Oh Kazan! Du bist wie ein Licht,
das nachts auf einem Berg leuchtet,
wie Kerzen gehen Deine Minarette auf,
Deine Glocken- und Wachttürme!
Du scheinst hell auf Deine Distrikte,
Provinzen und entfernten Lande,
Du steigst stolz empor,
Du zeigst uns den Weg!
(Gabdoullah Tukay, 1886 – 1913 in Kasan, berühmter tatarischer Poet)
Ich laufe und staune Bauklötze. Eine fremde Welt tut sich vor mir auf, wie ich sie bisher nur von Bildern her kannte. Sehe eine historische Zitadelle, Türme, Tore, christliche Kathedralen, Moscheen, imposante Gebäude, darunter das Rathaus, davor ein Standbild, dessen Gesicht auch bei uns fast jeder kennt: Wladimir Iljitsch Uljanov, genannt Lenin. Vor dem hiesigen Kreml, der zahlreiche dieser sowie andere Bauwerke beherbergt und seit dem Jahr 2000 zum Weltkulturerbe der UNESCO zählt, fließt ein großes Gewässer. Es wird niemanden mehr überraschen zu lesen, daß dies der russische Fluß schlechthin ist, nämlich die bzw. ein Teil der Wolga. Ich befinde mich daher also nicht in Moskau, sondern sogar noch weiter im Osten. Kasan (bzw. Kazan auf Russisch) heißt die Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan, 800 km ostwärts der russischen Zentrale.
Es ist im Mai 2013, fast auf den Tag genau vor drei Jahren, als ich auf den Straßen Prags sehr persönliche Spuren meiner Vergangenheit erkunde und diese phantastische Stadt, die unter anderen Umständen meine Heimatstadt hätte sein können, im Rahmen des Marathons und außerhalb dessen schätzen lerne. Auch begegne ich hier einem jungen Russen, der seinen ersten Marathon läuft und, eine hervorragende 3:06 vor Augen, zweihundert Meter vor dem Ziel zusammenbricht. Im Krankenhaus päppelt man ihn auf und entläßt ihn mit unverändert umgebundener Startnummer wieder im Zielbereich seinem Schicksal. Genau das nimmt er in beide Hände und die noch fehlenden 200 m unter die Füße. Resultat: Marathon erfolgreich beendet, und das noch unter fünf Stunden!
So jemand muß zu Höherem berufen sein. Da Vadim in seiner Heimat inzwischen als Renndirektor fungiert, stellt er mir „seinen“ Marathon vor und macht mir Appetit darauf. Ich lasse eine zunächst leicht angesäuerte Gattin über Pfingsten alleine zurück und mache mich für vier Tage auf die Socken. Für das unabdingbar notwendige Visum, auf das ich zwei Wochen warten muss, sind 62 € fällig. Um die Flugkosten niedrig zu halten, nehme ich am Donnerstagabend von Frankfurt aus den Umweg über Riga/Lettland in Kauf. Im Flieger treffe ich völlig überraschend auf weitere unverkennbare Marathonläufer und sehe direkt meine Exklusivität bzgl. Kasan bedroht. Beim Durchblättern der Bordlektüre finde ich Werbung für den Marathon in Riga, der just am gleichen Wochenende stattfindet. Und schon ist meine Welt wieder in Ordnung. Aber meine to-do-Liste hat mal wieder Zuwachs bekommen, es ist ein Graus. Vor allem für meine Gattin.
Nach weiteren zwei Stunden Flugzeit komme ich in Moskau an, um mir dann auf dem dortigen Flughafen die Nacht um die Ohren zu schlagen. Am Freitagmorgen geht es endlich weiter und anderthalb Stunden später bin ich nach insgesamt elf Stunden inkl. Wartezeit endlich in Kasan angekommen. Der offensichtlich betrunkene junge Mann, der unterwegs ständig die Stewardessen genervt und sich ihren Anweisungen widersetzt hat, wird direkt von der Polizei einkassiert. Schon ist mir das Land sympathisch. Die Uhr habe ich bereits in Riga nur eine Stunde vorstellen müssen, trotz der großen Entfernung muss ich erfreulicherweise also keinen Jetlag befürchten. Zur Orientierung: Kasan liegt etwa auf Höhe der Grenze zwischen Litauen und Lettland sowie nördlich des Kaspischen Meeres und Iran. Und damit trotzdem immer noch ziemlich im Westen dieses unvorstellbar großen Landes. 1.000 Jahre alt ist Kasan, heute mit knapp 1,2 Millionen Einwohnern die achtgrößte und hinter Moskau und St. Petersburg drittbedeutendste russische Stadt.
