken Seite kommt ein älteres, durchaus attraktives Gebäude, zur rechten mit dem „Korston“ (in lateinischen Buchstaben) mein derzeitiges Zuhause, ein Ensemble bestehend aus Kinocenter, Fünf-Sterne-Hotel mit Einkaufszentrum und integriertem original russischem Schnellrestaurant McDonaldinsky, dahinter ein flacheres Gebäude mit der Bezeichnung „World Trade Center“. Dieses stellt seine Infrastruktur und Dienstleistungen der Wirtschaft und Behörden in der Hoffnung auf gute Abschlüsse zur Verfügung. Die zwei folgenden gläsernen Pyramiden dienen wohl der Beleuchtung einer unterirdischen Einrichtung des Komplexes. Erinnerungen an meine Kindheit kommen beim Blick in den Himmel auf: Elektrische Oberleitungen für Nahverkehrsbusse, wie einst in meiner Geburtsstadt Koblenz, zeugen – ja, von was eigentlich? Ich entscheide mich, das angesichts in schwarze Rußwolken gehüllter älterer Busse nicht als Symbol der Vergangenheit, sondern als (wieder) fortschrittlich anzusehen.
Wenige hundert Meter später erkenne ich zum ersten Mal an der Strecke, dass ich weit weg von zuhause bin: die erste russisch-orthodoxe Kirche mit für unsere Augen ungewohntem Baustil, der Hl. Barbara geweiht, eignet sich vorzüglich als hübsches Fotoobjekt. Links und rechts kommen jetzt erste, sehr gepflegte Gebäude in verschiedenen Stilrichtungen, die mir sehr zusagen. Im Gegensatz zu letztem Jahr leitet man uns von der Haupt-Durchgangsstraße, der Karl-Marx-Straße, an einem kleinen Park nach rechts und wieder links auf eine Parallelstraße. Vadim II bestätigt später meine Vermutung, dass die Stadtverwaltung von der Idee, diese stark genutzte Verkehrsader wieder für Stunden zu sperren, weniger angetan war.
Immer weiter geradeaus geht es bei km 7 am Rathaus mit der Lenin-Statue und der gegenüberliegenden tatarischen Oper vorbei. Sehr ordentliche, nett anzusehende Häuser begleiten unseren weiteren Weg in die Innenstadt, selten haben sie mehr als drei Stockwerke. Platzmangel ist in diesem riesigen Land offensichtlich nicht das vorherrschende Problem. Rechts stehen wieder zwei der so typischen Kirchen mit kleinen, runden goldenen Turmspitzen und grünen bzw. blauen Dächern, ich bin begeistert. Jetzt wird es für mich besonders hübsch (wobei ich die vor uns liegende Hauptattraktion zu diesem Zeitpunkt noch verschweige): Nicht nur, dass wir wieder auf die Kazanka zulaufen, rechterhand liegt ein flacher, attraktiver Gebäudekomplex, vermutlich mit Restaurants und weiteren Freizeiteinrichtungen. Die nach rechts führende, breite Flaniermeile, die eine etwa 3 km lange Begegnungsstrecke einläutet, gestattet weiter zügiges Ausschreiten - sofern man dazu in der Lage ist. Sie ist der Beginn einer erst vor wenigen Jahren begonnenen, im Endausbau mehrere km langen Uferpromenade, welche die Stadt weiter erheblich aufwerten wird. Eines ist also jetzt schon klar: Stimmt am Ende die geplante Laufzeit nicht, hat es ganz bestimmt nicht an mangelndem Platz gelegen. Eine breite Freitreppe führt zu einem roten, kantigen Gebäudekomplex, dem nationalen Kulturzentrum Kasans hinauf, vor dem ich wieder eine engelähnlich in der Sonne glänzende Statue auf der Spitze eines schmalen Turmes erkennen kann. Die Wende erfolgt nach exakt 10 km, hier wird erneut verpflegt.
Für mich sehr schön geht der Rückweg erneut lange unmittelbar an der Kazanka entlang. Die bereits installierten Springbrunnen nutzen viele Laufkameraden zur Erfrischung, trotz des stürmischen Windes brennt die Sonne ordentlich vom blauen Himmel herab. Den Boulevard verlassend, kommen wir auf den Abschnitt zu (jetzt ist es heraus), auf den ich mich am meisten freue und der mich, als ich mir die ersten Fotos im Internet über Kasan ansah, spontan begeistert hatte: Den Kasaner Kreml. Alleine der ist schon die Reise wert, so zahlreiche unterschiedliche und optisch herausragende Architektur auf vergleichsweise kleinem Platz beeindruckt mich völlig.
Was an anderen Stellen leider nicht gelingt, ist hier normal, nämlich das friedliche, unkomplizierte Zusammenleben unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse („Eine Stadt – zwei Religionen“). So stehen mit der Maria-Verkündigungs-Kathedrale und der farbenfrohen, erst 2005 errichteten Kul-Sharif-Moschee, der zweitgrößten Europas, zwei Gotteshäuser fast unmittelbar nebeneinander. Kaum vorstellbar, dass es hier wie bei uns auch Hassprediger gibt. Denen zeigt man wohl den (Pierre) Vogel. Oder buchtet sie direkt ein. Leider stehen heute allerdings längst nicht mehr alle Gebäude, denn zahlreiche architektonische Denkmäler, wie die Kathedrale des Hl. Nikolaus und die Preobraschenski-Kathedrale, beide aus dem 16. Jahrhundert, oder der Glockenturm der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale, wurden in den dreißiger Jahren von den Bolschewiken zerstört.
Jedoch, auch diese optische Herrlichkeit ist irgendwann einmal zu Ende. Schade. Aber es gibt ja auf der zweiten Runde noch einmal die Gelegenheit, bisher Übersehenes zu entdecken. Und überhaupt verbietet es sich geradezu, nur wegen des Marathons in diese schöne Stadt zu kommen. Ein paar Tage sollte man sich wirklich für Besichtigungen Zeit nehmen, es lohnt sich. Am Ende des Kremls bei km 13, vorbei an einer ihm gegenüberliegenden Pyramide aus Glas und Stahl, bekommen wir leider nicht die seit dem 15. Jahrhundert bestehende Uliza Baumana, die tolle Fußgängerzone Kasans, zu sehen, ein echtes Manko. Sie ist mit bunten Ziegelsteinen gepflastert; rechts und links laden Bänke, Laternen und zahlreiche Linden zum Flanieren ein. Verschiedene Veranstaltungen und festliche Präsentationen finden auf der nach dem 1873 in Kasan geborenen Nikolay Bauman, einem russischen Revolutionär, benannten Straße statt. Die nach dem Ende der Sowjetzeit wiederhergestellte russisch-orthodoxe Offenbarungskirche ist einer ihrer Höhepunkte. Sie endet am Tukay Platz (Ihr erinnert Euch an den Dichter von oben?), den zentralen Platz der Stadt. Davon bekommen wir leider nichts mit. Vielleicht im nächsten Jahr?
Nächstes Zwischenziel ist, einer riesigen Suppenschüssel mit Deckel oder gar einem UFO ähnlich, der Kasaner Zirkus, hinter ihm liegt das 1960 eröffnete Zentralstadion. Auf einer breiten Ausfallstraße wird die Szenerie wieder trister, dafür bleibt uns aber die Wassernähe erhalten. Links kann ich das Riesenrad des Vergnügungsparks Kyrlay erkennen, rechts eine schwarze Schüssel auf Stelzen, das „Familienzentrum Kazan“. Dieses umrunden die 10 km-Läufer als Wende komplett. Es ist ein beliebter Ort zum Heiraten und bietet einen schönen Blick auf die Altstadt. Am Ende gibt es als Verpflegung angeblich Flügel verleihende bunte Brause aus Österreich.