Einen ersten Eindruck von ihr erhalte ich auf der Fahrt zum Hotel. Vadim II, der wichtigste Mitarbeiter von Vadim, dem Chef, hat mich freundlicherweise abgeholt. „Das größte Problem bei uns ist der schlechte Zustand der Straßen“, sagt er, während wir gute 25 km über hochglanzpolierten Asphalt zurücklegen. Na ja, erklärt er grinsend, das habe man anlässlich einer großen Sportveranstaltung vor drei Jahren getan, aber ansonsten sei das schon so. Etwa zwanzig Universitäten beherbergt die Stadt (wobei der Begriff „Universität“ nicht abschließend definiert ist), 200.000 Studenten aus 67 Ländern sind hier zeitweilig zuhause. Auch Lenin wurde hier in Rechtswissenschaften ausgebildet, wie schon sein Vater in Kasan Mathematik und Physik studiert hatte.
In Russlands inoffizieller Sporthauptstadt wurde 2013 die Universiade (der Anlass für den traumhaften Straßenzustand), die Weltsportspiele der Studenten, ausgetragen. Mehr als 9.000 Sportler aus 162 Ländern kämpften dabei um Medaillen. Im vergangenen Jahr trug man die Schwimmweltmeisterschaften aus und in zwei Jahren wird Kasan eine Gastgeberstadt der Fußballweltmeisterschaft sein. Gespielt werden wird in der 450 Millionen $ teuren, nach dreijähriger Bauzeit 2013 eingeweihten „Kazan Arena“, die für rund 45.000 Zuschauer ausgelegt ist. Apropos Fußball: Der eine oder andere Kundige wird schon mal vom FK Rubin Kasan gehört haben. Der Erstligist (seit 2003) ist zweimaliger russischer Meister (2008 und 2009) und Pokalsieger (2012); er spielte sowohl in der Euro als auch der Champions League. Der 1:2-Auswärtssieg beim damaligen Titelverteidiger FC Barcelona unter Pep Guardiola und mit den Spielern Messi und Ibrahimovic im Oktober 2009 gilt als einer der größten Erfolge der Vereinsgeschichte. Daneben spielen Basketball-, Eishockey- und Volleyballvereine in den obersten Ligen.
Am Freitag und Samstag ist die Marathonmesse jeweils zwischen 10 und 20 Uhr geöffnet, der Empfang der Startnummer am Lauftag nicht möglich. Ich bin noch am gleichen Tag vor Ort, freue mich, auch Vadim I zu treffen und überlasse beide dem ganz normalen Wahnsinn der vielbeschäftigten Hauptverantwortlichen. Die Ausstellung ist überschaubar, bietet aber alles Erforderliche und einiges darüber hinaus. Die Gravur von Namen und Laufzeit auf die Medaille kostet nur 200 Rubel (3 €). Zur Pastaparty bin ich tags darauf nochmal da, die Buslinien 10 und 35 fahren für 25 Rubel (0,35 €) zum Prospekt Yamasheva bzw. Gavrilova direkt vor die Arena. Die Spaghetti sind, inkl. des Ketchups, vollständig geschmacksneutral, erfüllen aber hoffentlich ihren Zweck. Was soll's – immerhin gibt es etwas zwischen die Zähne und das inkl. Getränk für lau. Die Stadtbesichtigung an beiden Vortagen mit angesichts des Laufs natürlich viel zu vielen zu Fuß zurückgelegten km zeigt eine von mir so nie erwartete hochattraktive, gepflegte Kommune mit herrlicher Natur, freundlichen Menschen und hervorragendem Nahverkehr, egal ob per Bus, Straßenbahn oder Metro. Wenn das typisch für Russland ist, selbst wenn nicht, hat sich mein Bild über dieses Land völlig geändert. (Marathon)Reisen bildet eben.