Nach 17 km wird die Bebauung wieder dichter, linkerhand stehen zahlreiche funktionale, mehrstöckige Gebäude, darunter die Tatneft Arena. 10.000 Zuschauer fasst das Heimstadion des Eishockeyvereins Ak Bars Kasan, seit 2008 Mitglied der Kontinentalen Eishockeyliga und russischer Meister der Jahre 1998 und 2006. Auf der rechten Straßenseite kommen mir wesentlich schnellere Marathoner entgegen, die zu diesem Zeitpunkt gegen sechs km voraus liegen.
Mittlerweile ist an den Versorgungsstationen schon lange Hektik ausgebrochen. Der Wind macht es unmöglich, viele Becher vorzubereiten, denn der Wind haut alles sofort wieder um. Also wird bedarfsgerecht ausgeschüttet, viel auch verschüttet, was wiederum an einigen wenigen Stellen zu akutem Wassernotstand führt. Ein wenig Wartezeit muss man jetzt auch in Kauf nehmen, aber die Helfer rackern sich ab, so gut sie können. Wenig später leuchtet uns Bekanntes voraus: Die Kazan-Arena, Start und Ziel des heutigen Laufs wird noch fast komplett umrundet. Mich begeistert ein 10 km-“Läufer“, der, offensichtlich von einem Schlaganfall gezeichnet, sich am Stock über die Strecke quält. Großer Sport, Respekt! An der Hauptzufahrt begleite ich die Halblinge auf ihren letzten Metern. Sie sind rechts unter dem Zielbogen mit ihrem Lauf fertig, uns Marathonern gönnt man auf der linken Seite noch eine zweite Runde, die ich auch sofort in Angriff nehme. Der Sturm hat mittlerweile den halben Einlaufkanal zerlegt, fast alle Barrieren liegen auf der Seite.
Wie immer im entfernteren Ausland bin ich auch heute im Nationaltrikot unterwegs und trage die deutschen Farben in die Welt hinaus. Gefühlt tief im Osten und fern der Heimat, hat das Deutschtum aber eine lange Tradition in dieser Stadt. 1767 begann der Bau der lutherischen St. Katharina-Kirche, in und um die sich das Leben ausgewanderter Russlanddeutscher in Kasan abspielte. Seit 1806 besteht die hiesige evangelisch-lutherische Kirchengemeinde, die von 1904 bis 1906 1.075 Deutsche zählte. In ihr fanden allerdings nicht nur Gottesdienste statt, sondern es existierten auch ein deutscher Chor, eine Theatergruppe und sogar Grundschulunterricht wurde durchgeführt. Der Erste Weltkrieg machte dem Gemeindeleben vorerst ein Ende und konnte nur mithilfe von Spenden wohlhabender Gemeindemitglieder aufrechterhalten werden. Während der Oktoberrevolution wurden viele Deutsche enteignet, getötet oder sie wanderten aus. Im Jahre 1929 löste sich die Gemeinde auf und die Räumlichkeiten gingen über an das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der Republik Tatarstan. Fortan wurden sie als Sportsaal genutzt.
Erst am 4. November 1990 wurde die Deutsche Lutherische Gemeinde neu gegründet und schloss sich mit der Kasaner Deutschen Gemeinschaft zusammen, um das kulturelle Leben der Russlanddeutschen Kasans wieder aufleben zu lassen. Dennoch wurden die Räume der St.-Katharina-Kirche erst am 11. Dezember des Jahres 1996 zurückgegeben. Mit der Kirche eng verbunden ist das in ihren Räumlichkeiten seit 2000 existierende Deutsche Haus der Republik Tatarstan. Es beschäftigt sich mit der Geschichte und dem Erhalt der deutschen Kultur sowie deren Vermittlung über Sprachgrenzen hinaus. Das Deutsche Haus dient zur zentralen Koordination der deutsch-russischen Beziehungen für die Regionen Wolga und Ural. Des Weiteren gibt es mit der „Perlenkette“ einen mit dem Deutschen Haus verbundenen Jugendklub. Das Deutsche Haus fungiert im Rahmen des Bildungs- und Informationszentrums in Moskau und koordiniert Bildungsveranstaltungen wie zum Beispiel deutsche Sprachkurse, Vorträge zur Heimatkunde und Geschichte, Jugendarbeit sowie Publikationen und Wohltätigkeitskonzerte, Theater- und Tanzveranstaltungen. Seit September 2014 gibt es in der Stadt sogar eine deutsch-russische Universität.
Und das ist nicht die einzige historische Verbindung Deutschlands zu Kasan: Im Rahmen der deutsch-sowjetischen Militärkooperation gemäß dem Vertrag von Rapallo erprobte die deutsche Reichswehr (Inspektion 6 Kraftfahrwesen) zusammen mit der Roten Armee von 1926 bis 1933 im Geheimen in der nahegelegenen Panzerschule Kama Panzer, bildete an ihnen aus und entwickelte neue Panzertaktiken. Unter anderem wurde dort der „Großtraktor“ umfangreichen Tests unterzogen. Die Übungen bildeten den Grundstein für das später erfolgreich angewandte Blitzkrieg-Konzept. Mit der Machtübernahme der nationalsozialistischen Regierung endete die Zusammenarbeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in der Stadt ein Lager für deutsche Kriegsgefangene.
Kaum aus dem Stadion heraus, rockt die einzige Band des Tages auch nach inzwischen mehr als zwei Stunden immer noch unverdrossen. „I'm your Venus, I'm your fire, short desire!“ schmettert die Sängerin. Recht hat sie, das Verlangen ist von nur kurzer Dauer, denn ich muss weiter, noch liegen zwanzig km vor mir. Die kennt Ihr mittlerweile und wenn nicht, schaut Euch nochmal die Bilder an oder lest von vorne.
Mir geht es unverändert gut. Natürlich laufe ich nicht auf der letzten Rille, aber auch wenn man nur 90% gibt, bleibt das lange Laufen im stürmischen Wind eine Herausforderung. Auf der Most Millennium büße ich dann doch meine Kappe ein, die mich seit 2005 im ferneren Ausland begleitet, aber ein Passant auf der Fußgängerspur rettet sie gerade noch vorm Versinken in der Kazanka.
Etliche Teilnehmer sind mit einem speziellen T-Shirt unterwegs, das auf das Motto und besondere Anliegen des Laufs hinweist: Den Kampf gegen AIDS. „Test yourself“ heißt es in perfektem Russisch. Da die Zahl gemeldeter Fälle HIV-infizierter Menschen in Russland mittlerweile nach Aussage entsprechender Organisationen „einen wirklich kritischen Punkt erreicht“ hat, dient der heutige Tag dem Kampf gegen zu geringes Bewusstsein, veraltete Ansichten der Menschen über die Art und Weise der Verbreitung sowie der Steigerung der Bekanntheit vorbeugender Maßnahmen und macht Werbung für AIDS-Tests.
Die Zahl der Geher und Dehner nimmt im weiteren Verlauf deutlich zu, nicht wenige werden das Ziel gar nicht oder nicht zeitgerecht erreichen. Mindestens dreihundert für den Marathon Gemeldete geben auf oder sind erst gar nicht angetreten. Mitten auf der Brücke erkenne ich, vorhin übersehen, tief unter mir zahlreiche Läufer am Wendepunkt auf der Uferpromenade, von dem mich noch fast acht km trennen. Erfreulicherweise kann ich mein Tempo beibehalten, wodurch ich einen ganzen Teil der Mitstreiter einsammeln kann, das ist ja immer ganz nett für die Psyche.