Der Start erfolgt am Sonntagmorgen vor der Kazan Arena am Ufer des Flusses Kazanka, wo sich auch das spätere Ziel befindet. Ich bin rechtzeitig da, um nach einer Sicherheitskontrolle wie am Flughafen den gesamten Vorlauf inkl. des ersten Wettbewerbs, des 3 km-Laufs rund um die Arena, mitzuerleben. Das alles wird mit großem Brimborium zelebriert, denn heute ist ein ganz besonderer Tag: Der Präsident höchstselbst ist am Start. Nein, nicht Vladimir Putin, aber immerhin der Präsident der tatarischen Republik, Rustam Minnikhanov, der es sich nicht nehmen lässt, mit gutem Beispiel voranzugehen, und das als Nichtläufer! Und hierin steckt auch das Potential dieses Laufs: Hier steht nicht nur die Stadt und das Sportministerium hinter der Idee eines Marathonwochenendes in Kasan, nein, der Präsident persönlich steht dahinter und hat sehr klare Vorstellungen über die weitere Entwicklung der Veranstaltung: Die Zielvorgabe für das kommende Jahr ist nicht weniger als eine Verdreifachung der diesjährigen Teilnehmerzahlen (7.082, bei 8.819 Meldungen) auf 20.000. Nach allem, was ich hier gesehen und gehört habe, halte ich das nicht für völlig abwegig.
Um 9:44:41 Uhr werden die Elitefrauen auf den Marathonkurs gelassen, wohlgemerkt alleine. Der Grund dafür, erklärt mir Vadim II, liegt in einer witzigen Idee: Im vergangenen Jahr lagen die Siegerzeiten der Männer und Frauen um exakt 15:19 min. auseinander. Daher werden die Damen in exakt diesem Abstand früher gestartet, und der oder die Gesamterste bekommt ein Extra-Preisgeld. Die Dame in Person von Tatjana Prusova wird sich tatsächlich mit einem Vorsprung von sagenhaften acht Sekunden durchsetzen und dafür stolze 500.000 Rubel (6.800 €) kassieren.
Um 10 Uhr – aus meiner Sicht die optimale Startzeit - darf dann der gesamte Rest der Langstreckenläufer inkl. der Zehner auf die Piste, so kommt ein sehr ansehnliches Feld zusammen. Nach 216 Marathonern und 296 Halblingen 2015 werden heute 1.010 bzw. 1.669 Läuferinnen und Läufer im Ziel sein, die Teilnehmerzahl hat sich also in beiden Langdistanzen gegenüber dem Erstversuch mehr als vervier- bzw. verfünffacht. Allerdings hält sich die internationale Beteiligung mit 1,6 % im Marathon immer noch in Grenzen. Bisher war der Lauf eine rein russische Angelegenheit, daher möchte Wolfgang Rudolfowitsch heute schnellster Deutscher aller Zeiten werden. Das klappt leider nicht ganz, aber der zweite Platz in der Nationenwertung ist doch auch nicht schlecht. Wo ich gerade schnell sage: Der Median beim Marathon der Männer lag 2015 bei an unseren Maßstäben gemessen ungewöhnlich flotten 3:24:09 Std. (Halbmarathon 1:50:49 Std.), was angesichts der überwiegend jungen bis sehr jungen Starter allerdings kaum verwundert. Heute wird er auf immer noch nicht langsame 3:58:12 fallen.
Auf dem breiten Parkplatz verläuft sich die große Masse schnell, ohne den bei vielen anderen Veranstaltungen üblichen Stau zu bilden. Ich stehe im letzten Block D, in dem die Krücken mit Laufzeiten über vier Stunden zuhause sind; hier geht's echt flott zu! Wir verlassen das Gelände, nachdem uns eine Percussionband eingeheizt hat, und beginnen den Lauf auf einer breiten, zweispurigen und Gott sei Dank für den Autoverkehr gesperrten Straße. Kaum aus dem Stadion gekommen, steht schon die erste Band und spielt auf, was das Zeug hält. Leider wird sie die einzige bleiben.
Nach Überquerung eines Kreisverkehrs grüßen rechts verschiedene, erst im letzten Jahr fertiggestellte Hochhäuser. Woher ich das weiß? Auf dem letztjährigen Laufvideo eines russischen Teilnehmers befanden sich einige davon noch im Bau. In einem markanten Gebäude zur Linken, dem „Palast des Wassersports“, spiegelt sich die morgendliche Sonne und gibt bereits einen Vorgeschmack auf die heutigen (für mich) insgesamt guten Wetterbedingungen: 14° als Tageshöchsttemperatur, eitel Sonnenschein und kaum Wolken. Dafür muss man die Perücke festhalten, so sehr stürmt es. Der Wind ist wirklich heftig wie an der Nordsee und wird im Tagesverlauf auch um keinen Deut abnehmen. Rechts grüßt das Hotel Riviera mit u.a. einer riesigen Wasserrutsche; die zahlreichen Badebecken auf der für uns falschen Seite sind nicht einsehbar.