Als sehr schön empfinde ich jetzt auch die mehrfach gehörte Anfeuerung „Wolfgang, dawai!“ (etwa: Auf geht’s!). Ja, ich mache doch, was ich kann! Noch dreihundert Meter trennen mich schließlich vom Ziel, da mache ich dann doch das, von dem mir Wohlmeinende abgeraten haben: Ich zücke aus meinem Geheimversteck die Bundesdienstflagge und laufe unter gleichermaßen erheblichem wie freundlichem Beifall der verbliebenen Zuschauer und zur Freude zahlreicher Fotografen schwarz-rot-gold strahlend ins Ziel. Als Zielverpflegung sehe ich nur Wasser, aber das ist mir jetzt auch egal. Wäre ich der russischen Sprache mächtig, hätte ich die großzügige Zielverpflegung auch als solche erkennen können, aber das kann ich verschmerzen. Dafür nutze ich die Zeit, ein wenig in mich zu gehen.
Was habe ich auf dieser Reise wieder einmal gelernt? Sport ist in der Tat völkerverbindend, Politik tritt dabei völlig in den Hintergrund, Vorurteile lösen sich beim gemeinsamen Schweißvergießen in Wohlgefallen auf. Man muss es wirklich am eigenen Leib erfahren: Auch wenn wir das, was wir einander in unseren verschiedenen Sprachen sagen, nicht übersetzen können, verstehen wir uns doch. Denn die gemeinsame Sprache des Sports, den gegenseitigen Respekt vor der Leistung des anderen, verstehen alle. So verwundert es mich im Nachhinein nicht, dass ich mich nach dem Lauf mit einem im Kampfanzug uniformierten und mit der Fahne seines Truppenteils laufenden russischen Fallschirmjäger verbrüdere und wir gemeinsam Arm in Arm für seine Deutsch sprechenden Eltern posen.
Keiner hat das, gerade im ja nicht unkomplizierten deutsch-russischen Miteinander, in letzter Zeit so schön auf den Punkt gebracht wie die kölsche Band Brings in ihrem Lied „Polka, Polka, Polka“, dem Abräumer bei jeder Karnevalsfeier:
Polka, Polka, Polka
vom Rhing (Rhein) bis an die Wolga.
Polka, Polka, Polka
der Pitter un die Olga.
Kabänes un ne Vodka,
Polka, Polka, Polka
alles halv su schlimm,
wenn mer zusamme sin.
Es würde mich nicht wundern, wenn diese Veranstaltung innerhalb kürzester Zeit zu einer großen Nummer im Marathongeschäft würde. Denn das Zeug dazu hat sie: Mit der Kazan Arena eine super Location, die uneingeschränkte Unterstützung der großen Politik und ein ständiger siebenköpfiger Arbeitsstab, darunter drei hauptamtliche Führungskräfte. Und dazu jede Menge eingesetztes Herzblut bei den Organisatoren. Ich wünsche Vadim I und II mit allen Unterstützern gutes Gelingen und einen weiter kräftigen Anstieg der Teilnehmerzahlen.
Streckenbeschreibung:
Schnelle, weitestgehend flache (88 Höhenmeter), zweimal zu durchlaufende 21,1 km-Runde. Zeitlimit: 6 Stunden.
Startgebühr:
Je nach Meldezeitpunkt 1.000 oder 1.300 Rubel (ca. 13,50 bzw. 17,50 €). Teilnehmer des „Großen Vaterländischen Krieges“ starten für umme – kein Witz. Die Guten wären heute mindestens 87 Jahre alt...
Weitere Veranstaltungen:
Halbmarathon, 10 km, 3 km, Kinderläufe am Vortag.
Leistungen/Auszeichnung:
Pasta Party (nur für Marathoner), Kleiderbeutel, T-Shirt, Medaille, Urkunde.
Logistik:
Perfekt nahe beieinander, die gesamte Infrastruktur eines großen Stadions stehen zur Verfügung.
Verpflegung:
Mit Wasser, Iso, Bananen- und Orangenstücken sowie einmal österreichischer Brause völlig ausreichend. Einen Becher Cola hätte ich auf den letzten paar km trotzdem gerne gehabt.
Zuschauer:
Außer unmittelbar an Start und Ziel ausbaufähiges Interesse (höflich ausgedrückt). Im Klartext: gähnende Leere bis auf ein paar Fans der Mitläufer, diese haben die Lücke gut gefüllt.